Suits: Harvey Specter (Update S7)

Harvey Specter, der schicke Super-Anwalt aus Suits, zeichnet sich vor allem durch zwei Dinge aus:

  1. Er ist davon besessen zu gewinnen, wobei es ihm meist nicht primär um den Fall oder den Mandanten geht, sondern um den gegnerischen Anwalt, den er um alles in der Welt besiegen und übertrumpfen muss. 
  2. Harvey ist kompromisslos ehrlich (es sei denn, die Strategie in einem Fall verlangt es vorübergehend anders) und erwartet dies auch von allen, die mit ihm zusammenarbeiten und ihm nahe stehen. 
Während die konsequente Ehrlichkeit bewundernswert ist – verlangt sie doch große Charakterstärke – machen das zwanghafte Konkurrieren und die Brutalität, mit der er alle behandelt, die seinem Sieg im Wege stehen, Harvey nicht immer sympathisch. 
Wie Harvey so geworden ist, erfahren wir von ihm selbst und die Tatsache, dass er, der kaum einmal etwas Persönliches erzählt, Mike Ross gerade diese Schlüsselszene berichtet (wenn auch bekifft), zeigt, wie wichtig sie ist: 
Mit sechzehn Jahren fand Harvey heraus, dass seine Mutter seinen Vater, einen Musiker, betrog. Weil er den Vater nicht verletzen wollte, behielt er das Geheimnis zwei Jahre lang für sich, bis seine Mutter die Familie schließlich verließ und den Vater gebrochen und gedemütigt zurückließ. 
Der junge und verletzte Harvey zog aus seinem Schmerz, ohne sich dessen bewusst zu sein, zwei Lehren, die sein weiteres Leben bestimmen sollten.
  1. Wer sich emotional bindet und dadurch abhängig macht, wird verletzlich und kann, wenn es schlecht läuft, als geschlagener Verlierer zurückbleiben. 
  2. Lügen verletzen den Belogenen und verursachen schlimme Schuldgefühle bei demjenigen, der gelogen hat. 


Harveys Bemühen alles und jeden zu dominieren um stets Herr der Lage zu sein und sich niemals auf die Güte oder das Mitleid anderer verlassen zu müssen, sowie seine kompromisslose Ehrlichkeit, sind eine direkte (für Harvey unbewusste) Reaktion auf den Schmerz, die Schuldgefühle und die Angst, die er als Sechzehnjähriger durchlitt. 

Wenn, wie in diesem Fall, unbewusste Gefühle und Motive den Charakter eines Menschen in entscheidender Weise prägen, spricht die Psychologie von einer Reaktionsbildung
Doch auch wenn Harvey es nicht gerne zugibt, gelingt es immer wieder einzelnen Menschen, z.B. Mike und Donna, sich in sein Herz zu schleichen – auch weil sie intuitiv verstehen, dass Harvey, um sich sicher zu fühlen, in der Beziehung immer die Oberhand behalten muss. Dafür jedoch gewinnen sie einen stets loyalen Freund und Mentor, der für sie bis zum letzten zu kämpfen bereit ist. 

UPDATE – Staffel 5

Den Psychologen kann es nur freuen, dass der doch sehr glatte Harvey der ersten vier Staffeln, der so gut wie jede unerwünschte Gefühlsregung vermeiden zu können scheint, nun etwas differenziertere, weniger souveräne und damit menschlichere Züge bekommt. 
Es wird deutlich, dass Harvey, auch wenn er Gefühle wie Nähewünsche, Einsamkeit und Verlustangst sehr umfassend verdrängt, diese, wie jeder Mensch, dennoch hat. 

Nach tiefenpsychologischem Verständnis ist die menschliche Psyche bipolar aufgebaut, was uns antreibt ist nie eindimensional: Wir streben nach Selbstverwirklichung und nach Verbundenheit. Nach Kontrolle und nach Anleitung. Nach Unabhängigkeit und nach Versorgung durch andere. 

So auch Harvey: Durch Donnas kompromisslose Loyalität und Verehrung musste er sich, trotz der konsequenten Verleugnung seiner Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, niemals wirklich alleine fühlen. Bewusst kultivierte er eine Eigen- und Fremdwahrnehmung als unabhängiger, grenzenlos selbstbewusster Draufgänger, der keinerlei sozialen Rückhalts bedarf, während unbewusst vor allem Donna ihm doch die Sicherheit vermitteln konnte, nicht alleine zu sein. 

Wie wichtig dieser andere Pol des Abhängigkeits-Unabhängigkeits-Kontinuums auch für Harvey ist, zeigt sich ihm und uns als Zuschauer erst, als die Beziehung zu Donna distanzierter wird, er sie vermutlich sogar ganz zu verlieren fürchtet.
Die lange verdrängten Gefühle von Abhängigkeit und Verlustangst werden durch den drohenden Verlust Donnas verstärkt, darüber hinaus wird vermutlich die Enttäuschung Harveys über den Vertrauensbruch seiner Mutter, welchen er ebenfalls als eine Art Verlassenwerden  erlebt hat, aktualisiert, nun, da er erneut fürchten muss, die wichtigste Frau in seinem Leben zu verlieren.

Die verdrängten Ängste drängen immer mehr ins Bewusstsein und manifestieren sich in Form von Panikattacken. Panikattacken sind  Anfälle plötzlicher, starker Angst, welche durch eine Vielzahl von Symptomen, beispielsweise Herzrasen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwitzen, Schwindel oder Entfremdungsgefühle gekennzeichnet sein kann. Treten diese Panikattacken ohne erkennbaren äußeren Auslöser auf, spricht man von einer sogenannten Panikstörung (ICD-10: F41.0). Da äußere Auslöser fehlen und die Betroffenen die inneren/psychischen Auslöser meist nicht direkt bewusst erkennen können, können sich nach den ersten Panikattacken sekundäre Ängste, wie z.B. einen Herzinfarkt zu erleiden, bewusstlos zu werden, oder auch verrückt zu werden, einstellen. So kann ein Teufelskreis der Angst entstehen, bei dem die „Angst vor der Angst“ zu ständiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit bei kleinsten körperlichen Angstsignalen führt, was wiederum das Auftreten von Panikattacken begünstigt.

Panikstörungen werden entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch behandelt, wobei der Patient über die psychologischen und physiologischen Vorgänge vor und während der Panikattacken aufgeklärt wird und lernt, seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst zu beeinflussen. Atem– und Entspannungsübungen kommen unterstützend zum Einsatz.

 
Liegt, wie bei Harvey, ein deutlich erkennbarer innerer Konflikt als Auslöser der Panikstörung vor, bietet sich ein tiefenpsychologisches Vorgehen an, welches seine (ansonsten nicht allzu professionelle) Therapeutin Paula richtigerweise für Harvey wählt: Indem sie ihn mit seinen abgewehrten Gefühlen gegenüber Donna und seiner Mutter konfrontiert und seine Auseinandersetzung mit diesen vorantreibt, ermöglicht sie Harvey, seine aktuellen und früheren Ängste bewusster wahrzunehmen und als Teil seines Gefühlsspektrums zu aktzeptieren. Dadurch müssen sie nicht mehr verdrängt werden und in der Folge auch nicht mehr kompensatorisch in Form von Panikattacken ins Bewusstsein drängen. Dadurch erhält Harveys Eigen- und Fremdwahrnehmung zwar ein paar Kratzer in auf ihrer makellosen Oberfläche – seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, wichtige Beziehungen zu pflegen, tut dies jedoch eher gut. 
Und, ganz ehrlich, der alte Harvey war auf die Dauer doch auch zu langweilig. 
 
UPDATE – Staffel 7
 
Da ist er wieder, der alte Harvey. Die Panikattacken konnten erfolgreich behandelt werden – Paulas tiefenpsychologischer Therapieansatz war also erfolgreich. Leider bedient die Serie dann doch wieder das scheinbar unvermeidliche Klischee von der Affäre zwischen Patient und Therapeutin. Dass es, wie Harvey argumentiert, eine zeitliche Frist gibt, nach der sexuelle Beziehungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen unproblematisch seien, ist in Wahrheit Unsinn. Im Gegenteil: In Deutschland sind sexuelle Kontakte während einer Therapie nach § 174c StGB strafbar und auch nach Beendigung einer Psychotherapie verbieten sich sexuelle Beziehungen aus ethischer Sicht. Die therapeutsiche Beziehung ist durch und durch ungleich: Während sich die Patient*in maximal öffnet und gerade ihre schambesetzten, insuffizienten, verurteilten und bedürftigen Seiten zeigt, nimmt die Therapeut*in eine konsequent zugewandte, um Verständnis und Empathie bemühte Haltung ein, lässt aber ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, Zweifel, Nöte und Neurosen weitgehend außen vor, denn diese gehören in das Privatlegen und ggf. die eigene Selbsterfahrung oder Therapie der Therapeut*in. Dadurch entsteht eine Bezhiehung, die zur Behandlung von Krankheiten hoch funktional sein kann, aber im Bezug auf eine mögliche Liebesbeziehung völlig unrealistische Wünsche und Erwartungen fördert, die nur zu Enttäuschung und schlimmstenfalls Retraumatisierung führen können. 
Leider wird gerade durch die sexuelle Beziehung mit Paula auch der alte Harvey Sprecter etabliert: Die Rolle des Mannes, der doch auch Schwächen und Unsicherheiten hat und sich mit diesen sogar von jemandem helfen lassen muss, ist nur vorübergehend. Harvey, der immer gewinnt, erobert natürlich auch seine Therapeutin und stellt, indem er ihr schließlich das Herz bricht, das gewohnte Machtverhältnis zwischen sich und allen anderen, wieder her.
  
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Mindhunter

Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das ganze schien, wie die typische „FBI jagt durchgeknallten Psychokiller“-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von „Psycho“ (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und „Killer“ (also Kriminalität). 

Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus, der alles was zu unangenehm ist, gerne in den Bereich des pathologischen abschiebt, wie eben auch den Gedanken, dass dieses Unangenehme etwas mit uns selbst zu tun haben könnte. Wenn ein unvorstellbar brutales Verbrechen geschieht, ist der Gedanke, dass so etwas jederzeit und überall durch einen nach Außen hin unauffälligen Mitmenschen geschehen könnte, schwerer zu ertragen, als das Narrativ vom durch und durch gestörten „Psychopathen“, denn letzterer ist wenigstens selten und verkehrt irgendwo, aber sicher nicht in unserem näheren Umfeld. Der „Psychopath“ ist von Grund auf so gestört, dass ihn mit uns selbst scheinbar gar nichts mehr verbindet, so dass sich auch die Fragen nach gesellschaftlichen Ursachen für kriminelles oder sonstwie abweichendes Verhalten und nach Präventionsmöglichkeiten nicht stellen. 
Diese Fragen sind anstrengend. Erstens, weil sie komplex und schwierig zu beantworten sind und zweitens, weil die Antworten, die ggf. doch gefunden werden, mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, die ihrerseits noch anstrengender sein könnten. Deshalb ist neben dem „Psychopathen“ auch der „islamistische Terrorist“ als Täter beliebt, weil er – völlig fanatisch und verwirrt – ebenso außerhalb unserer Alltagswelt zu stehen scheint. 
Dieser Abwehrmechanismus nennt sich Projektion: Gefühle oder Fakten, die für uns unangenehm sind, weil sie mit unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Selbstverständnis schwer vereinbar wären, werden auf andere projiziert, also diesen zugeschrieben. Diejenigen werden dann möglichst weit ausgegrenzt um mit der Distanz zu ihnen auch Distanz zu den unangenehmen Gefühlen und Gedanken herzustellen und uns selbst wieder sicher sein zu können, das mit uns selbst alles in bester Ordnung ist: „Gewalt und Sexismus sind das Problem junger Zuwanderer – deshalb gehören die ja auch nicht hierher. Frauen, die von treusorgenden Familienvätern vergewaltigt werden, waren früher Hexen und mussten verbrannt werden – heute sind sie zumindest ein bisschen selbst schuld, also Schlampen, und müssen mindestens solange geächtet werden, wie sie zu kurze Röcke tragen. Donald Trump ist halt ein Narzisst, wenn er abgewählt oder impeacht wird, ist alles wieder gut.“ Usw., usf.

Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen („weil nicht sein kann, was nicht sein darf“) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.). In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.
Folglich entstehen auch psychische Störungen – wie z.B. die dissoziale Persönlichkeitsstörung, von welcher einige der in Mindhunter interviewten Mörder betroffen sind – durch das Zusammenwirken genetischer und epigenetischer Veranlagungen – welche die Entwicklung einer bestimmten Störung zwar wahrscheinlicher machen, aber noch nicht bedingten – mit sozialen Faktoren, wie z.B. Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung. Dieses Zusammenspiel wird im sogenannten Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) beschrieben. Mit diesem Modell kann man sich die Entwicklung einer Krankheit etwa wie eine Treppe vorstellen, an derem oberen Ende der Ausbruch der Krankheit steht. Die durch genetische und epigenetische Faktoren bedingte Veranlagung (Diathese) bestimmt sozusagen das Ausgangsniveau. Wer bspw. mit einer hohen erblichen Vorbelastung geboren wird, befindet sich bereits zu Beginn einige Stufen weiter oben. Nun kommen im Laufe des Lebens weitere pathogene (krankheitsfördernde) Faktoren (sog. Stressoren) hinzu, z.B. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, oder in anderen Kontexten auch ein ungesunder Lebensstil, Umweltgifte etc., welche die betroffene Person jeweils weitere Treppenstufen nach oben steigen lassen. Werden auf diese Weise im Laufe der Zeit durch Diathese und Stressoren insgesamt genug – bzw. zu viele – Stufen erklommen, wird also der kritische Schwellenwert für die jeweilige Erkrankung erreich, kommt diese zum Ausbruch. 
Auf diese Weise lässt sich erklären, dass ähnliche Lebenserfahrungen bei einer Person z.B. zur Ausbildung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung führen, bei der anderen nicht. Aber auch, dass Menschen mit ähnlicher genetischer Veranlagung (z.B. Geschwister oder gar Zwillinge) sich psychisch und gesundheitlich ganz unterschiedlich entwickeln können. Die große Erkenntnis Holden Fords, die auch für die Psychotherapie und die Präventionsarbeit, ob im Gesundheits- oder Kriminalitätsbereich, sowie wahrscheinlich für die meisten anderen Felder der Beschäftigung mit Menschen, gilt, ist, dass es der sorgfältigen, differenzierten und unvoreingenommenen Betrachtung des einzelnen Individuums bedarf, um wirklich zu verstehen. Offenbar trifft das manchmal auch auf Fernsehserien zu. Ich muss also Abbitte leisten. Mindhunter ist spannend und befriedigt unser Bedürfnis nach Thrill durch die Konfrontation mit dem Grausamen und Bösen – macht dabei aber gerade nicht den Fehler, dieses zu trivialisieren und in den Bereich des im wörtlichen Sinne „un-menschlichen“ zu verdrängen. 

Mehr zu Mindhunter gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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Suicide Squad: Harley Quinn

Zu Suicide Squad ist ja von Kritikerseite bereits alles gesagt. Auch die Geschichte der Psychiaterin, die dem Joker verfällt, derentwegen ich mir den Film, trotz der (zu Recht) vernichtenden Kritiken, angesehen habe, wird nur oberflächlich behandelt.
Was wir dennoch erfahren, ist, dass Dr. Harleen Quinzel, die spätere Harley Quinn, im Arkham Asylum (der legendären forensischen Psychiatrie Gotham Citys) offenbar psychotherapeutische Gespräche mit dem Joker führte, in deren Rahmen sie sich immer mehr in ihn verliebte. Ein beliebtes Motiv, das zeigt, dass die psychotherapeutische Beziehung, ihre Beschaffenheit, Regeln und Grenzen, Autoren nachhaltig interessieren.
In Film und Fernsehen wird die therapeutische Beziehung dem hohen Anspruch, einerseits echte intensive Gefühle und tiefes Vertrauen hervorzubringen und gleichzeitig streng auf die Therapie und deren Ziele begrenzt zu bleiben, oft nicht gerecht. So ergab die Auswertung von über 100 Filmen*, in denen Psychotherapeuten vorkamen, dass diese in 45% der Fälle die Grenzen des therapeutischen Rahmens überschritten. Etwa die Hälfte der Grenzüberschreitungen war sexueller Natur.
In der Realität sind solche schweren therapeutischen Kunstfehler zum Glück seltener, wenngleich sie natürlich vorkommen. Gelingt es, eine gute, konstruktive und tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, ist diese einer der wichtigsten, in manchen Studien sogar der wichtigste Wirkfaktor erfolgreicher Psychotherapien. „Gut“ ist die therapeutische Beziehung dann, wenn Therapeut und Patient sowohl wohltuende, Vertrauen und Sicherheit fördernde Nähe aufbauen, als auch das Geschehen innerhalb und außerhalb der Therapiesitzungen analytisch reflektieren und zwischen diesen beiden Ebenen flexibel hin- und herwechseln können. Um nicht in die Gefahr zu geraten, dauerhaft zu einseitig zu agieren, also sich zum Beispiel zu unreflektiert auf die positiven Gefühle gegenüber dem Patienten einzulassen und sich in Rettungs- oder Liebesphantasien zu verlieren, praktizieren Psychotherapeuten in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit nur unter Supervision erfahrener Kollegen, denen sie regelmäßig über den Therapieverlauf berichten.
Dies scheint Dr. Quinzel versäumt zu haben, weshalb niemand intervenieren kann, als sie sich mehr und mehr in ihren manipulativen Patienten verliebt und diesem schließlich zur Flucht verhilft.
Im Rahmen des Ausbruchs kommt es zu einer eigenartigen Szene: Obwohl Harley dem Joker bereits verfallen und ergeben zu sein scheint, lässt er sie überwältigen und verabreicht ihr Elektroschocks. Es wirkt, als sei der Joker mit der Elektrokrampftherapie (EKT), bei welcher mittels Stromstößen gezielt Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst werden, vertraut.
Vermutlich wurde er ihr selbst in Arkham gegen seinen Willen unterzogen. Indem er nun Harley dasselbe antut, wehrt er das Gefühl des passiven Opfers ab und projiziert es auf Harley, um sich selbst wieder aktiv, stark und wehrhaft fühlen zu können. Es ist einer von mehreren grausamen Akten des Jokers, die alle dazu dienen, Harley zu dem irren, albernen aber auch unheimlichen Freak zu machen, als welcher er selbst von allen anderen gesehen wird.
In unserer Realität wird EKT tatsächlich zur Behandlung schwerer Depressionen und Schizophrenien eingesetzt, wenn psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsversuche erfolglos bleiben. Allerdings nur, wenn der Patient dem zustimmt.
Die durch die elektrischen Impulse ausgelösten Krampfanfälle des Gehirns stoßen dabei dessen Selbstheilungskräfte an, so dass bestimmte Botenstoffe wieder ins Gleichgewicht gebracht und neuronale Verbindungen quasi repariert werden können.
Bei Harley Quinn, die vor der EKT keine psychiatrischen Symptome zeigt, ist diese selbstverständlich absolut kontraindiziert und erwirkt somit auch eine geradezu paradoxe Reaktion: Die EKT löst bei Harley deutliche Symptome einer Manie aus. Diese affektive (= die Stimmung betreffende) Störung, kann sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F30.2) unter anderem äußern durch:
  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Verlust sozialer Hemmungen, unangemessenes Verhalten
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten ohne Risikobewusstsein
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Darüber hinaus kann eine manische Episode mit psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) einhergehen, was Harley andeutet, wenn sie berichtet, Stimmen zu hören oder sich nicht sicher ist, ob es sich bei Enchantress um eine optische Halluzination handelt.
Somit unterscheidet sich Harley, bei aller Liebe und äußerlichen Ähnlichkeit, vom Joker. Während dessen Fröhlichkeit nur Sarkasmus ist, ein Stilmittel, welches seinen Zorn noch grausamer wirken lässt, ist Harleys Stimmung, infolge der Manie, tatsächlich gehoben. Sie genießt weniger die Grausamkeit, als vielmehr die Action um ihrer selbst willen. Während der Joker planmäßig handelt, um andere, meist Batman, zu provozieren, tut und sagt Harley impulsiv wonach ihr ist und hat wenig Gespür und kaum Interesse für die Konsequenzen. Der Joker möchte Angst verbreiten, weil die Gesellschaft ihn verstoßen hat. Darum stiftet er Chaos. Harley kehrt der Gesellschaft den Rücken, weil das Chaos aufregender ist.
Manien verlaufen episodisch (im Gegensatz zu der zeitstabilen und situationsübergreifenden dissozialen Persönlichkeitsstörung des Jokers). Auf manische Phasen mit starker Symptomatik folgen Phasen, in denen die gesunde Grundpersönlichkeit wieder hervortritt, die sich, auch bei Harley Quinn, „normale“ Dinge wünscht: Eine Familie, ein Tässchen Espresso, ein gutes Buch…
*Gharaibeh, N.M. (2005). The psychiatrist’s image in commercially available American movies. Acta psychiatrica Scandinavica, 111(4), 316-319.
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Game of Thrones: Watchers, Wildlings, Whitewalkers

Wie jeder gute Mythos, bietet uns Game of Thrones die Möglichkeit, die großen und kleinen, inneren und äußeren, aktuellen und immer wiederkehrenden menschlichen Konflikte zu beobachten. Deshalb nimmt uns die Geschichte so gefangen, deshalb fühlen wir uns den Figuren so emotional verbunden. Dabei schafft es der Mythos, so zentrale Themen anzusprechen, dass wir uns alle darin wiederfinden können und gleichzeitig durch seine Phantastik und Symbolik so offen zu bleiben, dass er Projektionsfläche für die unterschiedlichsten persönlichen Gefühle und Erfahrungen sein kann. 
 
Am Beispiel der Wall, der Mauer, welche die sieben Königreiche vom namenlosen Gebiet jenseits der Mauer trennt, können wir uns die vielfältige Interpretierbarkeit des Stoffes veranschaulichen. 
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Die Mauer hat den Zweck eine Gruppe von einer anderen Gruppe zu trennen. Es geht also um Sozialpsychologie. Diese Bedeutungsebene ist auch deshalb offensichtlich, weil sie uns dieser Tage vertraut ist. Wieder einmal kommen auch in unserer Welt vielerorts die Ängstlichen und Einfallslosen auf die Idee, soziale Probleme dadurch fern zu halten, dass man die Menschen, welche am stärksten von ihnen betroffen sind, aussperrt.
Genauso in Westeros. Eine diffuse und schwer zu verstehende (Was ist Wahrheit, was Lüge, was Panikmache?) Bedrohung – die weißen Wanderer – soll mit allen Mitteln ferngehalten werden, dabei werden diejenigen ausgesperrt, die der Bedrohung am nächsten sind – die sogenannten Wildlinge. Mit der Zeit werden die Wildlinge zum Synonym der Bedrohung, selbst unter denen, welche gar nicht mehr an die eigentliche Gefahr, die weißen Wanderer, glauben.
Diesen psychischen Abwehrmechanismus nennt man Verschiebung: Die weißen Wanderer sind derart schauderhaft und bedrohlich, dass ein jeder Westerosi fortan nur noch in Angst und Schrecken leben könnte, sobald er sich der Bedrohung in vollem Umfang bewusst wäre. Schlimmer noch, absolute Hilfs- und Hoffnungslosigkeit würden sich breit machen. Das eitle Treiben der machthungrigen Fürsten, der mühsame Alltag des einfachen Volkes – alles drohte in Sinnlosigkeit aufzugehen. 
Die Lösung für einen (vorübergehenden) Seelenfrieden: Die Verschiebung der Angst auf die Wildlinge. Diese sind gerade schaurig genug, aber nicht so übermächtig und mystisch, dass sie nicht durch eine hohe Mauer und ein paar beherzte Grenzer ferngehalten werden könnten.
Die eigene, unerträgliche, rational kaum zu erfassende Angst wird also einer Gruppe von anderen zugeschrieben und in dieser stellvertretend bekämpft. Das sollte uns bekannt vorkommen.
Um aber eine Gruppe von Menschen willkürlich ausschließen und zum Träger allen Übels bestimmen zu können, muss ein weiterer psychologischer Abwehrmechanismus zum tragen kommen: Das Motiv zur Reduktion kognitiver Dissonanz. Als kognitive Dissonanz wird der unangenehme innere Spannungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Teile unseres Denkens, Fühlens oder Handelns nicht mit unseren eigentlichen Grundüberzeugungen konform gehen. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, verändern wir unbewusst unsere Wahrnehmung, um sie wieder stimmig zu machen. So werden die Westerosi, die zufällig nördlich der Linie lebten, auf der willkürlich die Mauer erbaut wurde, zu Wildlingen. Schon dieser Name ist eine Entmenschlichung, in der Konfliktforschung würde man von Opferabwertung sprechen. Für Wildlinge gelten keine Menschenrechte, wer einen Menschen ohne triftigen Grund tötet, muss sich, auch in Westeros, zumindest vor Gericht verantworten. Wildlinge zu töten ist per se eine Heldentat.
So führen die Herrscher von Westeros ihre kleinlichen Kriege und verschließen die Augen, vor der großen gemeinsamen Bedrohung. Die Lösung läge in der Kooperation statt in der Konkurrenz. Im Miteinander, statt im Gegeneinander. Jon Snow hat das erkannt. Aber werden die Mächtigen seiner Welt ihm zuhören?
Damit verlassen wir die sozialpsychologische Ebene und wenden uns der individuellen Interpretationsebene und hier der Tiefenpsychologie zu. Denn wir können die Mauer auch als tiefenpsychologische Metapher verstehen. Als Sinnbild für die innere Verdrängung des Unheimlichen. Mit der Psychologie des Unheimlichen hat sich bereits der Urvater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, befasst. Seiner Beobachtung nach, entsteht das Gefühl des Unheimlichen, wenn unerwartet etwas in unser Bewusstsein vordringt, das wir entweder verdrängt, oder nur vermeintlich und unvollständig rational überwunden haben.
Hinter der Mauer in Game of Thrones lauern weiße Wanderer und Untote, die wir, in beiderlei Hinsicht, als Inbegriff des Unheimlichen verstehen können. Konfrontieren sie uns doch sowohl mit unserer Angst vor Geistern und Halbwesen, die wir längst rational überwunden glaubten, die uns aber im mystischen Halbdunkel einer Game of Thrones-Episode gleichwohl heimzusuchen vermag. 
Als auch mit dem Tod an sich, dessen wir uns in seiner Unausweichlichkeit zwar rational bewusst sind, den wir jedoch die meiste Zeit unseres Lebens gekonnt verdrängen, um nicht in Angst und Verzweiflung zu erstarren, sondern unser Leben so leben zu können, als seien wir Herr über unser Schicksal. 
Wenn in Gegenwart des Todes, oder der Nacht als seines Sinnbilds, die Verdrängung brüchig wird, suchen wir Trost und Versicherung im Gebet: „Night gathers, and now my watch begins…“
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Flesh and Bone: Claire

Das Titelbild der Starz-Miniserie zeigt eine dünne, fast nackte Tänzerin in düsterer, ebenso fast nackter Umgebung. Der Titel lautet Flesh and Bone. Setting ist das Ballett. Man muss nicht allzu kreativ sein, um sich auszumalen, dass es um Leistungsdruck, Selbstwertprobleme, Essstörungen und sexuellen Missbrauch gehen wird. 
Und – so die Erkenntnis nach den ersten beiden Folgen – so ist es dann auch.
Anders als in der parallel laufenden, heiteren Amazon-Serie Mozart in the Jungle, wo Leistungsdruck und Selbstausbeutung der New Yorker Symphoniker immer wieder durch die Liebe zur klassischen Musik und die auf dieser gemeinsamen Basis entstehenden Begegnungen und Beziehungen belohnt werden, ist der Ballettbetrieb in Flesh and Bone ein feindseliger und traumatisierender Ort, an dem jeder (mehr oder weniger erfolgreich) für sich selbst und (meist weniger erfolgreich) gegen die eigenen Dämonen kämpft.
Diese Dämonen sind Selbstzweifel, Versagensängste, Essstörungen, Drogensucht und Traumata. Schon in der ersten Folge erfahren wir, dass Claire wiederholt sexuell missbraucht wurde – und zwar von ihrem Bruder. Wie viele (aber, entgegen mancher Darstellung nicht alle) Opfer sexuellen Missbrauchs, zeigt Claire Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). 
Sie war, was die Grundvoraussetzung ist, einem Erlebnis von außergewöhnlicher emotionaler Belastung ausgesetzt. Da sich dieses Erlebnis über einen längeren Zeitraum immer wieder wiederholt hat, spricht man von einem Typ-II-Trauma (im Gegensatz zum Typ-I-Trauma, bei dem der Auslöser ein einzelner Vorfall von katastrophalem Ausmaß, z.B. ein Gewaltverbrechen oder eine Naturkatastrophe ist).
Das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln ist besonders hoch bei Typ-II-Traumata, die durch nahestehende Personen ausgelöst werden, wobei es sich meist um körperliche Gewalt, psychischen oder eben sexuellen Missbrauch handelt. Das erhöhte Erkrankungsrisiko ergibt sich vermutlich daraus, dass den Betroffenen oft Mitverantwortung und Schuldgefühle vermittelt werden, die Gefühle gegenüber dem Täter widersprüchlich sein können, sie sich aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Strafe und Stigmatisierung keine Hilfe holen oder das Erlebte durch andere Bezugspersonen infrage gestellt, bagatellisiert oder verheimlicht wird.

Claires posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Form der folgenden, charakteristischen Symptome:

  • Sie erlebt eine starke innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen. Am offensichtlichsten ist dies bei Kontakt zu ihrem Bruder, dem Täter. Aber auch in anderen Situationen, in denen sich ihr Männer ungefragt oder unerwartet körperlich annähern, wie zum Beispiel ihr Tanzlehrer, Tanzpartner oder der Hauptsponsor des Balletts, fühlt sie sich sichtlich sehr unwohl.
  • Folglich versucht sie, entsprechende Situationen zu vermeiden. Sie bleibt gegenüber Männern distanziert und scheint keine Freude daran zu haben, sich verführerisch zu kleiden oder zu flirten.
  • Sie zeigt deutliche Symptome chronisch erhöhter psychischer Erregung, wie Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit) und Schreckhaftigkeit (insbesondere bei Berührungen und im Kontakt mit Männern) sowie Einschlafstörungen.
Drei weitere Aspekte von Claires posttraumatischer Belastungsstörung sind zwar für die Diagnosestellung nicht erforderlich, aber dennoch interessant genug, um eigens thematisiert zu werden.

1. Claire verletzt sich selbst. Selbstverletzendes Verhalten (häufig in Form von Ritzen mit Rasierklingen oder Verbrennen mit Feuerzeugen oder Zigaretten) kann infolge sexuellen oder psychischen Missbrauchs auftreten. Claire schlägt sich mit ihrem Ballettschuh auf den Fuß und das immer in Situationen, die direkt oder indirekt mit ihrem Trauma zu tun haben, nämlich bei Kontakt zu ihrem Bruder, oder wenn sie beispielsweise von ihrem Tanzlehrer erniedrigt wurde, was die alten Scham- und Schuldgefühle reaktualisiert haben dürfte. Dabei scheint die Selbstverletzung den Effekt zu haben, dass intensive der physische Schmerz für einige Momente die noch schlimmeren Gedanken und Gefühle verdrängt und die Situation dadurch erträglicher macht.

2. Claire behandelt ihre Einschlafstörungen indem sie ihren ganzen Körper mit Büchern beschwert. Wie oben beschrieben, sind Schlafstörungen ein typisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Claires Behandlungsmethode ist dagegen eher ungewöhnlich, gleichwohl aber kreativ und scheint für sie gut zu funktionieren. Sie bedient sich dabei (vermutlich ohne dies zu wissen) des therapeutischen Effekts, dass das Gefühl von Schwere mit muskulärer Entspannung assoziiert ist und somit zunächst körperliche und in der Folge auch psychische Entspannung fördern kann. Therapieverfahren die diesen Effekt ebenfalls nutzen sind zum Beispiel die Schwereübung im Autogenen Training oder der Einsatz von Sanddecken in der Körpertherapie.

3. Claire wird als Balletttänzerin ständig retraumatisiert. Ohne dies bewusst zu beabsichtigen, setzt sie sich immer wieder Situationen aus, die mehr oder weniger deutlich an ihre traumatische Missbrauchserfahrung erinnern. Als Tänzerin ist sie Objekt sexueller Begierde, wird auf ihre Physis reduziert, die Persönlichkeit ist uninteressantes oder gar störendes Beiwerk. Ihr Körper wird entblößt, öffentlich zur Schau gestellt, kritisch bewertet, ungefragt angefasst und erbarmungslos geschunden. Dennoch setzt sie alles daran, Tänzerin zu sein und zu bleiben. Psychologen sprechen hierbei von Reinszenierung oder auch von Wiederholungszwang.

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Zum einen ist denkbar, dass Claire durch die ständige Konfrontation mit diesen für sie so unangenehmen Erfahrungen ein hohes Erregungsniveau aufrecht erhält und somit unbewusst verhindert, dass in ihrem Bewusstsein Raum für die Erinnerung an ihr ursprüngliches Trauma und damit für die noch unangenehmeren Gefühle und Gedanken entsteht.

Ein alternativer Erklärungsansatz wäre ein unbewusster Wiedergutmachungswunsch: Claires ursprüngliche Traumatisierung ist geschehen und nicht mehr aus ihrer Lebensgeschichte zu löschen. Indem sie immer wieder Situationen aufsucht, die zwar ähnlich sind, aber im Hier und Jetzt stattfinden, wo sie sich, zumindest theoretisch, verteidigen oder innerlich stärker abgrenzen könnte, versucht sie unbewusst, eine bessere Erfahrung zu machen, sich selbst nicht als Opfer, sondern wehrhaft und stark zu erleben und somit ihre früheren Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Scham zu überwinden.

Die Tragik besteht darin, dass Claire dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, wodurch sie immer wieder von ihrer eigenen Reinszenierung überrascht wird, unvorbereitet in für sie bedrohliche Situationen gerät und ihre alten Wunden umso mehr schmerzen.

Und siehe da: Auf einmal verstehen wir doch, warum Claire sich all dem aussetzt. Warum sie tanzt und tanzt, hinfällt und weitertanzt, als ginge es um ihr Leben. Es geht tatsächlich darum, ob ein neues Leben, auch und gerade mit den alten Wunden, möglich ist. Man darf gespannt sein, wie der Tanz auf Messers Schneide endet.


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Minderwertigkeit & Allmacht in Transcendence

In Transcendence wird aus dem zunächst ganz sympathischen Wissenschaftler Dr. Will Caster eine Art virtueller Übermensch, dessen einziger Antrieb die Ausweitung seiner eigenen Macht zu sein scheint. 

Das Streben nach Macht wurde von dem Psychoanalytiker Alfred Adler als kompensatorische Reaktion auf ein jedem Menschen, in unterschiedlichem Maße, eigenes Minderwertigkeitsgefühl erklärt. Das Ausmaß des Minderwertigkeitsgefühls wird durch den Vergleich der eigenen Qualitäten mit denen der Mitmenschen geprägt. Da Kleinkinder in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten zunächst allen anderen Menschen um sie herum unterlegen sind, macht jeder Mensch zu Beginn seines Lebens Erfahrungen von Unterlegenheit und Abhängigkeit, welche die Basis späterer Minderwertigkeitsgefühle darstellen.
Nach Adlers Theorie gibt es zwei mögliche Abwehrmechanismen gegen das latent allgegenwärtige Minderwertigkeitsgefühl:
  • Wer sich selbst als Teil einer Gemeinschaft und die Beziehungen innerhalb dieser Gemeinschaft als helfend, wohltuend und stabil erlebt, kann die eigenen Unvollkommenheiten durch Beziehungen zu anderen Menschen kompensieren. Er wird die eigenen Schwächen akzeptieren und die Stärken der anderen als hilfreiche Ergänzungen annehmen und begrüßen können. Dieses Erleben nannte Adler Gemeinschaftsgefühl.
  • Wer von anderen nicht die Anerkennung und Unterstützung bekommt, die nötig sind, um das eigene Minderwertigkeitsgefühl kompensieren und aushalten zu können, der wird sich durch deren Fähigkeiten und Stärken umso mehr minderwertig und bedroht fühlen. Er wird vor allem nach Macht als Mittel zur Überhöhung über andere und somit zur Bekämpfung des eigenen Minderwertigkeitsgefühls streben.
Will Caster ist zweifellos intellektuell hochbegabt, ansonsten aber eher ein Durchschnittstyp. Blass und hager verbringt er sein Leben im Labor, ist sozial unsicher und unbeholfen und an gesellschaftlichen Entwicklungen, Ansehen, Freizeitgestaltung und Unterhaltung offenbar wenig interessiert. Was sein Leben lebenswert macht, ist die Beziehung zu seiner schönen und ebenfalls ziemlich intelligenten Frau Evelyn.
Zu diesem Zeitpunkt hält Will sein Minderwertigkeitsgefühl noch durch eine recht ausgewogene und funktionale Balance aus Gemeinschaftsgefühl (mit Evelyn) und Machtstreben, in Form wissenschaftlicher Erkenntnis, welche zu diesem Zeitpunkt für ihn noch Selbstzweck (eben zur Erhöhung seines Selbstwertgefühls) ist, in Schach.
Dann jedoch wird er tödlich verwundet und erfährt, trotz all seines Wissens, vollständige Machtlosigkeit. Das schlimmste am Sterben ist für ihn, der im Leben nur an wenigem Freude hatte, dass der Tod auch die ultimative Trennung von Evelyn bedeutet.
Dank Wills genialer technischer Errungenschaften, bleibt es für ihn jedoch zunächst nur bei der Befürchtung all dessen und er bekommt die Chance, als virtuelles Wesen weiter zu existieren. Doch die vorübergehende Machtlosigkeit, das Wissen darum, um ein Haar alles für ihn Bedeutsame verloren zu haben, haben sein latentes Minderwertigkeitsgefühl manifest und übermächtig werden lassen. Fortan betreibt er seine beiden zuvor adäquaten Abwehrmechanismen exzessiv und unbarmherzig. Er versucht Evelyn mit allen Mitteln an sich zu binden und opfert seinem Willen zur Macht (durch Wissen) nach und nach Prinzipien, Bürgerrechte, Menschenrechte und schließlich auch Menschenleben.
Am Ende wendet sich Evelyn gegen ihn, wodurch er gezwungen wird, sich zwischen der Beziehung zu ihr (als freies und autonomes, durchweg menschliches, Wesen) und seiner nahezu vollkommenen Macht zu entscheiden. 
Will wählt schließlich die Menschlichkeit, mit allen Konsequenzen. Er nimmt die Sterblichkeit – und damit das Minderwertigkeitsgefühl – in Kauf und opfert seine Macht dem Gemeinschaftssinn. Ob die virtuellen Supermächte unserer Lebensrealität sich daran ein Beispiel nehmen…? 
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Howard Wolowitz & Barney Stinson

Wenn Howard Wolowitz aus The Big Bang Theory Barney Stinson aus How I Met Your Mother kennen würde, wäre dieser wohl sein Vorbild. Ein reicher Playboy mit scheinbar grenzenlosem Selbstvertrauen, dessen verwegene Verführungsstrategien ihn in die Betten zahlloser schöner Frauen gebracht haben.
Was die beiden, neben diesem Männlichkeitsideal, gemeinsam haben, ist die Tatsache, dass sie ohne Vater aufgewachsen sind. Auch gab es keine Stiefväter oder andere väterliche Ersatzfiguren. Howard ist alleine mit seiner Mutter aufgewachsen, Barney mit seiner Mutter und seinem nicht wesentlich älteren Halbbruder.
Howard und Barney blieben in der Kindheit ihre Mütter als einzige erwachsene Bezugspersonen. Zu Beginn des Lebens ist jedes Kind von seiner Mutter abhängig, die sein Überleben sichert, indem sie Nahrung, Wärme und Nähe spendet. Darüber hinaus lieben die meisten Mütter ihre Babys abgöttisch.
Sowohl die vollkommene Versorgung, als auch die bedingungslose Liebe, sind für ein Kind zunächst existenziell notwendig. In der weiteren Entwicklung ist es aber ebenso wichtig, dass das Kind lernt, sich physisch und emotional zunehmend selbst zu versorgen und auch die eigenen Grenzen und Schwächen kennenzulernen, um schließlich zu einer realistischen Einschätzung der eigenen Fähigkeiten zu gelangen.
Diese Funktion fällt häufig dem Vater zu, der in den ersten Lebensmonaten nach und nach an Bedeutung gewinnt. Man nennt diesen Vorgang des Hinzutretens des Vaters in die ursprünglich dyadische Mutter-Kind-Beziehung Triangulierung. Durch die Erweiterung der Zweier- in eine Dreierbeziehung, kommt es zum sogenannten Ödipuskomplex (nach der griechischen Sage von Ödipus, der unwissentlich seinen Vater ermordete und seine Mutter heiratete): Der Sohn möchte die Mutter, den bisherigen Dreh-und-Angelpunkt seiner Existenz, weiterhin für sich alleine haben und beginnt mit dem Vater um ihre Liebe zu konkurrieren. Ist die Beziehung der Eltern intakt, muss der Sohn erleben, dass die Mutter ihrerseits eigene Liebesbedürfnisse an den Vater hat und er mit dessen Männlichkeit nicht mithalten kann. Allerdings bietet der Vater auch die Möglichkeit an, sich durch die Hinwendung zu ihm ein Stück weit aus der existenziellen Abhängigkeit von der Mutter zu befreien. Orientiert sich der Sohn an seinem Vater, kann er lernen, was es heißt ein Mann zu sein, welche Stärken und Schwächen das mit sich bringt, wie man diese realistisch einschätzen und zielführend einsetzen kann. Die Niederlage im Konkurrenzkampf mit dem Vater erschließt dem Sohn den Zugang zu einer weiteren bedeutsamen Beziehungs- und Identifikationsfigur. Gelingt diese erste Triangulierung, wird der Ödipuskomplex bewältigt und der Sohn gewinnt die Fähigkeit, Rückschläge und Kränkungen zu verkraften, sich selbst realistisch einzuschätzen, sich in Gruppen zurechtzufinden und ein gesundes Mittelmaß zwischen der Durchsetzung eigener Bedürfnisse und dem Respekt vor denen anderer zu entwickeln.
All das gelingt Howard und Barney nicht. Beide phantasieren sich ein einseitiges, idealisiertes und völlig unrealistisches Männerbild zusammen, wahrscheinlich geprägt von medialen Klischees (wie dem Showmaster, den Barney für seinen Vater hält und den Superhelden, die Howard verehrt) und müssen ständig hart und immer wieder vergeblich darum kämpfen, dieses selbst zu erfüllen.
Gleichzeitig bleiben beide in der kindlichen emotionalen Abhängigkeit von ihren Müttern gefangen, was wiederum mit dem eigenen Selbstbild als Super-Mann völlig unvereinbar ist. Mit diesem Widerspruch gehen die beiden unterschiedlich um:
Barney idealisiert seine Mutter und blendet alle ihre negativen und amoralischen Seiten vollständig aus. Da er ihr absolute Reinheit und Sittlichkeit zuschreibt, geht er davon aus, dass sie diese auch von ihm erwartet und spielt ihr seinerseits ein klischeehaft heiles Familienleben vor.
Den Zorn darüber, sich noch immer von ihrem Urteil abhängig zu fühlen, das Minderwertigkeitsgefühl angesichts des eigenen Scheiterns an ihren (vermeintlich) hohen moralischen Ansprüchen und die Scham über ihren (von Barney unbewusst erahnten) liederlichen Lebenswandel, agiert Barney kompensatorisch an allen anderen Frauen aus, indem er diese verletzt, manipuliert und zu entmenschlichten Trophäen macht. Man nennt diesen Abwehrmechanismus Spaltung und er tritt nicht selten bei Männern mit ungelöstem Ödipuskonflikt auf, die, wie Barney, die Frauenwelt radikal in Huren und Heilige aufspalten.
Während Barney es durch Spaltung schafft, sich zumindest äußerlich von seiner Mutter abzulösen, bleibt Howard auch physisch im Einflussbereich der seinen gefangen. Vielleicht, weil er in der Betäubung der eigenen Selbstzweifel durch Männlichkeitsrituale (One Night Stands, Geldverdienen und jeder Art von Wettbewerb) so viel weniger erfolgreich ist, als Barney. Die Welt außerhalb des mütterlichen Heims ist für ihn tatsächlich härter und verletzender. Das Gefühl des Säuglings, ohne die Mutter ein Nichts zu sein, ist in seinem Leben deutlicher präsent, wenngleich es unbewusst auch Barney um- und antreibt.
Da es Howard nicht gelingt, seine Mutter zu verlassen, kann er sie auch nicht aus sicherer Distanz idealisieren. Vielmehr bringen ihn ihre ständige Einmischung und die Tatsache, dass er selbst zu schwach ist, sich gegen diese abzugrenzen, andauernd zu Weißglut.
Eine ähnliche Ambivalenz (Abhängigkeit vs. Abneigung) dürfte auch seine Mutter quälen: Einerseits ist sie enttäuscht darüber, dass ihr Sohn ein undankbares und verwöhntes Muttersöhnchen geblieben ist, andererseits scheint sie große Angst davor zu haben, dass er sie eines Tages doch verlassen könnte (wie es sein Vater bereits getan hat), was für sie, als körperlich unattraktive und sozial äußerst ungeschickte Person, wohl ein Leben in völliger Einsamkeit bedeuten würde. So können Howard und seine Mutter nicht ohne-, aber auch nicht gut miteinander, führen das Leben eines zänkischen alten Ehepaares und geben jeweils dem anderen die Schuld dafür.
Die Lösung für Barneys und Howards Probleme mit dem Mann-Sein erscheint, oh Wunder, in Frauengestalt: Robin ist weder Hure noch Heilige. Sie bietet Barney die Stirn, gibt ihm Raum für seine wahren, sentimentalen Gefühle, schätzt und teilt aber auch einige seiner forciert männlichen Marotten.
Der (innerlich und äußerlich) kleine Howard darf sich bei der (äußerlich) noch kleineren Bernadette als ganzer Kerl fühlen, die zudem (innerlich groß und stark) an seiner statt seine übergriffige Mutter in die Schranken weist.
Also, Ende gut, alles gut?
Oder hat Tyler Durden aus dem Film Fight Club recht: „Wir sind eine Generation von Männern, die von Frauen groß gezogen wurde. Ich frage mich ob noch eine Frau wirklich die Antwort auf unsere Fragen ist“?


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Star Trek: Spock & Kirk

Die Star Trek Filme von J. J. Abrams, Star Trek (2009) und Star Trek Into Darkness (2013), rücken das Kennenlernen und die beginnende Freundschaft der beiden Hauptcharaktere Captain James T. Kirk und Commander Spock in dem Mittelpunkt der Handlung.

Wenngleich die beiden eigentlich viel gemeinsam haben (Stolz, beruflicher Ehrgeiz, Verlust eines Elternteils, Schwäche für Lieutenant Uhura…), wird vor allem ihr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Umgang mit Emotionen thematisiert und sorgt immer wieder für Diskussionen und Konflikte zwischen beiden.

Spock, der halb Mensch, halb Vulkanier ist, wurde nach vulkanischem Brauch erzogen. Wie wir von Spocks Vater lernen, haben Vulkanier nicht etwa keine oder weniger Emotionen als Menschen, sondern im Gegenteil, viel stärkere. Durch Wissen und Logik versuchen sie, ihre Emotionen zu kontrollieren, um nicht von ihnen kontrolliert zu werden. Die Indoktrination mit der vulkanischen Philosophie beginnt von klein auf, sodass Spock niemals lernte, Emotionen wahrzunehmen, zu differenzieren oder zu regulieren, sondern nur, sie radikal zu unterdrücken.

Diesen, von den Vulkaniern angestrebten Zustand kennt die Psychologie als psychopathologisches Symptom mit dem Namen Alexithymie, was so viel bedeutet wie Unfähigkeit zum Gefühlsausdruck.
Alexithymie kommt durch Verdrängung zustande. Verdrängung wiederum ist ein psychischer Abwehrmechanismus, mit dem sich das Ich vor unaushaltbaren Emotionen schützt, indem diese ins Unbewusste verdrängt werden. Verdrängung kann komplette Erinnerungssequenzen, z. B. traumatische Erlebnisse, betreffen, oder auch nur die Gefühle, die mit einem Erlebnis verknüpft sind. Im letzteren Fall spricht man auch von Affektisolierung. Diese liegt der Alexithymie zugrunde, bei der die Personen zwar über schmerzhafte Erlebnisse berichten können, aber scheinbar ohne emotionale Beteiligung.
Am Beispiel von Spock, der den Prozess der Verdrängung, welcher beim Menschen in der Regel unwillkürlich und unbewusst abläuft, aktiv trainiert und praktiziert, können wir beobachten, dass Verdrängung nicht mit vollständigem Vergessen oder Löschen gleichzusetzen ist. Spocks Emotionen (sowohl die aktuellen, wie auch die Erinnerungen an vergangene, besonders schmerzhafte) sind in den Tiefen seines Bewusstseins weiter vorhanden und können unvermittelt hervorbrechen, zum Beispiel wenn er provoziert wird.

Es wird deutlich, dass die Verdrängung von Gefühlen und die Fokussierung auf Logik und Rationalität Spocks Leistung im beruflichen Alltag verbessert und ihm dadurch kaum Fehler unterlaufen. 
Diese funktionale Komponente macht den psychischen Abwehrmechanismus der Verdrängung auch für uns Menschen so wichtig, da er uns ermöglicht, rational, konsequent und zielorientiert Leistung zu erbringen, wenn es sein muss, und unseren Affekten und Impulsen nicht ständig ausgeliefert zu sein.
Dies ist jedoch auf Dauer anstrengend und wenn es nicht gelingt, Ventile für die (vorrübergehend) verdrängten Gefühle zu schaffen (Genuss, Spiel, Entspannung, oder die bewusste Auseinandersetzung mit ihnen – aus vulkanischer Sicht allesamt unlogisch…), steigt der innere Druck und kann, wie bei Spock, zu umso heftigeren spontanen Gefühlsausbrüchen kommen, oder, wie häufig bei alexithymen Patienten, zu körperlichen Symptomen und Schmerzen infolge der psychischen Anspannung.

Darüber hinaus unterschätzt Spock die soziale Funktion von Emotionen. Seine radikale Affektisolierung, macht ihn für sein (menschliches) Umfeld suspekt, für Rivalen (Kirk) und Feinde (Khan) berechenbar und für seine Freundin (Uhura) unnahbar. Indem er den Kontakt zu seinen Gefühlen blockiert, trennt er die Verbindung zu seinen Mitmenschen, die zu großen Teilen auf emotionsbasierter verbaler und nonverbaler Kommunikation beruht.
Erst als er anfängt zu seinen Gefühlen zu stehen und sie zunehmend zuzulassen wird er von den Seinen akzeptiert (offenbar auch von den Vulkaniern, denn schließlich wird er später deren Botschafter) und kann seine Feinde besiegen.

Wenn Spock (zunächst) das Extrem von Logik, Besonnenheit und der Unterdrückung von Gefühlen verkörpert, stellt Kirk in diesem Punkt seinen diametralen Gegenpol dar. Rationalität und Reflektion sind seine Sache nicht. Häufig handelt er, anstatt nachzudenken und hört dabei auf sein Bauchgefühl.
In Ausnahmesituationen und angesichts scheinbar übermächtiger (aber selbst nicht rational handelnder) Gegner und aussichtsloser Lagen, hat er damit, dank maximalen Einsatzes, hohen Risikos und des Überraschungsmoments oft Erfolg.
Allerdings ist auch er in seinem Verhalten wenig flexibel und zeigt daher auch im Alltag ein von Emotionalität und Impulsivität geprägtes Verhalten, welches ihn hier wiederholt in beträchtliche Schwierigkeiten bringt.

Es entsteht der Eindruck, dass Kirk Emotionen nicht nur nicht vermeidet, sondern im Gegenteil vielmehr ständig auf der Suche nach möglichst intensiven Erfahrungen und Gefühlen ist. Er ist das, was die Psychologie einen Sensation Seeker nennt. Ebenso wie bei der Alexithymie handelt es sich bei Sensation Seeking nicht um eine Krankheit, sondern um eine Verhaltenstendenz, die, je nach Ausprägung, mehr oder weniger Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionalität und des Wohlbefindens mit sich bringen kann.

Sensation Seeking kann sich beispielsweise anhand folgender Verhaltensweisen äußern:

  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren etc.
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. durch einen nonkonformistischen Lebensstil
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. durch promiskuitives Verhalten oder Rauschmittel
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten


Kirk hatte bereits als Kind ein Faible für schnelle Autos und Regelübertretungen. Er pflegt ganz und gar nicht den Lebensstil, der allgemein für einen Sternenflottenoffizier als angemessen erachtet wird. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt mit Saufen, Kneipenschlägereien und sexuellen Affären mit möglichst exotischen Geschöpfen anderer Spezies. Die Aussicht, bei irgendeinem gefährlichen Einsatz nicht an vorderster Front mitzumischen, scheint für ihn nahezu unerträglich zu sein.

Die Tendenz zum Sensation Seeking ist wahrscheinlich überwiegend genetisch determiniert. Sensation Seeker haben an sich ein eher geringes Grunderregungsniveau (im Gegensatz also zu Vulkaniern!) und benötigen daher starke äußere Reize, um ein angenehmes Maß an Stimulation zu empfinden (sonst drohen Unterforderung und Langeweile).

Hinzu kommt, dass Kirk ohne seinen Vater, dafür aber in dessen übermenschlich heldenhaftem Schatten aufgewachsen ist. Damit ist er von klein auf zum Heldentum verdammt, Mittelmaß und Normalität sind gleichbedeutend mit Versagen.
Dieser narzisstische Konflikt, der Beste sein zu müssen, oder sich als Versager zu fühlen, treibt Kirk beständig dazu an, Rekorde zu brechen, das Unmögliche zu versuchen, sich über Regeln und Wahrscheinlichkeiten hinwegzusetzen.
Da er als Kind nur eine Heldenschablone, aber keinen echten Vater hatte, der ihm Anleitung gab und Grenzen setzte, empfindet er, der zu Großem Geborene, das später fast immer als Kränkung und hat ständig Schwierigkeiten mit Autoritäten.
So ist Kirk mit seinem Alltag als Mitglied eines hierarchischen Militärapparates chronisch überfordert, während er in Ausnahmesituationen, welche die meisten Menschen vor Angst lähmen würden, zu Hochform aufläuft.

Der Streit zwischen Kirk und Spock darüber, ob der Weg des Bauchgefühls oder der Logik der bessere ist, bleibt letztlich unentschieden. Wichtiger scheint zu sein, dass sich beide im selben Moment der Grenzen ihrer jeweiligen Strategien bewusst werden: Als der Macher Kirk (am Ende von Star Trek Into Darkness) alles ihm Mögliche getan hat und alle retten konnte, außer sich selbst, wird er sich seiner Sterblichkeit und der Tatsache bewusst, dass er doch nicht über allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit steht und er bekommt, vermutlich erstmals seit langem, bewusst Angst. Von Spock, dessen Rationalismus sich über die Niederungen der menschlichen Gefühle erhoben zu haben scheint, will er wissen, wie man es schafft keine Angst zu empfinden, doch Spock muss in ebendiesem Moment erkennen, dass er gegen die Angst um seinen Freund, zu dem er nur unfreiwillig eine emotionale Bindung aufgebaut hat, ebenso machtlos ist.

In diesem Sinne können wir die Freundschaft zwischen Spock und Kirk und die Veränderung der beiden durch ihre Freundschaft, als Hinweis zum Umgang mit der uns allen eigenen, innerpsychischen Dialektik von Denken und Fühlen, von Verdrängen und Annehmen, von Reflektieren und Agieren sehen.

Es geht, könnten uns die Filme sagen wollen, nicht darum, die eine Position zugunsten der anderen gänzlich aufzugeben, so wie Kirk und Spock zunächst versuchen, über den jeweils anderen zu triumphieren und ihn so von der Überlegenheit des eigenen Ansatzes zu überzeugen. 
Vielmehr liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, die Stärken beider Ansätze zu nutzen, ihre Grenzen anzuerkennen und sie situationsangemessen bestmöglich komplementär einzusetzen. Faszinierend!

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The Big Bang Theory: Raj



Der Astrophysiker Dr. Rajesh „Raj“ Koothrappali kann nur mit Frauen sprechen, wenn er betrunken ist, oder denkt, es zu sein. Ausnahmen sind enge Verwandte, wie seine Mutter und seine Schwester. 

Eine selektive Sprachhemmung in bestimmten Situationen wird im ICD-10 als elektiver Mutismus (F94.0) bezeichnet und ist durch folgende Kriterien definiert: 
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Dauer des elektiven Mutismus länger als vier Wochen
  • Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor
  • Sprachausdruck und Sprachverständnis liegen im altersentsprechenden Normalbereich.
  • Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in den sozialen Situationen erwartet wird
Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen, nämlich gegenüber Frauen, zu sprechen, als Kernmerkmal der Störung, ist bereits genannt. Die Symptomatik dauert bereits deutlich länger als vier Wochen an, wahrscheinlich schon immer. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die ebenfalls die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigen kann, liegt nicht vor. Als solche gilt unter anderem das Asperger-Syndrom (F84.5) unter dem Sheldon Cooperleidet.
Rajs sensorische und motorische Sprachfähigkeit ist altersgemäß, nämlich vollständig, ausgebildet und obwohl er einen indischen Akzent hat, spricht er gut genug Englisch, um sich in angstfreien Situationen adäquat zu verständigen. Die dem Mutismus zugrunde liegende Störung ist in Rajs Fall eine soziale Phobie (F40.1):
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten oder Zittern etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Die gefürchtete Situation ist für Raj eben das Sprechen mit Frauen, insbesondere dann, wenn diese, zumindest theoretisch, als Sexual- und Beziehungspartnerinnen in Frage kommen.
Die Gestaltung sozialer Beziehungen wird grundlegend geprägt durch die ersten wichtigen Beziehungspersonen. Dies sind in der Regel zunächst die Eltern. Rajs Eltern sind in Indien erfolgreich und hoch angesehen und offenbar legen sie großen Wert auf Etikette und Tradition. Mit Rajs Beruf als Astrophysiker und vor allem mit seinem Gehalt, sind die Eltern unzufrieden, vermutlich hätten sie sich gewünscht, dass er in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters tritt und Gynäkologe wird. Die Mutter ist überaus bestimmend, drängt Raj, sich baldmöglichst zu verheiraten, wobei sie klare Vorstellungen von einer standesgemäßen Ehefrau hat und amerikanische Frauen pauschal ablehnt.
Wir sehen: Raj kann es seinen Eltern kaum recht machen. Da familieninterne Beziehungsdynamiken häufig sehr stabil sind, liegt es nahe, dass Raj bereits mit hohen Erwartungen und unverhohlener Enttäuschung seiner Eltern aufgewachsen ist.
Es scheint als habe er sich vor den überhöhten Anforderungen immer wieder geflüchtet: Zunächst in die Fantasiewelt von Comics und Science Fiction, später, im Studium, in die Betrachtung der unendlichen Weiten des Weltraums und schließlich, als sich die Gelegenheit bot, in die USA.
Doch auch am anderen Ende der Welt (und auch wenn seine Eltern nicht regelmäßig per Videochat Kritik an ihm üben und ihn mit seiner finanziellen Abhängigkeit zu beeinflussen versuchen würden) kann Raj dem Selbstbild, welches seine Eltern ihm über Jahre hinweg vermittelt haben, nicht entfliehen: Ständig zweifelt er daran, liebenswert zu sein und wird von der Angst heimgesucht, auf ewig einsam bleiben zu müssen.
Da eine solche Angst nur schwer auszuhalten ist, muss sie immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden, damit Raj überhaupt in der Lage ist, sich auf die Bewältigung seines alltäglichen Lebens zu fokussieren und nicht in Verzweiflung zu versinken. Den psychischen Mechanismus, durch den schwierige emotionale oder kognitive Inhalte ins Unbewusste verdrängt werden, nennt man Abwehr. Der spezifische Abwehrmechanismus, der in Rajs Fall zum Tragen kommt, heißt Verschiebung. Die globalen Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle werden auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt verschoben, um in anderen Situationen freier und sicherer agieren zu können. Allerdings geht damit eine potenzierte phobische Angst vor der Situation bzw. dem Objekt einher, auf welches all die Ängste und Befürchtungen verschoben worden sind.
Hierfür findet die Psyche oft Objekte, welche bereits mit einer gewissen Angst besetzt sind, z.B. Spinnen oder Schlangen, welchen gegenüber der Mensch, aufgrund ihrer potentiellen Giftigkeit, eine evolutionär determinierte Prädisposition zur Angst aufweist (welche man Preparednessnennt).

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rajs Ängste sich auf Frauen und die Beziehungsaufnahme mit ihnen konzentrieren: Rajs erste und bisher wichtigste weibliche Bezugsperson war seine Mutter, welche ihn im Laufe seines Lebens immer wieder kritisiert, beschämt und gekränkt hat und ihn sich ständig unzureichend fühlen lässt.
Ähnlich verhält sich sein Vater. Dieser ist außerdem Gynäkologe, also ein wahrer Frauenkenner, gegen den Rajs erste, unbeholfene Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen, diesem besonders unbeholfen und beschämend erschienen sein müssen.
Somit bezieht sich Rajs phobische Angst vor Frauen gar nicht auf diese selbst, sondern stellt vielmehr einen neurotischen Kompromiss dar, welcher es ihm ermöglicht, trotz großer Selbstzweifel, Schamgefühle und Versagensängste ein weitgehend unbeeinträchtigtes und in einigen Bereichen sogar recht erfolgreiches Leben zu führen.
Folglich überrascht es nicht, dass er seine Phobie schnell überwindet, nachdem er zum ersten Mal eine fremde Frau (Lucy) wirklich persönlich kennengelernt hat. Die Konfrontation mit deren Ängsten, welche Rajs ähnlich sind, lässt sie für Raj als echten Menschen und die Begegnung mit ihr auf Augenhöhe erscheinen. Und davor muss er keine Angst haben – oder zumindest nur so viel, wie jeder andere Mann auch.
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