American History X: Derek

„Meinen Sie damit, dass der Mord an Ihrem Vater auf die Rassenfrage zurückgeht?“

„Sicher, worauf denn wohl sonst? Alle Probleme hier gehen doch auf die Rassenfrage zurück, nicht nur Verbrechen. Arbeitslosigkeit, Aids, Einwandererschwemme, das sind Probleme der schwarzen Bevölkerung, der hispanischen Bevölkerung, der asiatischen Bevölkerung, das sind keine weißen Probleme.“ 
Diese Argumentation des von Edward Norton großartig verkörperten Neonazis Derek Vinyard in dem beklemmenden Film American History X von 1998 erinnert uns an vieles von dem, was wir uns dieser Tage wieder vermehrt anhören müssen. Die Quintessenz ist: Die anderen sind schuld!
Das Bedürfnis, Irgendjemandem die Schuld geben zu können, scheint bei jenen, die so argumentieren, extrem stark, teils bis ins Zwanghafte gehend, ausgeprägt zu sein. Es hat etwas Verzweifeltes, wenn Derek auf die Nachfrage des Reporters: „Haben diese Fragen nicht viel eher mit Armut zu tun?“ antwortet: „Nein, das… Nein! Die sind auch nicht Produkte ihrer Umgebung, das ist alles Quatsch. Die Minderheiten interessieren sich einen Scheiß für dieses Land, die wollen es ausbeuten, nicht daran mitwirken.“ 
Derek ist ein intelligenter und begabter junger Mann, der soeben seinen Vater auf tragische Weise verloren hat: Er wurde von einem afroamerikanischen Drogendealer erschossen, während er in seinem Beruf als Feuerwehrmann einen Brand in einem Haus, das als Drogenumschlagsplatz diente, zu löschen versuchte. Dereks Trauer, Schmerz, Zorn und Verzweiflung müssen fast unerträglich sein. Und doch scheint es uns vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich, dass ein solches Erlebnis auch hätte überwunden werden können, ohne zum radikalen Neonazi und schließlich gar zum Mörder zu werden.
In Sigmund Freuds klassischem Strukturmodell der menschlichen Psyche ist für die Zuordnung von Schuld und Unschuld, Gut und Böse, richtig und falsch das Über-Ich zuständig. Diese psychische Instanz bildet sich in der Kindheit zunächst vor allem anhand der Regeln, Normen und Moralvorstellungen aus, welche wir von unseren Eltern und anderen relevanten Personen vermittelt und vorgelebt bekommen (und welche ihrerseits von den geltenden gesellschaftlichen Normen und Werten bestimmt werden).
Damit bildet das Über-Ich ein Gegengewicht zur Instanz des Es, welches nicht moral- und vernunfts-, sondern triebgesteuert ist. Die Funktion des Es ist Bedürfnisbefriedigung, die des Über-Ichs soziale Integration. Vermittelnd dazwischen steht die dritte Instanz, das Ich, welches mithilfe von Abwehrmechanismen für einen sinnvollen Ausgleich zwischen den beiden gleichermaßen wichtigen Motiven zu sorgen versucht.
Die Entwicklung des Über-Ich verläuft nach Freud progredient, im Sinne einer Reifung. Sobald ein Kind andere Menschen als eigene Individuen mit eigenen Bedürfnissen wahrnimmt, beginnt Interessensausgleich und damit die Notwendigkeit von Normen eine Rolle zu spielen. Diese werden zunächst überwiegend als klare, dichotome Ge- und Verbote wahrgenommen und verinnerlicht (Freuds Lieblingsbeispiel war hier bekanntermaßen die Sauberkeitserziehung: Töpfchen gut – Alles andere böse. Nichts dazwischen). 
Während man sich als Kleinkind den elterlichen/gesellschaftlichen Regeln noch relativ fraglos unterordnen und eigene Triebwünsche angesichts der existenziellen Abhängigkeit von den Autoritäten verdrängen kann, beginnt der sich entwickelnde Geist der späteren Kindheit bereits, diese kritisch zu hinterfragen.
Und hier wird´s jetzt interessant: Ist das vorgefundene Regel- und Wertesystem hinreichend flexibel, transparent, offen und kritikfähig, kann eine kritische Auseinandersetzung damit erfolgen, welche zur Ausbildung einer immer differenzierteren, sich beständig flexibel weiterentwickelnden eigenen Moral, die funktional auf Es-Impulse, Ich-Entwicklungen, innere und äußere Anforderungen und Veränderungen zu reagieren und angesichts derer Orientierung und inneren Halt zu bieten in der Lage ist. Andernfalls droht die Über-Ich-Entwicklung auf dem früheren, unreifen Niveau zu stagnieren, ein sogenanntes „archaisches“, rigide und radikal urteilendes Über-Ich persistiert, welches den hochkomplexen Anforderungen an eine reife, differenzierte Moral nicht gerecht werden kann. Aus der Diskrepanz zwischen ebendiesen Anforderungen und dem archaisch-unflexiblen Über-Ich ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die Wahrnehmungswelt entsprechend der Über-Ich-Struktur permanent zu vereinfachen. Gut/Böse, schwarz/weiß, schuldig/unschuldig.
An Derek in American History X sehen wir (aufgemerkt!), das das nichts mit Intelligenz zu tun hat. An der fehlt es ihm nämlich mitnichten. Doch die rigiden Werturteile seines Vaters haben Dereks Über-Ich-Entwicklung mit Denkverboten und rassistischen Pseudoerklärungen behindert, so dass er später, angesichts seines unerträglichen Leids, all die komplexen und verstörenden Gefühle komprimiert und in einer einzigen, rasenden Externalisierung den ethnischen Minderheiten zum Vorwurf macht und dafür an ihnen Rache nimmt.
Externalisierung ist einer der beiden einseitig vereinfachenden Lösungsmodi innerer Schuldkonflikte. Da die ganze Schuld, mit hohem emotionalem Kraftaufwand, auf andere projiziert wird, sprechen wir vom aktiven Modus. Dem gegenüber steht der passive Modus, die Internalisierung, bei der die ganze Schuld vorauseilend und undifferenziert selbst übernommen wird, was mit quälenden Selbstvorwürfen einen nicht minderen emotionalen Preis fordert. Unbewusst jedoch schützt der passive, masochistisch sich selbst geißelnde Modus vor der verletzenden und verstörenden Wirkung tatsächlicher, differenzierterer und dadurch treffenderer Verantwortung oder Schuld und deren wirklicher Übernahme.
Ein Beispiel für den passiven, internalisierenden Modus ist die Tänzerin Claire aus der Mini-Serie Flesh and Bone. Claires Mutter ist tot, ihr Vater ein aggressiver Tyrann und ihr Bruder ein traumatisierter Kriegsheimkehrer. Claire übernimmt für die Beschissenheit der Gesamtsituation die Verantwortung, weil die ihr gebliebenen Beziehungspersonen alle Verantwortung für ihr Leid externalisieren und gegen diese aufzubegehren für Claire zu gefährlich wäre. Also schmeißt sie den Haushalt, lässt sich vom Vater beschimpfen und vom Bruder missbrauchen, so als sei das das mindeste was sie tun könne. Auch als sie es schließlich schafft, sich fluchtartig der Situation zu entziehen, quälen sie weiterhin schwere Schuldgefühle, welche sie in Form von Selbstverletzung immer wieder an sich selbst ausagiert. 
Derek Vinyard scheint bei all seinem Hass unbewusst doch zu ahnen, dass er durch seinen rassistischen Kreuzzug selbst erheblich Schuld auf sich lädt, ebenso wie sein Vater durch seine rassistischen Reden am Mittagstisch. Fast scheint Derek den Rechtsstaat dazu zwingen zu wollen, ihn ins Gefängnis zu stecken. Erst als er dort massiv Buße geleistet hat, also gleichsam in den radikalen (internalisierenden) Gegenmodus gewechselt hat, kann er seinen Schuldkonflikt auflösen und vorübergehend innere Ruhe finden. Seinem kleinen Bruder erklärt er es so: „Du musst Dir vorstellen, dass ich zwei Leute getötet habe. Getötet! … Und ich fühlte mich genau so wie vorher, nur noch viel verwirrter. Und ich bin es leid, dauernd wütend zu sein, Danny, ich bin es einfach leid.“

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Form auch auf filmschreiben.de im Rahmen meiner Artikelreihe zu den sieben psychologischen Grundkonflikten erschienen.