„If you close your eyes, you see darkness. But if you keep them closed for long enough, and concentrate hard, you’ll see light.“
Effy
Effy Stonem aus der weniger bekannten, aber sehr sehenswerten, melancholisch-schönen Serie Skins (UK, 2007), ist ein faszinierender, düsterer Charakter. Eine jugendliche Femme fatale, körperlich fast noch ein Kind und doch von der tiefen Traurigkeit und dem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe getrieben, die einen Menschen zerreißen können. Beliebt, begehrt, bewundert – und doch im Innern unsicher und ängstlich. Extravertiert, offensiv und exzessiv in fast jeder Hinsicht – und doch im Innern einsam und entfremdet, ihre wahren Gefühle vor allen, auch sich selbst, verbergend.
Auf der psychopathologischen Ebene zeigt Effy in den ersten beiden Staffeln, in denen sie eher eine Nebenrolle spielt, einen elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) beschrieben als die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu sprechen, obwohl geistige Entwicklung, Sprachverständnis und Sprechfähigkeit im Allgemeinen altersgemäß entwickelt sind und in bestimmten Situationen normal gesprochen werden kann.
Interessanterweise wird elektiver Mutismus in der ICD-10 in einem Kapitel mit den Bindungsstörungen aufgeführt und tatsächlich scheint es, als würde Effy durch ihr Schweigen vor allem ganz präzise regulieren, mit wem sie wann und wie weit in Beziehung tritt und wen sie von sich fernhält – dazu später mehr.
In den Staffeln drei und vier wird Effy der Hauptcharakter der Serie und leider auch schwer psychisch krank. Wir erfahren, dass es eine familiäre Vorbelastung von affektiven Störungen (ICD-10: F3) gibt. Hierunter fallen Störungen der Stimmung, also krankhaft gedrückte Stimmung (Depression) sowie krankhaft gehobene Stimmung (Manie) und diverse leichtere und Mischformen dieser Störungen.
In der Serie wird Effys Krankheit als psychotische Depression bezeichnet, damit ist das Krankheitsbild der Schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) gemeint. Zusätzlich zu schweren depressiven Symptomen, wie z.B. gedrückter Stimmung, Freud- und Interessensverlust, Antriebslosigkeit, Leeregefühlen, geringem Selbstwertgefühl und Suizidalität, liegen hier sogenannte psychotische Symptome, also gravierende Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, wie z.B. Wahnvorstellungen und Halluzinationen vor.
Damit wird Effys Aktusymptomatik passend beschrieben. Meiner Ansicht nach könnte jedoch Effys Psychodynamik insgesamt auch als beginnende Bipolare Affektive Störung (F31.5) klassifiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass außer der beschriebenen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen auch manische oder hypomanische (leichtere manische) Episoden auftreten können. Diese sind gekennzeichnet durch Verhalten wie:
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Gesteigerte Aktivität und Ruhelosigkeit
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Soziale Hemmungslosigkeit mit sozial unangemessenem Verhalten
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Vermindertes Schlafbedürfnis
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Überhöhte Selbsteinschätzung
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Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
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Leichtsinniges, riskantes Verhalten
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Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Interessanter als die formale psychopathologische Klassifikation von Effys Symptomatik ist jedoch, wie so oft, ihre innere Psychodynamik: Was Effy sich, wie jeder Mensch, wünscht, ist Liebe. Wahre, bedingungs- und selbstlose, verlässliche Liebe. Was sie, wie viele Menschen, mehr als alles andere fürchtet, ist verlassen, enttäuscht, verletzt zu werden.
Psychologen nennen das einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Effy sucht intensiv nach Liebe, versucht, die Menschen durch ihre Extravertiertheit und ihren Charme an sich zu binden – und muss doch gerade die Beziehungen, die ihr besonders viel bedeuten, bis zum Zerreisen auf die Probe stellen, gerade weil sie ihr so viel bedeuten, dass sie den Gedanken, sich weiter einzulassen und die Angst davor, später vielleicht doch verlassen zu werden, nicht aushalten kann.
Die Einsamkeit ist ihr ein vertrauter Feind. Ihre Eltern waren nicht verlässlich für Effy da, auch wenn die Mutter sich immer wieder bemüht hat, fehlte es ihr doch an eigener emotionaler Stabilität. Ihr Bruder Tony liebt Effy sehr, ist jedoch – natürlich – mit seinem eigenen Erwachsenwerden beschäftigt und somit kein Ersatz für die fehlende, durch die Eltern nicht gegebene, Stabilität und den emotionalen Halt, den ein Kind braucht. Effys Ersatzfamilie sind – wie für die meisten Jugendlichen in Skins – ihre Freunde.
Folglich erwartet sie von diesen das, was sie von Familien kennt: Oberflächliche Gesellschaft deren Sicherheit gerade darin besteht, dass niemand ihr wichtig genug wird, um sich von ihm abhängig zu fühlen und dadurch verletzbar zu werden. Freunde wie Cook, von dem man immer weiß, dass man nichts zu erwarten hat, sind die sicherste Abwehr gegen Bindungs- und Verlustängste.
Effy selbst beschreibt diese Ambivalenz so: „Sometimes I think I was born backwards, you know, came out my mum the wrong way. I hear words go past me backwards. The people I should love I hate, and the people I hate…”
Freddie dagegen, mit seinem glaubhaften Angebot aufrichtiger und bedingungsloser Liebe, wird Effys vermeidendem Beziehungsmodus gefährlich, fordert ihre abgewehrten Wünsche und Sehnsüchte heraus und muss sich von Effy so hart und wiederholt auf die Probe stellen lassen, dass seine Liebe und er selbst fast daran zerbrechen. Dennoch schafft er es schließlich, das Vertrauen der so unsicheren, verletzlichen, sicherheitsbedürftigen Effy zu gewinnen und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte alles gut werden – aber so eine Art Serie ist Skins nicht…