„Leute sind schon irgendwie ´ne Enttäuschung. Du auch, Beck, du auch?“
Dieser Satz von Joe, dem Protagonisten der Netflix-Serie You – Du wirst mich lieben lässt bereits nach 4:59 Minuten der ersten Folge tief blicken. Hier ist jemand offenbar so tief und global von seiner sozialen Umwelt enttäuscht, dass es ihm als absolute Ausnahme erscheint, auf jemanden zu treffen, der keine Enttäuschung darstellt. Entsprechend wird die Möglichkeit einer solchen Begegnung idealisiert überhöht.
Die Überzeugung grundsätzlich besonders oder einzigartig zu sein und auch nur von den wenigen anderen besonderen oder bedeutsamen Menschen verstanden zu werden und verkehren zu können, ist ein Kernmerkmal narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F60.80). Ebenso wie Phantasien idealer und grenzenloser Liebe, ein Mangel an Empathie und eine Tendenz zu ausbeuterischem Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen.
Joe weist also deutliche narzisstisch gestörte Züge auf. Die Frage, ob er da klinische Vollbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bei ihm erfüllt ist, ist ein Grenzfall und für das Verständnis seines Verhaltens von untergeordneter Wichtigkeit, weshalb ich sie hier nicht weiter diskutieren will.
Viel relevanter scheint Joes Bindungsstörung zu sein. Diese ist keine Diagnose nach ICD-10, sondern vielmehr ein grundlegendes, tief in der Persönlichkeit verankertes Erlebens- und Verhaltensmuster, dass verschiedenen pathologischen Verhaltensweisen zugrunde liegen kann. Joes gestörter Bindungsstil wird alsunsicher-ambivalent bezeichnet. Er hat von Beginn seines Lebens an erlebt, dass er sich auf wichtige Bezugspersonen nicht verlassen kann. Entweder wurde er im Stich gelassen, oder gar misshandelt.
Dass er die Hoffnung auf Liebe nicht vollständig verloren hat, liegt an der Begegnung mit der ersten Person, die sich seiner angenommen hat: Mr. Mooney. Leider war Mr. Mooney ein autoritärer und jähzorniger Mann, der von Joe absoluten Gehorsam und uneingeschränkten Zuspruch erwartet und diese auch mit psychischer und physischer Gewalt erzwungen hat.
Joes prägende Beziehungserfahrungen legen ihm also nahe, dass die meisten Beziehungen enttäuschend sind, während das seltene Glück einer stabilen, Orientierung und Zugehörigkeit bietenden Beziehung mit absoluter Unterwerfung und Selbstaufgabe bezahlt werden muss. Folglich bleibt seine Vorstellung von Liebe davon geprägt, dass man sich dem anderen entweder uneingeschränkt und grenzenlos hingibt, oder die Beziehung eben gar keinen Wert hat.
Dass die meisten anderen Menschen, trotz eines vorhandenen Wunsches nach verlässlichen Beziehungen, Wert auf ihre individuelle Freiheit legen, kann sich Joe nur so erklären, dass sie, im Gegensatz zu ihm, die Falschheit und Brüchigkeit der meisten Beziehungen noch nicht durchschaut haben und den Wert bedingungsloser Selbstaufgabe daher nicht erkennen. Es ist folglich seine Pflicht, den Menschen, den er liebt, zu seinem Glück – der perfekten, exklusiven, ewigen Liebe – zu zwingen, so wie er von Mr. Mooney zu seinem Glück gezwungen wurde.