In Stranger Things begegnet uns die kleine 011, genannt Elfi, die (zunächst) nicht spricht. Wir erfahren allerdings schnell, dass Sprachverständnis und auch die Fähigkeit zu sprechen eigentlich intakt sind. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie diese Fähigkeiten im sozialen Kontakt zunächst kaum einsetzen kann. Elfi zeigt damit die Symptome eines elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) wie folgt definiert:
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Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
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Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen)
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An sich vorhandene Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache
Der elektive Mutismus wird in der ICD-10 den sogenannten Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit (F94) zugeordnet. Diese Störungen stellen häufig (aber nicht in jedem Einzelfall zwingend) Reaktionen auf bestimmte ungünstige soziale Bedingungen und negative oder unzureichende Erziehungserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen dar. Hierzu zählen Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch.
Aus psychotherapeutischer Sicht sind folglich Elfis frühere Beziehungserfahrungen interessant, über die wir in Stranger Things durch wiederholte Rückblenden tatsächlich einiges erfahren können. Elfi wurde unter mysteriösen Umständen von ihrer leiblichen Mutter getrennt und von Dr. Brenner in einem Labor aufgezogen, der vorgibt ihr Vater zu sein. Ob er ihr biologischer Vater ist, oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn für Elfi ist er lange Zeit die einzige elterliche Bezugsperson, ihr „Papa“. Wie jedes Kind hat sie eine starke emotionale Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut. Sie vertraut Dr. Brenner, genießt seine Zuwendung und fühlt sich von seinem Wohlwollen ihr gegenüber existenziell abhängig.
Diese starke emotionale Bindung, die dazu führt, dass Elfi – wie jedes Kind – alles ihr Mögliche dafür tun würde, um ihren Vater zufriedenzustellen, wird von diesem in schamloser und egoistischster Weise missbraucht. Wie immer es seinen Zwecken dient, manipuliert er Elfi, ködert sie mit der von ihr so dringend benötigten Zuwendung, nimmt keine Rücksicht auf ihre psychische und körperliche Gesundheit und hält sie in strikter Isolation, um die Abhängigkeit von seiner „Liebe“ konkurrenzlos aufrechtzuerhalten.
Damit liegt ein schwerer und langjähriger, v.a. psychischer, aber auch körperlicher, Missbrauch vor. Wie in der überwiegenden Mehrheit der Missbrauchsfälle stammt der Täter aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers und macht sich dessen emotionale Abhängigkeit zunutze. Diese ist auch der Grund, warum die Opfer sich selten, und wenn, dann oft erst spät, Hilfe holen. Genau wie Elfi, die lange Vieles mitmacht und erduldet, was ihr seelisch, moralisch und körperlich zuwider ist – aus Loyalität zu ihrer einzigen wichtigen Bezugsperson und aus Angst, deren Zuneigung zu verlieren. Vielleicht ahnt sie auch, trotz der gelungenen Abschottung gegenüber der Außenwelt, dass Dr. Brenners Versuche unethisch und vermutlich illegal sind und versucht ihn, durch ihre Kooperation vor Sanktionen zu schützen – ebenfalls ein häufiges Phänomen bei missbrauchten Kindern. So wird, Schätzungen zufolge, in Deutschland nur etwa einer von zwanzig Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gebracht!
Elfi zeigt, über den Mutismus hinaus, zahlreiche weitere Symptome und Verhaltensweisen, die typisch für Kinder mit Bindungsstörungen, also als Folge unzureichender oder negativer Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, sind (wenngleich diese immer nur als Hinweis auf die Möglichkeit solcher Erfahrungen, nicht als Beweis für diese gelten können).
Bei Elfi können wir, nachdem sie aus dem Labor geflohen ist und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, ein recht typisches Störungsbild missbrauchter Kinder erkennen, nämlich das der sogenannten reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.1). Diese ist gekennzeichnet durch ein ungewöhnliches, von der Altersnorm abweichendes, Beziehungsmuster, welches durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist: Einerseits suche nach Kontakt und Nähe, andererseits Angst und Schreckhaftigkeit mit der Folge plötzlichen Rückzugs oder aggressiver Abwehr.
Weitere Symptome einer reaktiven Bindungsstörung, die bei Elfi vorliegen, sind:
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Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren
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Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggression
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Furchtsamkeit, Misstrauen, übertriebene Wachsamkeit
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Traurigkeit
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Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
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Mangel an (positiven) emotionalen Reaktionen
Typisch für die reaktive Bindungsstörung ist jedoch auch, dass ihre Symptome sich (im Vergleich zu anderen psychiatrischen Symptomen) relativ schnell wieder zurückbilden können, wenn das Kind dauerhaft in ein günstigeres soziales Umfeld, mit schützenden, wertschätzenden und verlässlichen Bezugspersonen kommt.
So wird für Elfi Mikes Freundschaft, sein Vertrauen und seine Bereitschaft, immer wieder auf sie zuzugehen, selbst wenn sie sich eigenartig und bedrohlich verhält, zur wirksamsten Therapie.