Atypical: Das Interview

Die Netflix-Serie Atypical thematisiert ganz direkt das Thema Autismus, indem sie Sam, einen Highschoolschüler mit Asperger-Syndrom zum Protagonisten macht. Damit unterscheidet sich Atypical von The Big Bang Theory, wo Sheldon Cooper zwar eindeutig auch das Asperger-Syndrom hat, dieses aber niemals benannt wird.
Auf den ersten Blick, ist Sams Asperger-Syndrom überzeugend dargestellt. Die diagnostischen Kriterien nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) sind erfüllt:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen liegen vor: Sam hat Probleme mit dem Verständnis von Ironie und Sarkasmus, seine Intuition bzgl. sozialer Normen ist oft fehlerhaft und es fällt ihm schwer, Bedürfnisse und Gefühle anderer richtig einzuschätzen, wenn diese sie nicht ganz direkt formulieren.
  • Sam zeigt ein eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten: Schule, Pinguine, Sex.
  • Sams kognitive und sprachliche Fähigkeiten sind altersgemäß völlig normal entwickelt, vielleicht sogar ein bisschen überdurchschnittlich.
Auch viele Kleinigkeiten wirken realistisch: Sam hat als Kind das Erkennen von Gesichtsausdrücken mit Emotionskarten geübt. Er mag nur feste Berührungen und hat eine niedrige akustische und optische Reizschwelle. Er hat eine hoch engagierte, beim Thema Autismus maximal informierte, aber aufgrund der frühen und niemals endenden Sorge um ihr andersartiges Kind auch etwas überbehütende Mutter.
Um wirklich zu beurteilen, ob der Versuch, einen Menschen mit Asperger-Syndrom in einer Comedy-Serie adäquat zu portraitieren, gelungen ist, sollte man diejenigen Fragen, die sich am besten damit auskennen: Menschen mit Asperger-Syndrom. themighty.com hat das gemacht, aber leider nur knapp und nur für die Pilotfolge. Ich möchte daher eine Person mit Asperger-Syndrom, die sich die ganze Serie angeschaut hat, zu Wort kommen lassen und habe sie gefragt, was sie von Atypical und Sam hält. Nennen wir die Person N.
Charakterneurosen: „N., wie hat Dir Atypical gefallen?“
N.: „Es ist auf jeden Fall eine Serie, bei der ich mir keine Gedanken mache, wenn sie viele Menschen anschauen. Autismus kommt nicht total falsch rüber und es stimmt eigentlich auch alles, so wie ich es in Erinnerung habe.
Alles in allem ist die familiäre Situation ziemlich gut gelungen denke ich, aber Sam an sich nicht ganz so toll. Er kommt oft sehr naiv rüber, da gefällt mir Sheldon aus The Big Bang Theory besser. Zum Beispiel als er in Folge 3 als es um seine Kleidung geht. Ich bin auch ein bisschen so, aber nicht so extrem. Und die Mutter ist sowas von peinlich!“
Charakterneurosen: „Gibt es bestimmte Szenen, die Dir besonders aufgefallen sind? Welche und warum?“
N.: „Relativ am Anfang von Folge 1 gibt es die Szene, in der Sam seine Therapeutin auf den BH-Träger aufmerksam macht. Mir fällt so etwas auch sofort auf, generell wenn irgendetwas an der Kleidung anders ist, aber ich glaube die wenigsten Autisten würden echt was sagen. Andererseits gibt es ja laut Knigge schon die Regel, dass man Leute auf Dinge aufmerksam machen darf die sie sofort beheben können.“
Charakterneurosen: „Gab es Szenen, in denen Du Dich mit Sam identifizieren konntest?“
N.: „Teilweise ja. Z.B. dass Sam sich fragt: Wer trifft sich auf einen Kaffee? So etwas ist für mich total anstrengend. Wie in einer mündlichen Prüfung bei der man zu einem Thema befragt wird, dass man gar nicht kennt. Ich rette mich dann mit irgendwelchen persönlichen Fragen über die Zeit, selbst wenn ich die Antworten schon kenne.
In Folge 5 war der Stress unter dem Sam steht als Paige in seinem Zimmer ist richtig gut dargestellt. Kann ich sehr gut nachvollziehen! Allgemein die Überforderung mit ihr.
An einer anderen Stelle sagt Sam, Mädchen nehmen ihn gar nicht wahr. Sehr gut beschrieben. Das mit der Online-Dating-Seite im Anschluss ist auch gut getroffen. Füllt man die Fragen ehrlich aus ergibt sich gar nichts. Eigene Erfahrung.“
Charakterneurosen: „Das Thema Liebe und Partnerschaft spielt ja eine wichtige Rolle. Werden Sams Gedanken und Gefühle in diesem Punkt realistisch dargestellt?“
N.: „Was mich etwas aufregt ist mal wieder die übliche Idee, eine Partnerschaft mit ebenfalls autistischen Menschen zu versuchen. Genau so etwas würde ich niemals wollen. Jemand der die gleichen Probleme hat wie ich? Super Idee… Es könnte ja schon ein komischer oder nerdiger Typ Mensch sein, aber emotionale Fähigkeiten in normaler Ausprägung würden einiges erleichtern. Außerdem finde ich es schade, dass selbst Sam jemanden findet. Selbst da wirkt es so einfach. 
Sams Herangehensweise an die Beziehung zu Paige ist aber gut getroffen. ‚Wieso schreibst du so eine Liste über Paige?‚ – Warum nicht? Mache ich genauso im Prinzip. Deshalb ist es auch oft schwerer jemanden kennen zu lernen wenn ich gleich am Anfang Dinge abklären will die man wohl eigentlich erst später abklärt. Aber warum soll ich jemanden kennenlernen wenn ich dann Monate später erst etwas von ihm erfahre, was für mich ein No-Go in einer Beziehung ist? Geschiedene Eltern oder so. Wenn ich so etwas gleich am Anfang abfrage, kann ich mir ja alles andere sparen, wenn die Antwort negativ ist. Oder heiraten/Kinder und so etwas. Ich weiß natürlich, man macht so etwas nicht, aber es wäre oft besser die Leute würden es tun. Ich stresse mich nicht für etwas, was später dann sowieso nicht funktioniert.“
Charakterneurosen: „Sams Spezialinteresse sind Pinguine, über die er oft unablässig redet. Gut getroffen oder Klischee?“
N.: „Das fand ich etwas unheimlich, denn ich interessiere mich tatsächlich für antarktische Forschungsstationen. Jetzt nicht als Spezialinteresse, aber ich glaube schon mehr als normal wäre. Was mir immer wieder auffällt, ist dass ich nicht so über meine SI reden kann wie die typischen Autisten die so dargestellt werden. Schreiben ja, aber nicht reden. Hängt vielleicht damit zusammen, dass ich sowieso mehr Probleme habe mit Menschen zu sprechen. Ich könnte z. B. dieses Interview nie mündlich führen. Ich weiß nicht warum, aber es geht nicht. Dafür neige ich vielleicht etwas dazu zu viel zu schreiben, anstatt zu viel zu reden.“
Charakterneurosen: „Du hast eingangs die Darstellung der familiären Situation angesprochen, was hat Dir daran gefallen?“
N.: „Die Ehe-Probleme sind vielleicht gar nicht so doof. Gerade in Ehen bei denen die Kinder eine Behinderung haben geht die Scheidungsrate ja hoch. Ich denke die Ehe meiner Eltern wäre auch besser wenn sie nicht jahrelang Probleme mit mir gehabt hätten.
Die Szenen mit seinem Vater und den Arbeitskollegen sind ebenfalls gut getroffen. Die von meinem Vater wissen auch nicht so super Bescheid wie die Freunde/Kollegen meiner Mutter.
In Folge 6 reden sie über soziale Isolation wenn man ein Kind hat, das anders ist als andere. Ich weiß nicht wie viel es meiner Mutter ausmacht, aber ich finde es manchmal ziemlich schlimm. Ihre Sportfreunde im gleichen Alter erzählen von ihren Kindern und da wirkt immer alles so perfekt. Es tut manchmal schon weh.“
Charakterneurosen: „Vielen herzlichen Dank für diese Einblicke!“
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Podcast Folge 02 – The Big Bang Theory

In der zweiten Folge des Charakterneurosen-Podcasts besprechen Dr. Gebele und Herr Andreas die Serie The Big Bang Theory. Wir lernen etwas über Autismus, das Asperger-Syndrom, soziale Phobien, Mutismus, Mutter-Kind-Symbiosen und selbstunsichere Persönlichkeiten. Außerdem geht es um grüne Psychopharmakologie, weiße Cuokolade, rote Inder und blasse Biere

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Sherlock: Sherlock Holmes

Ein eigenartiger Geselle ist dieser moderne Sherlock Holmes aus der BBC-Serie Sherlock. Kriminologisches Genie mit scheinbar perfektem Gedächtnis und grenzenlosem Selbstbewusstsein und doch überfordert und hilflos angesichts alltäglichster zwischenmenschlicher Interaktionen.
Wie können perfekte Logik und soziale Inkompetenz so nahe beieinander liegen?
Die Antwort: Sherlock Holmes hat offenbar ein Asperger-Syndrom. Diese angeborene Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sherlocks mangelnder Empathiefähigkeit, seinem Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen anderer und seiner Verweigerung gegenüber sozialen Normen.
Sein Repertoire an Interessen und Aktivitäten ist einseitig und beschränkt auf Fakten- und Fachwissen, aus dem wissenschaftlichen, vor allem kriminologischen Bereich.
Im Vergleich zu anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum zeichnet sich das Asperger-Syndrom dadurch aus, dass intellektuelle und sprachliche Fähigkeiten nicht beeinträchtigt sind. In einigen Fällen, zu denen Sherlock zweifelsfrei gehört, kann sogar eine intellektuelle und sprachliche Hochbegabung vorliegen.
Sherlocks Selbstdiagnose als hochfunktionaler Soziopath ist hingegen Unsinn. Soziopath ist eine veraltete und stark stigmatisierende Bezeichnung für Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung (wie z. B. Der Joker aus The Dark Knight oder Frank Underwood aus House of Cards), die bei Sherlock nicht vorliegt.
Typisch für das Asperger-Syndrom ist, neben den genannten Diagnosekriterien, eine Tendenz zu mechanistischem Denken und eine Vorliebe für rationale, wissenschaftliche und faktenbasierte Erklärungen.
Das an strenger Logik, mathematischer Wahrscheinlichkeit und naturwissenschaftlicher Expertise ausgerichtete Schlussfolgern macht Sherlock als Ermittler so herausragend treffsicher. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen (inklusive der Londoner Polizeibeamten) unterlaufen ihm kaum logische Fehlschlüsse, sogenannte Denkfehler.
Ein häufiger, typisch menschlicher Denkfehler ist z. B. der Halo-Effekt. Dabei schließt man unbewusst von einer markanten Eigenschaft einer Person auf weitere Eigenschaften, ohne diese tatsächlich zu kennen. So würden z. B. die meisten Menschen einer unsympathischen oder aggressiven Person eher ein Verbrechen zutrauen, als einer freundlichen oder schüchternen Person. Sherlock jedoch lässt sich davon nicht blenden und entlarvt so auch Täter, die von der Polizei gar nicht erst in Betracht gezogen werden.
Einen weiteren häufigen Denkfehler beschreibt das sogenannte Minimalgruppen-Paradigma. Es beschreibt die Tendenz, Personen die einem selbst als ähnlich oder der eigenen sozialen Gruppe zugehörig empfunden werden, positiver wahrzunehmen, zu bevorzugen und ihre Leistungen besser zu bewerten. Sherlock, der sich auch davon selten beeinflussen lässt, bleibt dagegen offen und aufmerksam auch für Verdächtiges in seinem engsten sozialen Umfeld – oft zu dessen Leidwesen und Verärgerung.
So ist Sherlocks wichtigste Waffe im Kampf gegen das Verbrechen sein logisch-schlussfolgernder Verstand und (im Gegensatz zu vielen anderen fiktionalen Super-Ermittlern) gerade nicht seine bloße Intuition.
Allerdings stößt auch Sherlocks Methodik hin und wieder an ihre Grenzen, nämlich immer dann, wenn sich Menschen – und auch das kommt vor – entgegen jeder Logik und statistischen Wahrscheinlichkeit verhalten. Dann ist selbst der hochintelligente Sherlock auf die Hilfe seines Freundes Dr. Watson angewiesen, der mit seinem intuitiven Verständnis für das Irrationale und Unvorhersehbare im Menschen, immer wieder den entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Ermittlungen leistet. 


Mehr zu Sherlock, Watson, Moriarty und Co. im Charakterneurosen-Podcast

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Orange Is the New Black: Crazy Eyes



Ist der Frauenknast in Orange Is the New Black ein Spiegel der (amerikanischen) Gesellschaft? Keine Ahnung! In jedem Fall jedoch ist er ein Sammelbecken für vielerlei Konflikte, Macken und Neuröschen. 

Da ist zum Beispiel Crazy Eyes, die eigentlich Suzanne heißt, sich aber durch ihr auffällig eigenartiges, so penetrant wie ungeschicktes Kontaktverhalten ihren unrühmlichen Spitznamen eingehandelt hat. 
Ob Crazy Eyes wirklich crazy ist, ist schwer zu sagen. Einige ihrer Verhaltensweisen sprechen dafür, dass sie möglicherweise ein Asperger-Syndrom, eine Form des Autismus, haben könnte. Diese wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) durch vier Kriterien definiert:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
Als qualitative Abweichung in der sozialen Interaktion könnten Suzannes Schwierigkeiten gelten, sich in andere hineinzuversetzen und deren Motive und Gefühle zu verstehen. Darum braucht sie so lange, um zu verstehen, dass Piper sie nicht liebt und wird in Staffel 2 ein so leichtes Opfer für Vees manipulative Intrigen. 
Ihre eigenartige Begeisterung für das Putzen könnte man als Spezialinteresse, und somit ebenfalls als Hinweis auf ein Asperger-Syndrom, sehen. 
Die beiden Ausschlusskriterien, welche das Asperger-Syndrom vor allem gegenüber anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum abgrenzen, liegen bei Suzanne nicht vor, denn trotz ihrer Ungeschicktheit im zwischenmenschlichen Umgang, die sie manchmal beschränkt wirken lässt, ist sie intellektuell und sprachlich eigentlich gut, vielleicht sogar sehr gut, begabt. 
Ob Suzanne ein Asperger-Syndrom hat, ließe sich mit größerer Sicherheit sagen, wenn wir wüssten, ob ihr soziales Interaktionsverhalten schon in der frühen Kindheit gestört war, oder nicht. Bis zum Ende der aktuellen zweiten Staffel bleibt jedoch offen, ob Suzanne durch eine psychische Störung zur Außenseiterin wurde, oder ob das Außenseiterdasein über die Jahre zu ihrem ungeschickt-verbissenen Beziehungsverhalten geführt hat. 
Ein klassisches – in der Psychiatrie nicht seltenes – Henne-Ei-Dilemma!
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The Big Bang Theory: Sheldon

Der Physiker Dr. Dr. Sheldon Cooper ist eine der Hauptfiguren der Comedyserie The Big Bang Theory. Er lebt mit seinem Kollegen und Freund Dr. Leonard Hoffstatter in einer Wohngemeinschaft in Californien. Weitere wichtige Bezugspersonen sind der Astrophysiker Dr. Rajesh Koothrappali, der Ingenieur Howard Wolowitz und Sheldons Nachbarin Penny.
Sheldon Cooper ist nicht nur intellektuell hochbegabt, er erfüllt auch die diagnostischen Kriterien* eines angeborenen Asperger-Syndroms. Diese tiefgreifende Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach ICD-10 (F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
 
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sheldons mangelnder Empathiefähigkeit, seinem scheinbaren Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen seiner Mitmenschen sowie in seinen Schwierigkeiten, Humor und Sarkasmus zu verstehen.
Sheldons Aktivitäten unterliegen einem zwanghaft bis in Detail durchorganisierten Ablauf. Abweichungen von der Routine versetzen ihn in höchste Anspannung, weshalb er stets bemüht ist, seiner Umwelt seine Abläufe und Rituale aufzuzwingen. Ebenfalls charakteristisch für das Asperger-Syndrom sind seine Spezialinteressen und sein detailversessenes Wissen bzgl. Naturwissenschaften, Science Fiction und Modelleisenbahnen.
Die beiden letztgenannten Diagnosekriterien (fehlende allgemeine und sprachliche Entwicklungsverzögerung) dienen v.a. der Abgrenzung des Asperger-Syndroms vom frühkindlichen Autismus (sog. Kanner-Autismus). Dass Sheldon durch eindeutig überdurchschnittliche intellektuelle (IQ von 187) und sprachliche Fähigkeiten imponiert, stützt die Diagnose des Asperger-Syndroms.
 
Sheldon wuchs, gemeinsam mit einer Zwillingsschwester, in einer Familie der amerikanischen Mittel- bis Unterschicht auf. Weder Eltern noch Schwester scheinen seine intellektuellen Begabungen und wissenschaftlichen Interessen geteilt zu haben. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er von Beginn an sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie als Sonderling galt. Sheldons Vater konnte mit dem Sohn, welcher seine Interessen (Football und Jagen) nicht teilte, offenbar nichts anfangen und zog sich enttäuscht von ihm zurück. Es lässt sich vermuten, dass auch seine attraktive und mutmaßlich in der Peergroup beliebte Schwester nicht unbedingt den engen Kontakt zu ihrem sonderbaren und schwierigen Bruder suchte.
 
So blieben Sheldon als primäre Bezugspersonen eine nicht näher charakterisierte Omi und seine Mutter, Mary. Mary verwöhnte ihren Sohn auf einer oral-regressiven Ebene, kochte ihm sein Lieblingsessen (Pasta mit Würstchen) und bemutterte ihn, wenn er krank war. Allerdings forderte sie dafür von ihm die widerspruchslose Unterordnung unter ihr konservativ-religiös geprägtes Normen- und Wertesystem und strafte Abweichungen und Widerspruch durch harsche Kritik. Somit konnte sich Sheldon mit seinen Interessen und intellektuellen Leistungen auch bei ihr nicht akzeptiert und aufgrund seines wahren Ichs geliebt fühlen.
 
In dem allgegenwärtigen Bewusstsein, anders als alle anderen zu sein, von diesen nicht wirklich angenommen zu werden und nicht dazuzugehören, zieht Sheldon seine immer wieder enttäuschten Beziehungswünsche von den Mitmenschen ab und sucht Erfüllung im eigenen intellektuellen Binnenraum, wo er wissenschaftliche Höchstleistungen vollbringt und sich in die Rolle der (gerade aufgrund ihrer Andersartigkeit) allseits bewunderten Superhelden seiner Comics und Computerspiele phantasiert.
Seine intellektuelle Überlegenheit nutzt er immer wieder dazu, verdrängte Selbstzweifel zu unterdrücken, häufig auch auf Kosten Anderer, die er durch seine narzisstische Selbstüberhöhung kränkt.
 
Ein heimlicher unbewusster Versuch, sich doch noch die ersehnte liebevolle Zuwendung seiner Bezugspersonen zu sichern, ist für Sheldon (entsprechend den frühen Erfahrungen mit seiner Mutter) die Krankenrolle. So drückt sich der verdrängte Versorgungswunsch als manifeste Hypochondrie (ICD-10: F45.2) aus:
  • Beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden
  • Anhaltende körperliche Beschwerden oder anhaltende Beschäftigung mit ihren körperlichen Phänomenen
  • Interpretation normaler oder allgemeiner Körperwahrnehmungen und Symptome als abnorm und belastend 

 
Im Falle einer tatsächlichen Erkrankung (z.B. Erkältung) reagiert Sheldon übertrieben regressiv und fordert von seinen Bezugspersonen maximale Betreuung und Zuwendung ein. Auch hier verlangt er die Einhaltung eines bis ins Detail festgelegten Verfahrensablaufs (Zubereiten von Hühnersuppe, Einreiben der Brust, Singen des Katzentanzlieds), was dem Bedürfnis des Asperger-Autisten nach Routine und Stereotypisierung entspricht.

 
Psychodynamisch-interaktionell wird hier Sheldons Versuch deutlich, den Kontakt zu anderen Menschen soweit zu standardisieren (Mitbewohnervereinbarung, Beziehungsrahmenvereinbarung), dass er stets vollständige Kontrolle über die Regulation von Nähe und Distanz hat, um nicht Gefahr zu laufen, durch zu große Nähe zu Anderen von diesen beschämt und gekränkt zu werden, wie er es seit frühester Kindheit immer wieder erlebt hat. Auch die radikale Verleugnung jeglicher sexuellen Bedürfnisse erklärt sich dadurch.

 
* In einer früheren Version dieses Beitrags schrieb ich, dass Sheldon Cooper unter einem Asperger-Syndrom „leidet“. Dankenswerterweise wurde ich darauf hingewiesen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom unter dieser Diagnose nicht zwangsläufig leiden müssen. Siehe dazu auch hier.

 

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