Über Gollum wissen wir, von der triologischen Verfilmung des Herrn der Ringe ausgehend, zunächst einmal eines: Er ist getrieben vom Wunsch, den Einen Ring zu besitzen. Dieser Wunsch ist so übermächtig, dass das ganze Leben, die ganze Persönlichkeit Gollums darauf ausgerichtet zu sein scheint. Gollum ist süchtig nach dem Ring.
Die internationale Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10, WHO, 2010) legt für die Diagnose eines stoffgebundenen Abhängigkeitssyndroms (F19.2) fest, dass mindestens drei der folgenden Kriterien längerfristig erfüllt sein müssen:
- Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
- Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
- Körperliches Entzugssyndrom
- Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
- Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
- Anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen
Der „Konsum“ des Ringes besteht für Gollum (und auch die anderen Konsumenten: Isildur, Bilbo, Frodo) im bloßen Besitz (Sauron hingegen scheint eher ein instrumentelles Interesse an der militärischen Macht des Ringes zu haben). Die Benutzung des Ringes und die damit einhergehende Unsichtbarkeit sind offenbar von untergeordneter Bedeutung. In diesem Sinne ist bei Gollum ein starkes, ja übermächtiges Verlangen, sein Suchtmittel zu konsumieren, deutlich festzustellen.
Kontrollverlust über Dauer und Menge des Konsums des Ringes ist dagegen schwer nachzuweisen, da man ihn nur entweder besitzen kann, oder nicht. Jedoch werden wir im Verlauf der Filme Zeuge davon, wie Gollum, um seine aufkeimende Freundschaft zu Frodo zu schützen, zeitweise versucht, gegen seine Sucht anzukämpfen, was, wie wir wissen, letztlich erfolglos bleibt.
Ein körperliches Entzugssyndrom, wie es die meisten psychotropen Substanzen früher oder später mit sich bringen, lässt sich für den Ring nicht feststellen. Der Konsum selbst scheint sich, nebenbei bemerkt, kurzfristig negativ auf die körperliche Gesundheit auszuwirken (Gollum, und im Verlauf der Filme zunehmend auch Frodo, sind in erschreckender physischer Verfassung), langfristig aber das Leben zu verlängern.
Da uns die subjektive Wirkung des Ringes auf seinen Träger nicht wirklich beschrieben wird, ist es schwer, eine mögliche Toleranzentwicklung zu beurteilen. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass der Besitz des Ringes zunächst mit höchst positiven Gefühlen, die an eine Manie erinnern (Aktivierung, Tollkühnheit, Größenwahn etc.), einhergeht (was vermutlich zum hohen Suchtpotential beiträgt). Vor allem Isildur, aber auch der junge Gollum (der damals noch Smeagol hieß), zeigen diese Symptome. Bei fortgesetztem Konsum (die Dosis des Einen Ringes ist ja, wie gesagt, unveränderbar) scheinen die positiven Gefühle immer mehr abzunehmen und es treten (wie bei vielen euphorisierenden Drogen) zunehmend gereizte und paranoide Stimmungen in den Vordergrund. Somit ist eine gewisse Toleranzentwicklung bzgl. der erwünschten Wirkung festzustellen.
Die Aufgabe anderer Interessen bei hohem Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum des Suchtmittels können wir bei Gollum im Extrem beobachten: Sein ganzes Leben, all seine Aktivitäten und Anstrengungen, zielen letztlich auf den Besitz des Ringes ab. Davon vermögen ihn auch die beträchtlichen schädlichen Folgen seines Suchtverhaltens nicht abzubringen: Er tötet seinen besten Freund (Beschaffungskriminalität), wird sozial ausgegrenzt, vernachlässigt seine Gesundheit, lebt völlig isoliert in bitterster Armut, wird gefangen, geschlagen und gefoltert und opfert letztlich auch die Aussicht auf einen neuen Freund (Frodo), der ihn und sein Schicksal verstehen und akzeptieren könnte, der Gier nach dem Ring.
Jenseits der, diagnostisch somit gesicherten, Abhängigkeitserkrankung, zeigt Gollum noch weitere Symptome (in welchen er sich von den anderen Ringträgern unterscheidet): Zunächst fällt uns seine bizarre Sprechweise auf. Er spricht von sich in der ersten Person Plural, scheint im Dialog mit seinem „Schatz“ zu stehen, benutzt Neologismen (Hobbitse, Orkse). Außerdem zeigt er seltsame, stereotype Bewegungsmuster und Körperhaltungen (z. B. stundenlanges Sitzen in der Hocke, den Blick in die eigene Handfläche vertieft).
Diese Symptome (die zunächst ein sog. Prodromalstadium darstellen) wachsen sich im weiteren Verlauf zu einer manifesten Psychose aus: Gollum hat optische und akustische Halluzinationen in Form eines bösen Alter-Egos, auf welches er seine süchtigen, brutal-egoistischen Selbstanteile projiziert. Angesichts der jahrelangen Abhängigkeitserkrankung, können wir davon ausgehen, dass es sich um eine Psychotische Störung infolge des Substanzkonsums (ICD-10: F19.5) handelt.
Und als wäre das noch nicht genug, leidet der arme Gollum, ebenfalls infolge des gesundheitlichen Abbaus im Rahmen seiner Sucht, noch an einem chronischen vokalen Tic (ICD-10: F95.1): Seit vielen Jahren muss er mehrmals täglich, unwillkürlich, plötzlich und wiederholt den Laut „Gollum“ ausstoßen, dem er seinen stigmatisierenden Namen verdankt.
In Gollums psychotischer Ich-Spaltung wird das Wesen der Sucht exemplarisch deutlich: Verängstigte, einsame, hilflose Persönlichkeitsanteile (die sich auch später noch Smeagol nennen, was auf dessen prämorbide Persönlichkeitsstruktur verweist) finden in der Sucht eine starke, selbstbewusste, beschützende und versorgende Instanz. Diese ist jedoch trügerisch und kann jederzeit massiv bedrohlich, entwertend und beschuldigend werden, was die ursprünglichen Gefühle von Angst, Einsamkeit und Hilflosigkeit wiederum verstärkt.
Die ganze Figur des Gollum kann somit als Metapher auf den Teufelskreis der Sucht verstanden werden: Zunächst können negative Gefühle kompensatorisch durch angenehmere ersetzt werden. Diesen folgen jedoch irgendwann Scham- und Schuldgefühle. Der daraus entstehende Impuls, sich loszusagen, löst erneut die primären negativen Gefühle aus. Mit jeder Niederlage im Ankämpfen gegen die Sucht, werden Scham und Schuld und der Zweifel daran, das Leben ohne den Suchtstoff bewältigen zu können, stärker.
Wenngleich Gollum dem Ring völlig verfällt und schließlich an seiner Sucht zugrunde geht, scheint, wie bei jedem Suchtmittel, auch das Abhängigkeitspotential des Ringes interpersonell unterschiedlich groß zu sein:
Isildur nutzt den Ring um sich besser und stärker zu fühlen, ähnlich einer Partydroge oder einem Aufputschmittel zur Leistungssteigerung. Sein Risiko, langfristig abhängig zu werden, wäre hoch, fände er nicht im Rausch einen frühen Tod.
Bilbo steckt den jahrzehntelangen Besitz des Ringes offenbar recht unbeschadet weg und kann ihn, trotz zwischenzeitlich beträchtlichen Widerwillens, schließlich abgeben. Danach setzt jedoch ein rapider und stetiger körperlicher Verfall ein. Bilbo erinnert somit an einen Spiegeltrinker, der über lange Zeit konsumiert, ohne dabei vollständig die Kontrolle zu verlieren. Ohne seinen Suchtstoff fällt es ihm allerdings schwer, ein angemessenes Funktionsniveau aufrecht zu erhalten und die körperlichen Langzeitfolgen machen sich umso deutlicher bemerkbar.
Frodo zeigt schon früh süchtige Verhaltensweisen und riskiert im Kampf um den Ring schließlich sogar sein Leben. In seinem Fall liegt folglich ein Schädlicher Gebrauch (ICD-10: F19.1) vor. Als er aber vom Ring befreit ist, kann er dies ohne Entzugssymptome und nennenswerte Folgeschäden aushalten, was dafür spricht, dass eine Abhängigkeit im Entstehen begriffen war, aber durch den erzwungenen Entzug noch abgewendet werden konnte.
Sam schließlich scheint am wenigsten suchtgefährdet: Ihm sind der Ring und dessen Wirkung von Beginn an suspekt und er ist regelrecht erleichtert, ihn wieder loszuwerden. Er trägt den Ring aus Verantwortungsgefühl, ähnlich jemandem, der aus sozialen Beweggründen Drogen konsumiert, vor deren Wirkung er aber eigentlich Angst hat und die ihm auch nicht schmecken. Da der „Gruppenzwang“ zum Tragen des Rings für Sam einmalig bleibt, besteht weiterhin keine Suchtgefahr.
Wer warum wie auf einen Suchtstoff reagiert, ist eine Frage von extremer psycho-physiologischer Komplexität, die auch im Herr der Ringe (in der Realität sowieso) nicht abschließend beantwortet werden kann.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass selbst der schwerst süchtige Gollum, nach Jahrzehnten der Misshandlung und Ausgrenzung, durch ein Bisschen Zuwendung und Mitgefühl von Frodo, zu einem ernsthaften, wenn auch letzten Endes erfolglosen, Versuch, gegen seine Sucht anzukämpfen, befähigt wird.
Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn ihm früher jemand die Hand gereicht hätte?