Momo: Depression und Achtsamkeit

„Sparen Sie Zeit“ – wie zeitlos aktuell klingt dieser Imperativ der grauen Herren aus Michael Endes bereits 1973 erschienenen Roman Momo. Von Beschleunigung, Effizienzsteigerung, Prozess- und Selbstoptimierung können wie ein Lied singen. Die allgegenwärtige Begleitmusik spielen Consultants, Coaches und Influencende. Wie auch bei den Bewohnern von Momos Heimatstadt bleibt zu unserer beständigen Überraschung von der so effizient eingesparten Zeit überhaupt nichts übrig. Vielmehr haben wir doch nie genug (Zeit).
Dass ein Leben unter chronischem Zeitstress krank macht, wusste Michael Ende und weiß die psychologisch Forschung seit langem (nachzulesen u.a. in dem Ergebnisbericht des Forschungsprojektes zur Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen von Depressionen, in dem ich seinerzeit promoviert habe).
In Momo beschreibt Meister Hora es so: 
 
Man hat eines Tages keine Lust mehr, irgendetwas zu tun. Nichts interessiert einen. Man ödet sich. Aber diese Unlust verschwindet nicht wieder, sondern sie bleibt und nimmt langsam immer mehr zu. Sie wird schlimmer von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer missmutiger, immer leerer im Inneren, immer unzufriedener mit sich und der Welt. Dann hört nach und nach sogar dieses Gefühl auf und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleichgültig und grau. Die ganze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine Begeisterung. Man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern. Man verlernt das Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem und man kann nichts und niemanden mehr liebhaben.

Die Kernsymptome einer depressiven Störung nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F32):  

  • Negative Gestimmtheit
  • Freud-/ und Interessensverlust
  • verringerter Antrieb 
werden hier klar benannt. 
Außerdem häufige Begleitsymptome wie innere Leere, das Gefühl von Gefühllosigkeit oder emotionaler Taubheit, Entfremdung, sozialer Rückzug und Selbstwertverlust.
 
Anders als Meister Hora es Momo sagt, ist die „tödliche Langeweile“ jedoch nicht unheilbar. Depressionen sind behandelbar! Psychotherapie wirkt. Auch Sport und Meditation können positive Effekte haben. Bei schweren Verläufen können Medikamente ergänzend zur Psychotherapie hilfreich sein. 
 
Momo selbst ist eine gute Zuhörerin und ist, wie wir im Roman erfahren eine ziemlich gute Psychotherapeutin, wenngleich sie sich so selbst nicht nennen würde:  
 
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!
 
 
Auch die Kunst des Innehaltens und der Achtsamkeit, die Basis der meisten wirksamen Meditations- und Entspannungstechniken, und quasi das Gegenmittel gegen Zeitsparen und Entfernung (sofern wir von einer fundierten und ernsthaft verinnerlichten Haltung und Praxisund nicht von Selbstoptimierungsposen reden) finden wir im Roman veranschaulicht, wenn Beppo Straßenkehrer seiner täglichen Arbeit nachgeht:
Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig, Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin.
Momo ist ein zeitloses und hervorragendes Buch über das moderne Leben. Über Freundschaft, Gesellschaft, Arbeit, Zeit und Gesundheit. 
Ein besseres Lehrbuch für Psychotherapeut*innen, als so manche Fachpublikation. 

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