Babylon Berlin: Gereon und die Hypnose

Um es gleich klarzustellen, ich fand Babylon Berlin großartig. Stimmt schon, am Anfang wähnt man sich kurz in einer dieser ungelenken Schauspielszenen einer ZDF-Historiendokumentation, aber ich glaube, dass ist nur eine Frage der Gewohnheit, denn bereits nach ein, zwei Folgen, entwickelt die spannende Geschichte mit ihren vielen interessanten und zum Teil psychologisch komplexen Figuren ihren Reiz und ließ zumindest mich nicht mehr los. Den Kritikpunkt, dass nicht alles historisch korrekt ist, finde ich irrelevant, da es sich ja nunmal nicht um eine Dokumentation handelt – und inwieweit die Darstellungen in House of Cards, Vikings oder Mindhuntervollständig mit der Realität korrespondieren, interessiert ja auch die wenigsten. Zudem scheint einiges doch auch recht realitätsnah dargestellt zu sein, zumindest wenn man dem sehr interessanten Podcast von Radio Eins 1929 -Das Jahr Babylon glauben darf.

Alles beginnt – wie damals bei den Sopranos – mit einer Psychotherapieszene. Gereon Rath lässt sich hypnotisieren – eine damals gängige Behandlungstechnik bei nervösen Leiden. Hypnotische Trance bezeichnet – entgegen mystifizierenden populärwissenschaftlichen Klischees – einfach einen Zustand der entspannten Fokussierung, das heißt, durch die Konzentration auf bestimmte Reize (Körperwahrnehmungen, die Stimme des Hypnotisieurs, einen sich bewegenden Finger oder ein Pendel etc.) findet eine zunehmende Ausblendung der Vielzahl anderer Reize und Gedanken statt, wodurch innere Ruhe und eine gelassene und dafür umso konzentriertere Fokussierung auf bestimmte Themen, Gedanken, Erinnerungen etc. möglich wird. Für die heutige Psychotherapie hat die Hypnose besondere Bedeutung, nicht weil sie heute noch breit angewendet würde – sie führt eher ein Nischendasein im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie – sondern weil sie sozusagen den historischen Vorläufer der uns heute bekannten Psychotherapie darstellt. 
Im späten neunzehnten Jahrhundert, als es noch keine Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, gab, wurde die damals im Bürgertum vermehrt auftretende Hysterie (eine damals noch unscharf definierte Bezeichnung für eine Vielzahl psychopathologischer Symptome, wie z.B. emotionale Instabilität, psychogene Krampfanfälle, Dissoziation, Panik usw.) von einigen, als progressiv geltenden, Ärzten durch Hypnose zu behandeln versucht. Ein populärer und international angesehener Protagonist dieser Bewegung war der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot (Wikipedia), dessen eindrückliche Behandlungserfolge, oft vor Medizinstudenten und internationalen Kollegen, zwar ebenso wie heutige Showhypnosen einen erheblichen Anteil an Charisma, Showtalent und Suggestibilität der Proband*innen/Patient*innen enthielten, aber dennoch die Hoffnung auf Behandlungsmöglichkeiten psychischer Leidenszustände jenseits von Kältebädern, Lobotomien und anderen mehr oder weniger grausamen Therapien nährten. 
Zwei Bewunderer Charcots in dieser Zeit waren der Wiener Arzt Josef Breuer und sein junger, wissbegieriger Kollege Sigmund Freud. Letzterer reiste gar nach Paris und zeigte sich beeindruckt von Charcots Fallvorführungen. Breuer und Freud begannen ihrerseits die – vor allem, aber nicht nur – Damen der besseren Wiener Gesellschaft im Falle von Hysterie und anderer seelischer Leiden mit Hypnose zu behandeln und hatten damit nicht selten Erfolg, was den Glauben an die Methode zunächst stärkte. Bis schließlich Dr. Breuer die Entdeckung machte, die den Grundstein für die moderne Psychotherapie legen sollte. Er stellte fest, dass auch ohne einer zuvor induzierte hypnotische Trance ein zugewandtes, vertrautes, einfühlsames Gespräch mit der Patientin über Inhalte welche diese als belastend oder beschämend erlebte, zur Reduktion der Symptomatik führte und dass sich dieser Effekt durch wiederholte Gespräche ausbauen und stabilisieren ließ. Heureka! – Die sogenannte „Redekur“ war geboren. Josef Breuer und Sigmund Freud gaben die „Studien über Hysterie“ heraus und begründeten damit die sprechende Psychotherapie. Der Rest ist Geschichte und die Psychotherapie gut hundert Jahre später eine unverzichtbare, vielfältige, evidenzbasierte und noch wie am ersten Tag faszinierende Behandlungsmethode. 
Der Wirkmechanismus der Psychotherapie erschöpft sich allerdings nicht in der beschriebenen zugewandten, offenen, haltgebenden und wertschätzenden Haltung – dem sog. Primärprozess. Sonst wäre Psychotherapie nichts anderes, als eine gute Freundschaft oder Elternbeziehung. Um Psychotherapie wirksam zu machen, bedarf es zusätzlich, gleichsam auf der Basis eines stabilen Primärprozesses, der aktiven Spiegelung, wohlwollenden Konfrontation und Aufforderung zur kritischen Reflektion des Erlebten – des sog. Sekundärprozesses. Seriöse, wissenschaftlich fundierte Psychotherapien zeichnen sich gerade durch die Kombination, das gegenseitige Sich-Bedingen von Primär- und Sekundärprozess aus. Die Unzulänglichkeit von Methoden, die nur auf einen der beiden Prozesse abzielen, liegt auf der Hand. 
Ein Primärprozess ohne Sekundärprozess, also eine perfekt positive Beziehung ohne kritische Reflektion, kann zwar dazu führen, dass sich die Patient*in aufgehoben und verstanden und dadurch zunächst besser fühlt. Es unterbleibt jedoch die notwendige persönliche Weiterentwicklung und auch die Reflektion der therapeutischen Beziehung selbst, so dass es nicht die durch die Therapie angestoßene Entwicklung, sondern die regelmäßigen therapeutischen Gespräche selbst sind, die so gut tun. So kann es zur Idealisierung der Therapeut*in kommen und die Patient*in in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Die eigenen Entwicklungspotentiale und auch die oft notwendige Arbeit an wichtigen Beziehungen außerhalb der Therapie können dadurch blockiert werden, was die Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Ende der Therapie verstärkt und im Bereich der pseudowissenschaftlichen Psychotherapieszene mitunter zu jahrelangen, letztlich ausbeuterischen „Therapien“ auf Selbstzahlerbasis führt. 
Im umgekehrten Fall, also der rein kognitiv-rationalen Reflektion und Erarbeitung von Lösungsansätzen (Sekundärprozess), ohne den Aufbau und die sorgfältige Pflege einer empathischen, die authentische, tiefgehende Selbstöffnung fördernden Beziehung (Primärprozess), lassen sich durchaus Probleme lösen, z.B. das eigene Zeitmanagement verbessern, oder eine Strategie für Verhandlungen planen usw.. Die tiefen, oft unbewussten inneren Konflikte, welche die Umsetzung der vermeintlich einfachen oder klaren Lösungen im Alltag eben oft verhindern, werden jedoch nicht erreicht und die für die Lösung wirklich komplexer, widersprüchlicher, tief scham- und schuldbehafteter Probleme Weiterentwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Darin besteht der Unterschied zwischen Angeboten aus dem Coaching- und Beratungsspektrum und der Psychotherapie als Heilbehandlung.
Auch im Hinblick auf die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, ausgehend von Freuds Arbeit, in den letzten hundert Jahren viel vorangegangen, auch wenn nach wie vor viel zu tun bleibt (Hierzu lohnt immer wieder ein Blick auf das Betroffenenforum themighty.com). Davor, und eben auch noch in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, um damit wieder zum eigentlichen Thema Babylon Berlin zurückzukehren, hatten es psychisch Kranke oft noch viel schwerer, als dieser Tage – zumindest in Deutschland (was es übrigens derzeit wieder zu verteidigen gilt!).
Deshalb muss Gereon Rath heimlich zur Hypnose gehen und setzt zunächst alles daran, seine Krankheit, die damals als Kriegszittern bezeichnet wurde, geheim zu halten, um in der rauen Welt der Berliner Polizei nicht als schwach oder feige wahrgenommen zu werden. Bei den sogenannten Kriegszitterern, oder auch Schüttelneurotikern, oder Flattermännern, wie es Kollege Wolter wenig einfühlsam ausdrückt, handelte es sich überwiegend um vom ersten Weltkrieg traumatisierte Heimkehrer mit dem Krankheitsbild, das wir heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen (Eine auführliche Beschreibung dieses Krankheitsbildes findet sich im Beitrag über Rambo). Wirklich anerkannt wurde diese gravierende mögliche Folge von Kriegseinsätzen erst nach dem Vietnamkrieg. 
Heute stehen zum Glück elaborierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung, während Gereon sich noch mit Hypnose und Morphin, welches durch die sedierende Wirkung das Zittern und die Panik reduziert, aber eben auch ein hohes Suchtpotenzial hat, behelfen musste. Das Zittern ist letztlich eine körperliche Manifestation der panischen Angst, welche die Betroffenen infolge von auslösenden, an die traumatische Situation erinnernden Reizen, sog. Triggern (z.B. einen Pistolenschuss), erleben. Physiologisch werden bei Angst unter anderem Herzfrequenz, Atemgeschwindigkeit und Muskelspannung erhöht, um Energie zum Kämpfen oder Fliehen (das sog. Fight-or-Flight-Syndrom) zur Verfügung zu stellen. Da diese Energie in der Lebenswelt des modernen Menschen selten in der dafür vorgesehenen Weise abgebaut werden kann (bzw. es Gereon ja überraschend gut zu gehen scheint, wenn er tatsächlich kämpfen oder fliehen muss), kommt es zur physischen Übererregung und dem Abbau der Anspannung in Form des unwillkürlichen Zitterns.
Mir würde zu Babylon Berlin noch mehr einfallen, aber da ich heute offenbar Probleme habe, bei der Sache zu bleiben, soll es das erstmal gewesen sein.

Mehr zu Babylon Berlin gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!

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