Der Zauberer von Oz: Angst und Mut

Als der Löwe, der sich selbst für einen Feigling hält, weil er das Gefühl der Angst kennt, Oz, der vorgibt ein Zauberer zu sein, obwohl er nicht zaubern kann, darum bittet ihm Mut zu verleihen und sich diesen so vorstellt, dass man grundsätzlich keine Angst mehr fühlt, antwortet der kluge Oz:

 
„Ich bin sicher, dass du mutig bist. Alles was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Es gibt kein Lebewesen, das sich angesichts einer Gefahr nicht ängstigen würde. Wahrer Mut zeigt sich ja gerade darin, dass man dennoch der Gefahr ins Auge blickt. Und über diese Art von Mut verfügst du reichlich.“
 
 

 

Sehr ähnlich fast es der Psychoanalytiker und weltberühmte Angstforscher Fritz Riemann in seinem für die Praxis der Persönlichkeitspsychologie und Psychotherapie unverändert relevanten Standardwerk Grundformen der Angst von 1961 zusammen: 
 
„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. […] Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen“.
 
Tatsächlich hat der Löwe im Zauberer von Oz seinen Mut, den wahren Mut, der sich nicht ohne, sondern trotz und gerade wegen des Vorhandenseins von Angst zeigt, schon mehrfach unter Beweis gestellt, bevor er überhaupt Gelegenheit bekommt, dem Zauberer seinen Wunsch vorzutragen. Dieser Mut zeigt sich vor allem dann, wenn es um das geht, was dem Löwen am wichtigsten ist: seine Freunde. 
 
Hier können wir eine von erfreulich zahlreichen psychologischen Weisheiten erkennen, die in dem Kinderbuchklassiker Der Zauberer von Oz thematisiert werden: Ein Leben ohne Angst ist nicht möglich. Ebensowenig wie ein Leben ohne Traurigkeit, Scham, Ekel, Ärger, Neugier, Freude, Zuneigung oder irgendein anderes Gefühl. 
Das wäre auch gar nicht wünschenswert. Unser heutiges Gefühlssortiment ist immerhin das Produkt eine langen evolutionären Entwicklungsprozesses und die Evolution weiß bekanntlich, was sie tut. Jedes Gefühl hat seine Funktion und damit seine grundsätzliche Daseinsberechtigung. Angst zum Beispiel weist uns auf mögliche Gefahren hin und versetzt uns in einen Zustand der Reaktionsbereitschaft (ja, genau, das fight-or-flight-syndrome aus dem Biounterricht). 
Wenn die Winkies angreifen, um den Löwen und seine Freunde zu töten, bekommt er Angst: Atmung und Herzschlag beschleunigen sich, der Blutdruck steigt. Die Durchblutung der Extremitäten wird verstärkt, die Muskeln in den Beinen spannen sich an, bereit zum Sprung, bereit zuzuschlagen. Jetzt ist nicht die Zeit, entspannt auf dem Bauch zu liegen und den Blick seelenruhig über die weite Steppe schweifen zu lassen. Jetzt sind Fokus und Reaktionsgeschwindigkeit gefragt. Essen, Schlafen, Sex – dafür wird später noch Zeit sein. Sofern jetzt überlebt wird. Wie gut also, dass der Löwe Angst hat. 
 
Und doch ist uns der Wunsch des Löwen so vertraut. Oft wünschen wir uns, bestimmte Gefühle einfach abstellen zu können. Wenn nur Angst, Unsicherheit, Scham, Erschöpfung, Neid, Hunger oder Wut nicht wären, könnten wir endlich unser wahres mutiges, selbstbewusstes, aktives, erfolgreiches, großzügiges, liebevolles – kurzum: perfektes – Ich entfalten. Aber da sind halt diese blöden Gefühle, schade! 
 
In der Psychotherapie, ebenso wie im Leben im Allgemeinen, besteht eine wichtige Einsicht darin, dass wir unser Leben aktiv nach unseren persönlichen Bedürfnissen und Werten ausrichten können, obwohl Gefühle wie Angst, Scham, Reue oder Kränkung gerade das oft erschweren. 
In der Therapieschule, die diese Erkenntnis zu ihrem Grundprinzip erhoben hat, der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, heißt es: „we hurt, where we care“ oder auch „where there’s pain, there’s values“. 
Gerade da, wo die Gefühle intensiv, der Schmerz spürbar wird, gibt es wichtiges zu verstehen und zu erreichen. 
 
Der Löwe hält die Angst für sein Problem, doch sie ist Teil der Lösung. Wie der große Stoiker Captain Jack Sparrow (Fluch der Karibik) sagt: 
 
„The problem is not the problem. The problem is your attitude about the problem.“ 
 
 
Wer unangenehme Gefühle nicht als vermeidbares Übel, sondern als unverzichtbare Signale betrachtet, kann damit aufhören, Energie an Ärger, Hader und Selbstanklage zu verschwenden und anfangen, eine Lösung im Sinne der eigenen Bedürfnisse und Werte zu finden. 
„Leiden = Schmerz x Widerstand“ ist die berühmte Formel buddhistischer Lebensweisheit. 
 
Der Löwe hat etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und es ist gerade seine Angst, die ihn das spüren lässt und ihm Kraft verleiht. 

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Suits: Harvey Specter (Update S7)

Harvey Specter, der schicke Super-Anwalt aus Suits, zeichnet sich vor allem durch zwei Dinge aus:

  1. Er ist davon besessen zu gewinnen, wobei es ihm meist nicht primär um den Fall oder den Mandanten geht, sondern um den gegnerischen Anwalt, den er um alles in der Welt besiegen und übertrumpfen muss. 
  2. Harvey ist kompromisslos ehrlich (es sei denn, die Strategie in einem Fall verlangt es vorübergehend anders) und erwartet dies auch von allen, die mit ihm zusammenarbeiten und ihm nahe stehen. 
Während die konsequente Ehrlichkeit bewundernswert ist – verlangt sie doch große Charakterstärke – machen das zwanghafte Konkurrieren und die Brutalität, mit der er alle behandelt, die seinem Sieg im Wege stehen, Harvey nicht immer sympathisch. 
Wie Harvey so geworden ist, erfahren wir von ihm selbst und die Tatsache, dass er, der kaum einmal etwas Persönliches erzählt, Mike Ross gerade diese Schlüsselszene berichtet (wenn auch bekifft), zeigt, wie wichtig sie ist: 
Mit sechzehn Jahren fand Harvey heraus, dass seine Mutter seinen Vater, einen Musiker, betrog. Weil er den Vater nicht verletzen wollte, behielt er das Geheimnis zwei Jahre lang für sich, bis seine Mutter die Familie schließlich verließ und den Vater gebrochen und gedemütigt zurückließ. 
Der junge und verletzte Harvey zog aus seinem Schmerz, ohne sich dessen bewusst zu sein, zwei Lehren, die sein weiteres Leben bestimmen sollten.
  1. Wer sich emotional bindet und dadurch abhängig macht, wird verletzlich und kann, wenn es schlecht läuft, als geschlagener Verlierer zurückbleiben. 
  2. Lügen verletzen den Belogenen und verursachen schlimme Schuldgefühle bei demjenigen, der gelogen hat. 


Harveys Bemühen alles und jeden zu dominieren um stets Herr der Lage zu sein und sich niemals auf die Güte oder das Mitleid anderer verlassen zu müssen, sowie seine kompromisslose Ehrlichkeit, sind eine direkte (für Harvey unbewusste) Reaktion auf den Schmerz, die Schuldgefühle und die Angst, die er als Sechzehnjähriger durchlitt. 

Wenn, wie in diesem Fall, unbewusste Gefühle und Motive den Charakter eines Menschen in entscheidender Weise prägen, spricht die Psychologie von einer Reaktionsbildung
Doch auch wenn Harvey es nicht gerne zugibt, gelingt es immer wieder einzelnen Menschen, z.B. Mike und Donna, sich in sein Herz zu schleichen – auch weil sie intuitiv verstehen, dass Harvey, um sich sicher zu fühlen, in der Beziehung immer die Oberhand behalten muss. Dafür jedoch gewinnen sie einen stets loyalen Freund und Mentor, der für sie bis zum letzten zu kämpfen bereit ist. 

UPDATE – Staffel 5

Den Psychologen kann es nur freuen, dass der doch sehr glatte Harvey der ersten vier Staffeln, der so gut wie jede unerwünschte Gefühlsregung vermeiden zu können scheint, nun etwas differenziertere, weniger souveräne und damit menschlichere Züge bekommt. 
Es wird deutlich, dass Harvey, auch wenn er Gefühle wie Nähewünsche, Einsamkeit und Verlustangst sehr umfassend verdrängt, diese, wie jeder Mensch, dennoch hat. 

Nach tiefenpsychologischem Verständnis ist die menschliche Psyche bipolar aufgebaut, was uns antreibt ist nie eindimensional: Wir streben nach Selbstverwirklichung und nach Verbundenheit. Nach Kontrolle und nach Anleitung. Nach Unabhängigkeit und nach Versorgung durch andere. 

So auch Harvey: Durch Donnas kompromisslose Loyalität und Verehrung musste er sich, trotz der konsequenten Verleugnung seiner Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, niemals wirklich alleine fühlen. Bewusst kultivierte er eine Eigen- und Fremdwahrnehmung als unabhängiger, grenzenlos selbstbewusster Draufgänger, der keinerlei sozialen Rückhalts bedarf, während unbewusst vor allem Donna ihm doch die Sicherheit vermitteln konnte, nicht alleine zu sein. 

Wie wichtig dieser andere Pol des Abhängigkeits-Unabhängigkeits-Kontinuums auch für Harvey ist, zeigt sich ihm und uns als Zuschauer erst, als die Beziehung zu Donna distanzierter wird, er sie vermutlich sogar ganz zu verlieren fürchtet.
Die lange verdrängten Gefühle von Abhängigkeit und Verlustangst werden durch den drohenden Verlust Donnas verstärkt, darüber hinaus wird vermutlich die Enttäuschung Harveys über den Vertrauensbruch seiner Mutter, welchen er ebenfalls als eine Art Verlassenwerden  erlebt hat, aktualisiert, nun, da er erneut fürchten muss, die wichtigste Frau in seinem Leben zu verlieren.

Die verdrängten Ängste drängen immer mehr ins Bewusstsein und manifestieren sich in Form von Panikattacken. Panikattacken sind  Anfälle plötzlicher, starker Angst, welche durch eine Vielzahl von Symptomen, beispielsweise Herzrasen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwitzen, Schwindel oder Entfremdungsgefühle gekennzeichnet sein kann. Treten diese Panikattacken ohne erkennbaren äußeren Auslöser auf, spricht man von einer sogenannten Panikstörung (ICD-10: F41.0). Da äußere Auslöser fehlen und die Betroffenen die inneren/psychischen Auslöser meist nicht direkt bewusst erkennen können, können sich nach den ersten Panikattacken sekundäre Ängste, wie z.B. einen Herzinfarkt zu erleiden, bewusstlos zu werden, oder auch verrückt zu werden, einstellen. So kann ein Teufelskreis der Angst entstehen, bei dem die „Angst vor der Angst“ zu ständiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit bei kleinsten körperlichen Angstsignalen führt, was wiederum das Auftreten von Panikattacken begünstigt.

Panikstörungen werden entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch behandelt, wobei der Patient über die psychologischen und physiologischen Vorgänge vor und während der Panikattacken aufgeklärt wird und lernt, seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst zu beeinflussen. Atem– und Entspannungsübungen kommen unterstützend zum Einsatz.

 
Liegt, wie bei Harvey, ein deutlich erkennbarer innerer Konflikt als Auslöser der Panikstörung vor, bietet sich ein tiefenpsychologisches Vorgehen an, welches seine (ansonsten nicht allzu professionelle) Therapeutin Paula richtigerweise für Harvey wählt: Indem sie ihn mit seinen abgewehrten Gefühlen gegenüber Donna und seiner Mutter konfrontiert und seine Auseinandersetzung mit diesen vorantreibt, ermöglicht sie Harvey, seine aktuellen und früheren Ängste bewusster wahrzunehmen und als Teil seines Gefühlsspektrums zu aktzeptieren. Dadurch müssen sie nicht mehr verdrängt werden und in der Folge auch nicht mehr kompensatorisch in Form von Panikattacken ins Bewusstsein drängen. Dadurch erhält Harveys Eigen- und Fremdwahrnehmung zwar ein paar Kratzer in auf ihrer makellosen Oberfläche – seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, wichtige Beziehungen zu pflegen, tut dies jedoch eher gut. 
Und, ganz ehrlich, der alte Harvey war auf die Dauer doch auch zu langweilig. 
 
UPDATE – Staffel 7
 
Da ist er wieder, der alte Harvey. Die Panikattacken konnten erfolgreich behandelt werden – Paulas tiefenpsychologischer Therapieansatz war also erfolgreich. Leider bedient die Serie dann doch wieder das scheinbar unvermeidliche Klischee von der Affäre zwischen Patient und Therapeutin. Dass es, wie Harvey argumentiert, eine zeitliche Frist gibt, nach der sexuelle Beziehungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen unproblematisch seien, ist in Wahrheit Unsinn. Im Gegenteil: In Deutschland sind sexuelle Kontakte während einer Therapie nach § 174c StGB strafbar und auch nach Beendigung einer Psychotherapie verbieten sich sexuelle Beziehungen aus ethischer Sicht. Die therapeutsiche Beziehung ist durch und durch ungleich: Während sich die Patient*in maximal öffnet und gerade ihre schambesetzten, insuffizienten, verurteilten und bedürftigen Seiten zeigt, nimmt die Therapeut*in eine konsequent zugewandte, um Verständnis und Empathie bemühte Haltung ein, lässt aber ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, Zweifel, Nöte und Neurosen weitgehend außen vor, denn diese gehören in das Privatlegen und ggf. die eigene Selbsterfahrung oder Therapie der Therapeut*in. Dadurch entsteht eine Bezhiehung, die zur Behandlung von Krankheiten hoch funktional sein kann, aber im Bezug auf eine mögliche Liebesbeziehung völlig unrealistische Wünsche und Erwartungen fördert, die nur zu Enttäuschung und schlimmstenfalls Retraumatisierung führen können. 
Leider wird gerade durch die sexuelle Beziehung mit Paula auch der alte Harvey Sprecter etabliert: Die Rolle des Mannes, der doch auch Schwächen und Unsicherheiten hat und sich mit diesen sogar von jemandem helfen lassen muss, ist nur vorübergehend. Harvey, der immer gewinnt, erobert natürlich auch seine Therapeutin und stellt, indem er ihr schließlich das Herz bricht, das gewohnte Machtverhältnis zwischen sich und allen anderen, wieder her.
  
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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Stephen King: Das Unheimliche

Vortrag beim 1. Göppinger Stephen-King-Abend am 29.6.2018 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Christophsbad, Göppingen
Stephen King gilt als Meister des Unheimlichen. Was ist das, dieses „Unheimliche“? Mit dieser Frage hat sich bereits der erste Psychotherapeut, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud befasst. 
Er nähert sich dem Begriff zunächst etymologisch, also von der Wortherkunft her. Heimlich kommt von heimelig, also vertraut, geborgen oder sicher. Somit wäre das Unheimliche etwas, das uns unsicher, möglicherweise bedrohlich erscheint. In der modernen Bedeutung bezeichnet heimlich etwas, das im Verborgenen, nicht offen sichtbar geschieht. Demzufolge wäre das Unheimliche also auch etwas, dass aus dem Verborgenen heraustritt und dadurch sichtbar wird.
Letztere Herleitung deutet bereits an, wie das Unheimliche tiefenpsychologisch verstanden werden kann. Im Film (und auch im echten Leben) ist nicht die offene Bedrohung oder der manifeste Terror, z.B. in einem Kriegsfilm oder Splattermovie unheimlich. Unheimlich ist die nicht wirklich sichtbare, im Verborgenen erahnbare Bedrohung. 
Dieses Erleben von Unheimlichkeit beruht, tiefenpsychologisch gesehen, auf einer von zwei möglichen Ursachen, welche zudem nicht selten miteinander einhergehen. Als unheimlich empfinden wir etwas, wenn verdrängte und/oder rational bereits überwunden geglaubte Ängste aktiviert werden.  
Darum kann beispielsweise ein Spaziergang über einen Friedhof bei Nacht unheimlich sein: Der Gedanke an den eigenen Tod macht vielen Menschen Angst, wird aber von den meisten Menschen die meiste Zeit des Lebens verdrängt. Das ist gut so, denn so können wir angstfreier ein erfülltes und erfolgreiches Leben leben. Durch den Friedhof jedoch wird die Thematik des Todes stark angesprochen und die damit unbewusst verbundenen Ängste können stärker wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass der Friedhof der Ort ist, an dem sich die Verstorbenen aufhalten. Rational haben die meisten Erwachsenen die Angst vor Geistern, Untoten etc. überwunden – nichts im Weltverständnis eines halbwegs gebildeten Erwachsenen spricht dafür, dass es so etwas geben könnte. Dennoch überfällt viele von uns ein unheimliches Gefühl, wenn wir nachts auf dem Friedhof ein Geräusch oder einen sich bewegenden Schatten wahrnehmen.
Das Unheimliche lauert also unter der Oberfläche des Vernünftigen, es liegt verdrängt unter dem, was gut, schön und wahr scheint. Bei Stephen King ist das meist die Kleinstadt, das Kleinbürgertum, die Angepasstheit – man könnte auch sagen: Das Erwachsene.  
Und es sind bei Stephen King meist die Kinder, die als erste erkennen, dass da etwas nicht stimmt, dass da etwas Schauriges, Schreckliches, Unheimliches unter der Oberfläche lauert.
Diese universelle Wahrheit macht Kings Geschichten anschlussfähig: Als Kind wissen wir noch um das Grauen der Welt und verzweifeln an den Erwachsenen, die uns weismachen wollen, es sei alles halb so schlimm. Genau wie das Kind im Märchen Des Kaisers neue Kleider, das als einziges ganz selbstverständlich und wider den absurden Rationalismus der Erwachsenen ausruft: „Er hat doch gar nichts an!“ 
Weil das alltägliche Grauen der menschlichen Abgründe (solange sie das Kind nicht unmittelbar betreffen) nicht greifbar, aber eben doch erahnbar ist, und selbst da wo es manifest wird, oft zu unaussprechlich ist, um es beim Namen zu nennen, wird es in Monstern, Geistern, Ungeheuern symbolisiert, so wie King es in seinen Geschichten in Untoten, Horrorclowns, mordenden Maschinen und Psychokillern symbolisiert. Der eigentliche Horror aber, und um diesen geht es Stephen King, findet alltäglich tatsächlich zwischen den ganz normalen Menschen statt: Tod, Verlust, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Mobbing – sie werden von den Erwachsenen verdrängt, bagatellisiert und rationalisiert, für die Kinder aber sind sie schmerzhaft real. Wir sind heute in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, der kennt diese Rationalisierungen: „Reiß Dich zusammen“, „Das verstehst Du nicht“, „Das ist halt die Pubertät“, „Das geht anderen auch so…“ und so weiter. Aber das sind unzulässige Rationalisierungen und Verharmlosungen: Grausamkeit ist grausam, Schmerz ist schmerzhaft, Gewalt ist brutal – sie zu etwas Normalem, Unvermeidlichem, Logischem zu erklären, ändert daran nichts.  
Stephen King erzählt von diesem alltäglichen Grauen meist beiläufig, sozusagen im Schatten des grandiosen, übernatürlichen Horrors. Für die düsteren Seiten der conditio humana gibt es bei King keine Erklärungen, keine einfachen Lösungen. Das macht ihn zu einem großen Erzähler. Wie Hannah Arendt sagt: „Geschichten zu erzählen offenbart Bedeutung, ohne den Fehler zu machen, sie zu definieren.“  
Vermutlich brauchte und braucht der Vielschreiber King seine eigenen Geschichten auch, um selbst mit dem Schrecklichen in der Welt zurecht zu kommen. Er scheint ein Mann der Extreme zu sein: Früher alkohol- und drogenabhängig, ergeht er sich heute in intensiven Schimpftiraden auf Twitter, bevorzugt gegen Donald Trump, der ihn – worauf King sehr stolz ist – blockiert hat.
Das Unheimliche, das Schreckliche unter der Oberfläche des als normal Definierten, scheint ihm keine Ruhe zu lassen. Dass die Kinder, denen die Bedrohungen in seinen Geschichten ebenso keine Ruhe lassen, die sie bekämpfen, oft auch gegen die Borniertheit und Bequemlichkeit der Erwachsenen, am Ende meist siegen, ist Stephen Kings Form der Bewältigung seiner eigenen realen Welt. Es ist nicht zu übersehen, dass in seinen Geschichten seine eigene Geschichte verarbeitet und neu geschrieben wird. Oft spielen Autoren wichtige Rollen, meist Kleinstädte in Maine, wie die, in der er selbst aufgewachsen ist. Eltern sind oft abwesend, so wie Kings Vater, der die Familie früh verlassen hat, und seine Mutter die mit finanziellen Sorgen belastet war. Als Kind musste er mit ansehen, wie sein Freund von einem Zug überfahren wurde – wir werden in der heutigen King-Verfilmung Stand By Me eine Szene sehen, die darauf Bezug nimmt.  
Sigmund Freud, der Entdecker des Unbewussten hat gesagt: „Jede Phantasie ist ein Wunsch, der realisiert wird, eine Phantasiekorrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“ Die Phantasien Stephen Kings, des Meisters des Unheimlichen, korrigieren auf schreckliche wie wunderbare Weise unsere manchmal ebenso schreckliche Wirklichkeit.  
Gerade dieser Tage fällt es uns wieder schwerer, zu verdrängen, dass, unter der noch recht glatten Oberfläche unserer Gesellschaft, Hass und Gemeinheit, Spaltung, Ausgrenzung und Erniedrigung lauern können. Weil sie an die Oberfläche drängen, wie der Clown in Es aus der Kanalisation.  
Es wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Geschichten des großen Erzählers Stephen King aktuell sowohl in Hollywood wie auch bei serienproduzierenden Streamingdiensten wie hoch im Kurs stehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Serienadaptation von Kings Opus Magnum Der dunkle Turm das neue Game Of Thrones werden könnte. Und das ist gut so, denn wir werden Geschichten brauchen, in denen mutige Kinder uns ein Beispiel geben, indem sie dem Schrecklichen, dem Unheimlichen ins Auge sehen und in denen es immer wieder auch bezwungen werden kann.

Den Audio-Mitschnitt vom Vortrag gibt es hier 

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