Systemsprenger: Hinsehen bis es schmerzt

Systemsprenger ist ein großartiger, schmerzhafter, weitgehend realistischer Film über ein Kind mit einer schweren Bindungsstörung und die Lücken in unserem sozialpädagogisch-psychiatrischen Versorgungssystem. Allerdings ist der Film potentiell auch sehr triggernd, durch die Darstellung von Traumatisierung, emotionaler Vernachlässigung und Gewalt. Insofern ist der Film dringend allen zu empfehlen, die sich so etwas ansehen können – allen anderen ist dringend davon abzuraten. Nachdem das gesagt ist, hier mein – weitgehend spoilerfreier – erster Eindruck. 
Quelle: https://www.systemsprenger-film.de/
Was also macht den Film so gut? Zunächst mal sind die Schauspieler*innen, allen voran die Hauptdarstellerin Helena Zengel (Benni), durch die Bank großartig und jedes Setting so realistisch, dass man als Profi aus dem Bereich Kinder- und Jugendhilfe/-psychiatrie ständig ein „Ja, genau so…“-Gefühl hat und als Laie einen ziemlich realitätsnahen Eindruck vermittelt bekommt, wenngleich dieser im Spielfilm (anders als in einer Dokumentation) natürlich unkommentiert bleibt, was manche Vorgehensweisen des Personals der verschiedenen Einrichtungen vielleicht schwer einzuordnen und nachzuvollziehen macht, z. B. die wiederholten Fixierungen, den Off-label-use von Neuroleptika oder die genauen Erwägungen, warum Benni bestimmte Einrichtungen verlassen muss. Andererseits versetzt genau diese Intransparenz die Zuschauenden auch in die Perspektive der Protagonistin Benni, der all diese Maßnahmen ebenfalls willkürlich und zum Teil grausam erscheinen müssen. 
Der Film zeigt hier die ganze Überforderung, Desillusionierung und Frustration eines Hilfesystems, in dem durchaus engagierte und liebevolle Menschen, teilweise bis zur persönlichen Verausgabung, aktiv sind. Die Grenzen des Systems liegen nicht in Engagement oder Qualifikation der Fachkräfte, sondern im maximal banalen Fehlen von Ressourcen, i.e. Zeit und Geld. Um es klar zu sagen: Das deutsche Kinder- und Jugendhilfesystem und die Versorgungsstrukturen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sind unterm Strich nicht so schlecht und bieten einer sehr großen Zahl Kinder und Jugendlicher mit ihren Familien hochwertige professionelle Unterstützung und Behandlung. Das frustrierende und eigentlich unfassbare ist nicht, dass Systeme an ihre Grenzen geraten, sondern, dass unser System eben vor allem an finanzielle und damit vermeidbare Grenzen stößt. Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Personal – das wäre nicht unmöglich; folglich sind wir alle, als Bürger, Wähler und Mitmenschen, dafür verantwortlich, wenn und wo es nicht funktioniert. Damit ist der Film auch ein Appell an die Zuschauenden, die Themen Kinder- und Jugendhilfe, psychische Gesundheit und psychosoziale Versorgung aller, speziell der sozioökonomisch schwächeren Gesellschaftsschichten, nicht erst und nur dann wichtig zu finden, wenn spektakuläre Fehler und Unterlassungen durch die Presse gehen. 
Genau hier wird dieser kleine deutsche Film zum psychologischen Meisterwerk: Er zwingt – und es ist oft ein schmerzhafter Zwang – uns nicht nur hinzusehen, sondern auch intensiv zu fühlen. Bereits nach wenigen Minuten und bis über den Abspann hinaus, spürt man die intensive, schier unerträgliche Daueranspannung, die Kinder wie Benni ständig begleitet. 
Aufgrund der frühen Traumatisierung, der immer und immer wieder enttäuschten Beziehungswünsche und aggressiven Gegenreaktionen ihres Umfelds, ist für Benni keine Situation, nicht einmal die oberflächlich glücklichen Momente, sicher. Indem der Film uns brachial in diese Gefühlswelt hineinzieht erleben wir, wie Benni, unterschwellig gerade in diesen Situationen – Pommes essen, Schlittschuh laufen, mit einem Baby spielen – sogar die größte Anspannung, weil uns der Film früh klarmacht, dass in Bennis Welt jederzeit jede Kleinigkeit zur absoluten Eskalation führen kann. Kurze Verschnaufpausen bieten, paradoxerweise, nur die Szenen, in denen Benni sediert und fixiert im Überwachungsraum der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt: Der traurige Höhepunkt jeder Eskalation und der einzige kurze Moment des Innehaltens vor dem nächsten Sturm. 
Psychopathologisch gesehen, hat Benni eine Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2), die durch folgende Symptome definiert ist:
  • Beziehungsmuster mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung sowie Widerstand gegen Zuspruch
  • Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen
  • Beeinträchtigung des sozialen Spielens
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen
  • Nicht-selektives Bindungsverhalten mit wahlloser Freundlichkeit und Distanzlosigkeit
  • Gleichförmige Interaktionsmuster gegenüber Fremden
  • Inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote von Bezugspersonen 
Mögliche Ursachen dieser Bindungsstörung sind Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung, v.a. in den ersten Lebensjahren, sowie inkonsistente und wechselnde Bezugspersonen. Die Kinder entwickeln dadurch keine sichere Bindung bzw. das, was gerne Urvertrauen genannt wird. Keine soziale Situation fühlt sich sicher, keine andere Person wirklich verlässlich an. Wer sich nie sicher fühlt, muss psychologisch und physiologisch ständig reaktionsbereit sein, d.h. das sympathische Nervensystem, zuständig für die sogenannte Fight-or-flight-Reaktion ist ständig aktiviert: Mehr Stresshormone werden ausgeschüttet, man ist schreckhaft, reizbar, angespannt und überdreht. 
Die Daueranspannung ist so anstrengend und unaushaltbar, dass den Kindern letztlich eine Wahl bleibt, als die nächste Eskalation herbeizuführen, um danach für einen kurzen Moment Ruhe zu haben – und sei es durch Gewalt, Zwang, Verlassenwerden oder absolute Erschöpfung. 
Trotz allem sind auch diese schweren Bindungsstörungen behandelbar. Was es dazu braucht, wird im Film angedeutet: Intensive pädagogische Betreuung durch langfristig konstante Bezugspersonen, die wiederum ausreichend Zeit, Ressourcen und Supervision erhalten, um den langen und von Rückschlägen geprägten Weg zu gehen. Und eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, für die dasselbe gilt. Leider sind das Dinge, die wir uns als Gesellschaft bisher nicht leisten wollen. Und so lässt uns der Film am Ende ratlos und traurig zurück – ebenso wie schon viele der realen Bennis uns als Profis am Ende ratlos und traurig zurückgelassen haben.
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Game of Thrones: Daenerys

Am Ende von Game of Thrones scheiden sich ja die Geister. Unter anderem die Entwicklung von Daenerys Stormborn of House Targaryen, the First of Her Name, Queen of the Andals and the First Men, Protector of the Seven Kingdoms, the Mother of Dragons, the Khaleesi of the Great Grass Sea, the Unburnt, the Breaker of Chains (das soll doch zumindest einmal hier ausgeschrieben werden), über ihre Entwicklung zum Ende hin also, wurde viel und hitzig diskutiert. Was die Dramaturgie und Inszenierung angeht, können andere dazu mehr Substanzielles sagen (Zeynep Tufekci zum Beispiel), psychologisch jedoch lässt sich Danys Verhalten schlüssig erklären.

Daenerys hat nie ein sicheres Leben kennengelernt. Bereits als Kleinkind war sie auf der Flucht, dann im Exil. Die Eltern ermordet, war ihre einzige Bezugsperson ihr narzisstisch gestörter, gemeiner Bruder Viserys, der ihr immer klar machte, dass sie von ihm keinen Schutz zu erwarten habe, sondern vielmehr als willfähriges Faustpfand für seine Machtansprüche herzuhalten habe. Sie wurde zwangsverheiratet, vergewaltigt, betrogen, verraten, bekämpft. Mehrfach entging sie nur knapp Mordversuchen, teilweise aus den Reihen enger Vertrauter. 
Die Welt von Game of Thrones ist brutal, aber bei genauerem Hinsehen, haben doch die meisten Protagonisten in den frühen und prägenden Jahren ihrer Entwicklung zumindest eine liebevolle, fördernde und beschützende Bezugsperson. Die Stark-Kinder haben ohnehin ziemlich gute Eltern, selbst Jon Snow, der durch Catelyn abgelehnt wird, erfährt von Eddard Liebe und Anerkennung. Tyrion hat es weniger gut getroffen, immerhin hassen ihn Schwester und Vater und die Mutter hat er nie kennengelernt. Aber wenigstens hat er in seinem großen Bruder Jamie eine wichtige Bezugsperson, die ihm Liebe, Respekt und in der Kindheit auch Schutz gewährt. 
Solche Erfahrungen sind für Kinder wichtig, denn sie entscheiden darüber, ob sie sich im späteren Leben sicher und zuversichtlich in der Welt, v.a. in der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen, bewegen, oder ängstlich, misstrauisch und defensiv. Psychologen sprechen hier von Bindung. Für ein kleines Kind ist die Umwelt voller Gefahren und Überforderungen. Schon Hunger oder Müdigkeit können Herausforderungen sein, die es alleine nicht bewältigen kann. Darum ist die Erfahrung, dass andere Personen die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen, richtig deuten und auf sie zeitnah und effektiv reagieren, zentral für das Sicherheitsgefühl des Kindes. Wenn Kinder bei Angst und Überforderung regelmäßig und schnell Zuwendung in Form von Verständnis, Bestätigung und Hilfe erfahren, entsteht eine sichere Bindung bzw. das, was gerne Urvertrauen genannt wird. Diese sichere Bindungserfahrung bildet die Basis dafür, später selbstständiger und selbstsicherer die Welt, die ja zeitlebens ein immer wieder ungewisser, unsicherer, überfordernder und potentiell bedrohlicher Ort bleibt, zu explorieren. Im Vertrauen auf die eigenen Fähigkeiten und im Vertrauen auf die eigene Liebenswürdigkeit, die dazu führen wird, dass im Notfall auf die wichtigsten Bezugspersonen Verlass sein wird, wenn man alleine nicht mehr weiterweiß.
Daenerys ist nun nicht sicher gebunden. Sie sehnt sich zwar, wie jeder Mensch, nach Freundschaft und Liebe, ist aber gleichzeitig auch extrem misstrauisch und hat große Angst erneut verraten oder verlassen zu werden. Auch deshalb strebt sie so sehr nach absoluter Macht: Es fällt ihr leichter, Beziehungen zu Menschen aufzubauen, wenn diese hierarchisch unter ihr stehen, weil das ihr unbewusstes Ohnmachtsgefühl angesichts der Möglichkeit, verraten oder verlassen zu werden, mildert. Wir nennen ein solches Bindungsverhalten, das einerseits von großen Nähewünschen, andererseits von intensiver Angst geprägt ist, unsicher-ambivalente Bindung. 
Menschen mit stark ausgeprägter unsicher-ambivalenter Bindung neigen dazu, sich in Beziehungen übermäßig kontrollierend oder mitunter auch manipulativ zu verhalten, um für sich immer wieder Sicherheit herzustellen. Daenerys fordert von den Menschen um sie herum immer wieder Loyalitätsbeweise („bend the knee“) oder spricht Drohungen im Falle von Untreue aus („I´ll burn you alive“). Weil Jon Snow durch seinen Geburtsanspruch ihre Macht, die für sie Sicherheit bedeutet, potentiell bedrohen könnte, bleibt sie bei aller Liebe ängstlich und misstrauisch. Dies führt dazu, dass sie von ihm immer weitere Beweise seiner Loyalität und Liebe (für Dany in diesem Fall dasselbe) fordert und seinen Beteuerungen („You are my Queen“) nicht glauben kann, obwohl sie auf uns als Zuschauer lange Zeit sehr glaubwürdig klingen. Durch ihr Drängen auf exklusive Loyalität, bringt sie Jon zunehmend in Situationen, in welchen es für ihn tatsächlich immer schwieriger wird, Danys Ansprüchen gerecht zu werden, zum Beispiel, wenn sie von ihm verlangt, seine Schwestern über seine wahre Abstammung zu belügen. 
Die Gewissenskonflikte, in welche sie ihn damit bringt, bewirken tragischerweise genau das Gegenteil dessen, was Dany sich unbewusst erhofft: Jon kann sich ihr nicht mehr vorbehaltlos anvertrauen, zieht sich zurück, wird distanzierter und unsicherer, was seine ursprünglich so liebevollen Gefühle angeht. Dany wiederum spürt diese Distanz, was ihre alten Verlassenheitsängste erst recht aktiviert. Die Basis ihrer unsicheren Bindung, der Glaubenssatz „Wahre Liebe gibt es nicht. Zumindest nicht für mich. Nur Macht schützt mich vor der Feindseligkeit anderer“, wird wieder lauter in ihren Gedanken. 
So stellt sie Jon, stellvertretend für alle Mitmenschen, auf eine letzte ultimative Probe: Könnt ihr mich lieben, mich schützen, mir folgen, auch wenn ich die Stadt niederbrenne? Das wäre absolute Loyalität. Alles, was dieser entgegenstehen könnte, selbst familiäre Bindungen, oder ethische Prinzipien, beinhaltet für Dany schon Verrat und Untreue. Je unsicherer sie wird, umso radikaler versucht sie, Beweise dafür zu erzwingen, dass sie doch bedingungslos geliebt wird und lässt den anderen damit keine Luft mehr zu atmen, sie selbst zu sein, den eigenen Prinzipien treu zu bleiben. So funktionieren Beziehungen aber nicht. Liebe, die man nur beweisen kann, indem man sich selbst verleugnet, hört auf, Liebe zu sein und wird Zwang. Mal wieder hat Tyrion recht: „Duty is the end of love.” 

Mehr über das Finale von Game of Thrones gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören 

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You – Du wirst mich lieben: Joe

Leute sind schon irgendwie ´ne Enttäuschung. Du auch, Beck, du auch?“ 
Dieser Satz von Joe, dem Protagonisten der Netflix-Serie You – Du wirst mich lieben lässt bereits nach 4:59 Minuten der ersten Folge tief blicken. Hier ist jemand offenbar so tief und global von seiner sozialen Umwelt enttäuscht, dass es ihm als absolute Ausnahme erscheint, auf jemanden zu treffen, der keine Enttäuschung darstellt. Entsprechend wird die Möglichkeit einer solchen Begegnung idealisiert überhöht. 
Die Überzeugung grundsätzlich besonders oder einzigartig zu sein und auch nur von den wenigen anderen besonderen oder bedeutsamen Menschen verstanden zu werden und verkehren zu können, ist ein Kernmerkmal narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F60.80). Ebenso wie Phantasien idealer und grenzenloser Liebe, ein Mangel an Empathie und eine Tendenz zu ausbeuterischem Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen. 
Joe weist also deutliche narzisstisch gestörte Züge auf. Die Frage, ob er da klinische Vollbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bei ihm erfüllt ist, ist ein Grenzfall und für das Verständnis seines Verhaltens von untergeordneter Wichtigkeit, weshalb ich sie hier nicht weiter diskutieren will. 
Viel relevanter scheint Joes Bindungsstörung zu sein. Diese ist keine Diagnose nach ICD-10, sondern vielmehr ein grundlegendes, tief in der Persönlichkeit verankertes Erlebens- und Verhaltensmuster, dass verschiedenen pathologischen Verhaltensweisen zugrunde liegen kann. Joes gestörter Bindungsstil wird alsunsicher-ambivalent bezeichnet. Er hat von Beginn seines Lebens an erlebt, dass er sich auf wichtige Bezugspersonen nicht verlassen kann. Entweder wurde er im Stich gelassen, oder gar misshandelt. 
Dass er die Hoffnung auf Liebe nicht vollständig verloren hat, liegt an der Begegnung mit der ersten Person, die sich seiner angenommen hat: Mr. Mooney. Leider war Mr. Mooney ein autoritärer und jähzorniger Mann, der von Joe absoluten Gehorsam und uneingeschränkten Zuspruch erwartet und diese auch mit psychischer und physischer Gewalt erzwungen hat. 
Joes prägende Beziehungserfahrungen legen ihm also nahe, dass die meisten Beziehungen enttäuschend sind, während das seltene Glück einer stabilen, Orientierung und Zugehörigkeit bietenden Beziehung mit absoluter Unterwerfung und Selbstaufgabe bezahlt werden muss. Folglich bleibt seine Vorstellung von Liebe davon geprägt, dass man sich dem anderen entweder uneingeschränkt und grenzenlos hingibt, oder die Beziehung eben gar keinen Wert hat. 
Dass die meisten anderen Menschen, trotz eines vorhandenen Wunsches nach verlässlichen Beziehungen, Wert auf ihre individuelle Freiheit legen, kann sich Joe nur so erklären, dass sie, im Gegensatz zu ihm, die Falschheit und Brüchigkeit der meisten Beziehungen noch nicht durchschaut haben und den Wert bedingungsloser Selbstaufgabe daher nicht erkennen. Es ist folglich seine Pflicht, den Menschen, den er liebt, zu seinem Glück – der perfekten, exklusiven, ewigen Liebe – zu zwingen, so wie er von Mr. Mooney zu seinem Glück gezwungen wurde. 
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Tigermilch: Nini

Am 17. August 2017 kommt Tigermilch (Trailer) in die Kinos, die Verfilmung des gleichnamigen großartigen Jugendromans von Stefanie de Velasco (Wikipedia). Dass die Autorin am Film mitgearbeitet hat, lässt hoffen, dass die emotionale Intensität, die einzigartig authentische Sprache und das tiefe psychologische Gespür des Romans in den Film gerettet werden konnten.
So oder so: Leseempfehlung!
Die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen von Tigermilch, Nini und Jameelah, schlagen sich mit Mut, Kreativität, Humor und der Kraft ihrer Freundschaft durch ein Leben voller sozialer Probleme: Armut, Gewalt, Migration, Angst vor Abschiebung, soziale Stigmata, Sexismus, Sucht und Depressionen. Das bleibt nicht folgenlos: Sie selbst klauen, rauchen, trinken, schwänzen und lassen sich leichtfertig auf sexuelle Experimente ein, ohne die emotionalen Folgen abzusehen.
Tigermilch (benannt nach Ninis und Jameelahs Lieblingsdrink: Milch, Maracujasaft und Mariacron) versteht und beschreibt diesen Zusammenhang einfühlsam und klug. Für das Verständnis (und ggf. die Therapie) von Kindern und Jugendlichen, die normabweichendes Verhalten zeigen, ist kaum eine Erkenntnis so zentral, wie diese, die der Psychoanalytiker Alfred Adler (Wikipedia) prägnant so formuliert hat:
Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht, hat es welche.
Ninis Schwierigkeiten beginnen mit denen ihrer Eltern. An einer der berührendsten Stellen des Romans beschreibt sie ihre schwer depressive Mutter:
Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüsste schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.
Ninis Vater ist weg (ob tot oder abgehauen weiß ich nicht mehr). Was ihr bleibt ist die Erinnerung und die Sehnsucht nach jemandem, der sie hält und beschützt. Auf ihrer Suche danach, orientiert sie sich an dem, was sie kennt und wo sie vor langer Zeit einmal eine Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit hatte, das sich seither nicht mehr einstellen will:
Komisch, irgendwie riechen alle Männer, die ich mag, nach Alkohol und Zigaretten. Papa hat auch immer so gerochen.
Kinder psychisch erkrankter Eltern haben, je nachdem welche Erkrankungen vorliegen und ob ein oder beide Elternteile erkrankt sind, ein mehr oder weniger stark erhöhtes Risiko selbst psychische Störungen zu entwickeln (Mattejat, 2012).
Zentrale Belastungsfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern, die keinen konstruktiven Umgang mit der gemeinsamen Stresssituation finden sind Desorientierung („Was ist mit Mama/Papa los?“), Schuldgefühle („Ist Mama/Papa so traurig/wütend, weil ich böse war“), Tabuisierung („Über Familienangelegenheiten spricht man nicht mit Außenstehenden“) und schließlich Isolierung: Die Kinder werden zu Geheimnisträgern, schämen sich für ihre Familie und ziehen sich daher zunehmend aus dem Kontakt mit Außenstehenden zurück um nicht ständig lügen und bagatellisieren zu müssen oder sich als Verräter zu fühlen. Häufig übernehmen die Kinder in solchen Fällen Verantwortung und Aufgaben der Erwachsenen, um das Funktionieren der Familie und den äußeren Schein aufrecht zu erhalten, womit sie jedoch langfristig überfordert sind. Eindrücklich wird dieser Prozess in dem Kurzfilm Lilli von Jan Buttler gezeigt.

Nini ist noch nicht psychisch krank. Gefährdet ist sie aber durchaus. Sie balanciert ihren Alkoholkonsum, dissoziale Verhaltensweisen (Klauen, Lügen, Schule schwänzen) und ein erhöhtes Risiko durch ihren Umgang und ihre unbeschwert offensive Sexualität traumatische Erfahrungen zu machen am Rande eines Abgrunds, den sie ahnt, aber nicht wirklich sieht. Wie auch? – Sie kennt kein anderes Leben.
Dass sie sich bislang so gut durchgeschlagen hat, liegt an wesentlichen Ressourcen, die ihr, bei allen Risiken, gegeben sind. Fähigkeiten, Kenntnisse, Begabungen und soziale Beziehungen, die bei der Bewältigung von emotionalen Belastungen hilfreich sind und damit die Gesundheit schützen, nennt man Resilienzfaktoren.
Ninis wichtigste Resilienzfaktoren sind:
  • Intelligenz, die ihr hilft, zumindest manche Situationen richtig zu verstehen und einzuordnen und immer wieder kreative Problemlösungen zu finden.
  • Humor, der ihr hilft, viele der belastenden, aber durch sie selbst nicht veränderbaren Lebensumstände besser auszuhalten.
  • Freundschaft: Mindestens eine stabile, positiv empfundene Bindung an eine Bezugsperson stellt einen der wichtigsten Resilienzfaktoren dar. Für Nini ist das ihre Freundin Jameelah. Zumindest solange diese nicht abgeschoben wird…
Wenn jetzt noch ein aufmerksamer Lehrer, ein wohlwollender Nachbar, ein engagierter Jugendamtsmitarbeiter oder – natürlich – ein vernünftiger Psychotherapeut ins Spiel käme, wäre die Prognose für Ninis weitere emotionale und soziale Entwicklung gar nicht so schlecht.

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Die Simpsons: Bart

„Kannst du nicht was Konstruktives machen?“ – „Doch aber ich mach lieber was Destruktives!“

Dieser Dialog aus der zweiten Episode der elften Staffel der unsterblichen Simpsons beschreibt nicht nur die Beziehung zwischen Rektor Skinner und Bart Simpson, sondern steht symptomatisch für Barts Verhalten im Allgemeinen.

Bart zeigt alle Merkmale einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1), welche als Kombination einer Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10: F90.0, bekannt als ADHS) und einer Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91) definiert ist.

Bart erfüllt die Kriterien der für die Diagnose maßgeblichen vier Symptombereiche:
  1. Unaufmerksamkeit, z.B. Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten zuzuhören, geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
  2. Hyperaktivität, z.B. Zappeln mit Händen und Füßen, Herumspringen und –klettern in Situationen die Stillsitzen erfordern, allgemein lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
  3. Impulsivität, z.B. Unterbrechen oder stören anderer, Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen, Ungeduld, Unfähigkeit zum Aufschieben eigener Bedürfnisse
  4. Störungen des Sozialverhaltens, z.B. Missachten von Regeln, Verweigerung gegenüber Forderungen von Autoritäten, Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert, Lügen um Strafen oder Verpflichtungen zu umgehen, Zerstörung fremden Eigentums

Wie diese unvollständige Aufzählung zeigt, handelt es sich bei den Symptomen, insbesondere bei denen der ersten drei Punkte (welche ohne Punkt 4 die Diagnosekriterien des einfachen ADHS bilden), um Verhaltensweisen, die jedes Kind immer wieder zeigt und die vor allem bei jüngeren Kindern zum völlig normalen und für die motorische und psychische Entwicklung notwendigen Repertoire gehören.

Als Symptome einer psychischen Störung können diese Verhaltensweisen nur dann gelten, wenn sie zeitstabil, situationsübergreifend und für das Entwicklungsalter des Kindes unangemessen sind.

Wenngleich es Vertreter der Auffassung gibt, dass Aufmerksamkeitsstörungen ausschließlich durch genetisch bedingte Störungen des Hirnstoffwechsels verursacht werden, spricht vieles – inklusive der klinischen Beobachtung – dafür, dass, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine Kombination aus genetischer Veranlagung (der sog. Disposition) und Umwelteinflüssen für die Erkrankung verantwortlich ist.

Eine genetische Disposition ist im Einzelfall schwer nachzuweisen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch Barts Vater Homer Züge einer Aufmerksamkeitsstörung aufweist. Auch er ist häufig unaufmerksam und impulsiv. Hyperaktives Verhalten hingegen können wir bei Homer nur in Ausnahmefällen, wenn er von irgendetwas kurzfristig völlig eingenommen und begeistert ist, feststellen. Dies könnte dafür sprechen, dass bei Homer entweder ein ADHS ohne Hyperaktivität (dann gerne ADS genannt, in der ICD-10 kodiert als Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität F98.8) vorliegt, oder aber dafür, dass er seine Hyperaktivität seit vielen Jahren durch seinen chronischen Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) kontrolliert. In diesem Fall spricht man von Selbstmedikation. Diese ist bei Betroffenen von Aufmerksamkeitsstörungen, vor allem im Jugendalter, nicht selten und funktioniert nachgewiesenermaßen auch mit Nikotin und Cannabis (dennoch ist angesichts der erheblichen sozialen und gesundheitlichen Risiken selbstverständlich davon abzuraten!).

Welche Umwelteinflüsse könnten nun, neben einer möglichen genetischen Disposition, für Barts Störung maßgeblich gewesen sein? Auch hierbei scheint Homer die zentrale Rolle zu spielen. Entwicklungsschädliche soziale Umwelteinflüsse sind vor allem frühe Traumata und misslingende frühe Bindungserfahrungen. Ein Trauma ist ein belastendes oder ängstigendes Ereignis, das tiefe Verzweiflung oder Todesangst auslöst. Dass Bart von seinem Vater wiederholt und zum Teil völlig willkürlich gewürgt wird, könnte von ihm traumatisch erlebt und verarbeitet werden. Aber auch misslingende frühe Bindungserfahrungen, sogenannte Micro-Traumata, liegen zur Genüge vor: Bart wird von Homer beleidigt, beschimpft, belogen, manipuliert, ignoriert, benachteiligt und bedroht. Marge ist dagegen zwar eine sehr einfühlsame und fürsorgliche Mutter, allerdings sind diese Qualitäten für Bart nicht immer verlässlich verfügbar, da sie mit drei Kindern und einem außerordentlich unreifen Mann alle Hände voll zu tun hat. Zeitweise trinkt sie regelmäßig Alkohol um den Tag zu überstehen. Und auch sie gerät angesichts von Barts Verhalten immer wieder an ihre Geduldsgrenzen. Die subtile Ablehnung, die Bart in solchen Momenten auch von ihr erfährt, muss ihn umso mehr schmerzen, als seine beiden Schwestern so überaus pflegeleicht und wohlgefällig sind, dass sein eigenes Fehlverhalten vergleichsweise noch gravierender erscheint.

Man kann in der für Barts Störung typischen Symptomatik einen ambivalenten Versuch des Kindes sehen, mit den unzuverlässigen, sowohl ersehnten, als auch ängstigenden Zuwendungen der Eltern umzugehen. Das ruhelose, impulsive, teils aggressive Verhalten dienst zum Ausagieren der inneren Anspannung aufgrund der Bindungsunsicherheit, zum Erzwingen von Zuwendung durch die oft nicht wirklich aufmerksam-zugewandten Eltern und auch als trotzig-oppositioneller Protest gegen die erfahrene und erwartete Abweisung oder Aggression.

In der zu Anfang zitierten Simpsons-Episode wird Bart mit dem fiktiven Medikament Focusyn behandelt, das überdeutlich an das berühmt-berüchtigte Ritalin erinnert. Ritalin ist der bekannteste Handelsname des Wirkstoffs Methylphenidat, der zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt wird. Methylphenidat erhöht die Verfügbarkeit der Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin im Gehirn und kann sich positiv auf Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Reizhemmung und Selbstkontrolle auswirken.

Obwohl die Leitlinien zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen in Deutschland eine medikamentöse Behandlung immer in Kombination mit Psychotherapie empfehlen, ist die Darstellung der Behandlung bei den Simpsons zwar überspitzt, aber leider nicht ohne Parallelen zur Realität: Vor allem Marge ist eigentlich gegen eine medikamentöse Behandlung, wird aber von Barts Schule und den behandelnden Ärzten davon überzeugt, dass diese die einzige Möglichkeit sei. Zitat des Arztes: „Focusyn reduziert Klassenclownerie um 44%. Wirkungsvoller ist nur sportliche Betätigung.“ Damit spielen die Autoren der Serie auf eine durchaus vorhandene Tendenz zur Verhaltensoptimierung und Intoleranz gegenüber Abweichungen von der Norm an, die auch die anderen Kinder betreffen: Milhouse muss Vitaminpillen nehmen, Martin Hormone, Nelson trägt gar ein Elektroschockhalsband zur Verhaltenskonditionierung.

Auch die Wahnvorstellungen, die Bart durch Focusyn bekommt, zählen zu den möglichen, allerdings äußerst seltenen, Nebenwirkungen von Methylphenidat.

Bei aller Kritik, kann eine medikamentöse Behandlung nach sorgfältiger Diagnostik und in Kombination mit Psychotherapie (und ggf. auch Familientherapie) aber durchaus sinnvoll und für die Betroffenen einen große Erleichterung sein. Insofern sind Marges abschließende Worte, nachdem sie Barts Focusyn abgesetzt hat, gar nicht so unwahr: „Ab heute gibt es nur noch Liebe, Umarmungen und ganz altmodisches Ritalin!“


Mehr über Bart und die anderen Simpsons gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu erfahren

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Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



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Stranger Things: Elfi

In Stranger Things begegnet uns die kleine 011, genannt Elfi, die (zunächst) nicht spricht. Wir erfahren allerdings schnell, dass Sprachverständnis und auch die Fähigkeit zu sprechen eigentlich intakt sind. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie diese Fähigkeiten im sozialen Kontakt zunächst kaum einsetzen kann. Elfi zeigt damit die Symptome eines elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) wie folgt definiert:
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen)
  • An sich vorhandene Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache

 
Der elektive Mutismus wird in der ICD-10 den sogenannten Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit (F94) zugeordnet. Diese Störungen stellen häufig (aber nicht in jedem Einzelfall zwingend) Reaktionen auf bestimmte ungünstige soziale Bedingungen und negative oder unzureichende Erziehungserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen dar. Hierzu zählen Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch.

 
Aus psychotherapeutischer Sicht sind folglich Elfis frühere Beziehungserfahrungen interessant, über die wir in Stranger Things durch wiederholte Rückblenden tatsächlich einiges erfahren können. Elfi wurde unter mysteriösen Umständen von ihrer leiblichen Mutter getrennt und von Dr. Brenner in einem Labor aufgezogen, der vorgibt ihr Vater zu sein. Ob er ihr biologischer Vater ist, oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn für Elfi ist er lange Zeit die einzige elterliche Bezugsperson, ihr „Papa“. Wie jedes Kind hat sie eine starke emotionale Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut. Sie vertraut Dr. Brenner, genießt seine Zuwendung und fühlt sich von seinem Wohlwollen ihr gegenüber existenziell abhängig.

 
Diese starke emotionale Bindung, die dazu führt, dass Elfi – wie jedes Kind – alles ihr Mögliche dafür tun würde, um ihren Vater zufriedenzustellen, wird von diesem in schamloser und egoistischster Weise missbraucht. Wie immer es seinen Zwecken dient, manipuliert er Elfi, ködert sie mit der von ihr so dringend benötigten Zuwendung, nimmt keine Rücksicht auf ihre psychische und körperliche Gesundheit und hält sie in strikter Isolation, um die Abhängigkeit von seiner „Liebe“ konkurrenzlos aufrechtzuerhalten.

 
Damit liegt ein schwerer und langjähriger, v.a. psychischer, aber auch körperlicher, Missbrauch vor. Wie in der überwiegenden Mehrheit der Missbrauchsfälle stammt der Täter aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers und macht sich dessen emotionale Abhängigkeit zunutze. Diese ist auch der Grund, warum die Opfer sich selten, und wenn, dann oft erst spät, Hilfe holen. Genau wie Elfi, die lange Vieles mitmacht und erduldet, was ihr seelisch, moralisch und körperlich zuwider ist – aus Loyalität zu ihrer einzigen wichtigen Bezugsperson und aus Angst, deren Zuneigung zu verlieren. Vielleicht ahnt sie auch, trotz der gelungenen Abschottung gegenüber der Außenwelt, dass Dr. Brenners Versuche unethisch und vermutlich illegal sind und versucht ihn, durch ihre Kooperation vor Sanktionen zu schützen – ebenfalls ein häufiges Phänomen bei missbrauchten Kindern. So wird, Schätzungen zufolge, in Deutschland nur etwa einer von zwanzig Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gebracht!

 
Elfi zeigt, über den Mutismus hinaus, zahlreiche weitere Symptome und Verhaltensweisen, die typisch für Kinder mit Bindungsstörungen, also als Folge unzureichender oder negativer Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, sind (wenngleich diese immer nur als Hinweis auf die Möglichkeit solcher Erfahrungen, nicht als Beweis für diese gelten können).

 
Bei Elfi können wir, nachdem sie aus dem Labor geflohen ist und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, ein recht typisches Störungsbild missbrauchter Kinder erkennen, nämlich das der sogenannten reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.1). Diese ist gekennzeichnet durch ein ungewöhnliches, von der Altersnorm abweichendes, Beziehungsmuster, welches durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist: Einerseits suche nach Kontakt und Nähe, andererseits Angst und Schreckhaftigkeit mit der Folge plötzlichen Rückzugs oder aggressiver Abwehr.

Weitere Symptome einer reaktiven Bindungsstörung, die bei Elfi vorliegen, sind:

  • Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggression
  • Furchtsamkeit, Misstrauen, übertriebene Wachsamkeit
  • Traurigkeit
  • Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
  • Mangel an (positiven) emotionalen Reaktionen
 
Typisch für die reaktive Bindungsstörung ist jedoch auch, dass ihre Symptome sich (im Vergleich zu anderen psychiatrischen Symptomen) relativ schnell wieder zurückbilden können, wenn das Kind dauerhaft in ein günstigeres soziales Umfeld, mit schützenden, wertschätzenden und verlässlichen Bezugspersonen kommt.

 
So wird für Elfi Mikes Freundschaft, sein Vertrauen und seine Bereitschaft, immer wieder auf sie zuzugehen, selbst wenn sie sich eigenartig und bedrohlich verhält, zur wirksamsten Therapie.

 
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Sons of Anarchy: Jax und die Sons



Die über sieben Staffeln erzählte Geschichte der Sons of Anarchy ist eine Geschichte von Treue und Verrat, Loyalität und Rivalität, Liebe und Verlust. Zentrale Themen des menschlichen Seins also.

Schon Kleinkinder lernen, dass der Mensch Nähe und Bindung zu anderen Menschen braucht um zu überleben – physisch und emotional. Erst das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Liebenswürdigkeit durch Eltern und andere wichtige Bindungspersonen bildet die Basis für Selbstvertrauen, Stolz, Neugier und Mut. Das Wechselspiel von Entdeckung, Entwicklung, Leistung und Risiko auf der einen, Bindung, Sicherheit und Geborgenheit auf der anderen Seite, bestimmt das Leben.
Wie viel Rückversicherung durch Bindungspersonen ein erwachsener Mensch braucht, hängt maßgeblich von seinen frühen Bindungserfahrungen im Kindesalter ab. Sind die frühen Bindungen verlässlich, beschützend und wertschätzend, ermöglichen sie dem späteren Erwachsenen, sich auf der Grundlage einer inneren sicheren Basis im Leben voranzubewegen, flexible, gleichberechtigte Bindungen einzugehen und insgesamt ein gesundes Gleichgewicht zwischen Bindung und Individualität, zwischen Nähe und Distanz, zu leben. Je unsicherer oder negativer jedoch die frühen Bindungserfahrungen sind, umso mehr kann sich ein Mensch in einem ständigen Nähe-Distanz-Konflikt befinden, sprich: Sich einsam fühlen, wenn keine starke Bindungsperson verfügbar ist, sich aber gleichzeitig von zu großer Nähe bedroht und erdrückt fühlen.
Viele der Outlaws in Sons of Anarchy scheinen sich in einem latenten Nähe-Distanz-Konflikt zu befinden. An der Oberfläche lehnen sie Verbindlichkeiten, feste Beziehungen und einen Platz in der durch Normen definierten bürgerlichen Gesellschaft ab, predigen Anarchie, persönliche Freiheit und Außenseitertum. Vermutlich haben viele von ihnen eher ungute und instabile frühe Beziehungserfahrungen gemacht, so wie zum Beispiel Jax, der seinen Vater und Bruder verlor, dessen Stiefvater ein Gewaltverbrecher und dessen Mutter eine egozentrische und möglicherweise psychisch kranke Frau war.
Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die Outlaws der Sons of Anarchy ein geradezu übergroßes Bedürfnis nach Bindung und Nähe haben, was sich in der scheinbar endlosen, gänzlich unkritischen und unentwegt beschworenen Treue und Liebe zum Club und zur Familie (was für viele dasselbe ist) ausdrückt.
Der berühmte Psychoanalytiker Donald W. Winnicott* hat erkannt, dass hinter dissozialem, also regelverletzendem bzw. kriminellem Verhalten, häufig eine Hoffnung auf Bindung und Nähe – und sei es in Form von Strafe – steht.
So erscheinen uns die Söhne der Anarchie, aus einem psychologischen Blickwinkel betrachtet, als ehemals unsichere und im Stich gelassene Kinder, welche die dem menschlichen Leben immanente latente Spannung zwischen den einander entgegengesetzten Bedürfnissen nach Nähe und Distanz nicht aushalten und moderat in Form reifer, differenzierter Beziehungen lösen können. 
So gibt es nur bedingungslose Liebe oder grenzenlosen Hass. Selbstaufgabe oder Anarchie. 
Nähe bedeutet Unterwerfung, Distanz bedeutet Tod. 
Gotta live this life `till you die
*Winnicott, D.W. (2015). Aggression: Versagen der Umwelt und Antisoziale Tendenz. Klett-Cotta, 6.dt. Auflage.

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Grey’s Anatomy: Meredith

Meredith Grey aus Grey’s Anatomy nennt sich selbst die „dunkle und verdrehte“ Meredith. Dabei sind ihre Ängste, inneren Konflikte und Schwierigkeiten mit Beziehungen gar nicht so außergewöhnlich, wie sie scheinbar denkt. 

Wie bei vielen Menschen ist Merediths späteres Leben und die Gestaltung ihrer Beziehungen von den Erfahrungen geprägt, die sie in den ersten Lebensjahren mit ihren Eltern gemacht hat. Diese waren nicht einfach: Ihre Mutter war eine überaus ehrgeizige, aber auch kalte Frau. Ihr Beruf als Chirurgin, in dem sie es dann auch zu großem Ruhm brachte, stand für sie an erster Stelle, erst weit dahinter kamen Mann und Tochter. Ihre eigenen strengen Leistungsansprüche übertrug sie auf Meredith, die kaum je etwas gut genug machen konnte. Merediths spätere Berufswahl und ihr extremer Ehrgeiz, für den sie immer wieder an ethische Grenzen geht, sind Folgen ihrer durch die Mutter vermittelten latenten Selbstzweifel. Merediths Vater verließ schließlich seine unnahbare Ehefrau und ließ damit auch die fünfjährige Tochter mit ihr allein. So lernte Meredith aus den Erfahrungen mit ihren Eltern zwei Dinge über nahe Beziehungen: Wer von der Liebe anderer abhängig ist, ist verletzbar, sei es durch Erniedrigung oder durch Verlassenwerden. 
Jedoch gibt Meredith den Wunsch nach einer Halt und Vertrauen gebenden Beziehung trotz dieser Erfahrungen nicht ganz auf. Das spricht dafür, dass die ersten Jahre mit ihrem Vater gut waren, so dass sie ein Gefühl davon vermittelt bekommen hat, wie wohltuend Liebe und Geborgenheit sein können. Auch deshalb, nimmt sie ihm sein Fortgehen lange Jahre so übel. 
Das frühe Verlassenwerden erklärt auch, warum Meredith auf die zahlreichen späteren Verlusterfahrungen mehrfach mit heftigen und lang anhaltenden Ängsten reagiert, da zusätzlich zu der aktuellen Verzweiflung auch noch die existenzielle Angst des verlassenen Kindes von neuem aktualisiert wird. 
Aufgrund ihrer Kindheitserfahrungen bildet Meredith einen unsicher-ambivalente Bindungsstil aus, das heißt, sie wünscht sich insgeheim nichts sehnlicher, als eine Beziehung, die so sicher und wohltuend ist, wie die frühen Jahre in den Armen des zugewandten und schützenden Vaters. Gleichzeitig hat sie vor nichts mehr Angst, als davor, sich auf eine Beziehung einzulassen, in der sie wieder abhängig und damit verletzbar würde. 
Im Erwachsenenalter äußert sich die unsicher-ambivalente Bindung in einem unbewussten inneren Nähe-Distanz-Konflikt, der Meredith immer wieder dazu bringt, sich auf Beziehungen einzulassen, diese aber dann, aus Angst vor zu viel Nähe, aktiv zu beenden oder passiv zu boykottieren, bis der Partner sie beendet. 
So bleibt auch die große Liebe zu Derek lange Zeit eine On-Off-Beziehung und Meredith weist seine Wünsche und Forderungen nach mehr Verbindlichkeit immer wieder zurück. Sie muss sich zunächst versichern, dass Derek sich, wenn sie ihn nahe an sich heran lässt, nicht ebenso verhalten wird, wie sie es von ihren Eltern gewohnt ist. Diesen Prozess – unbewusst von Eigenschaften und Verhaltensweisen früherer Bezugspersonen auf die von aktuellen zu schließen – nennt man Übertragung.

Im Laufe der Zeit lernen jedoch beide, Kompromisse einzugehen: Derek lernt, Merediths Beziehungsängste zu akzeptieren und schraubt seine eigenen Vorstellungen von Ehe und Romantik zurück, um sie damit nicht zu überfordern. Meredith lernt, Derek zunehmend als eigenständige Person zu sehen und sich in der Beziehung zu ihm weniger von ihren alten Ängsten leiten zu lassen.
So entwickeln sie ihre ganz eigenen Strategien, wie die Post-It-Hochzeit oder die stillen Momente im Aufzug, und machen ihre Beziehung, mit viel Geduld, Mut und Flexibilität, zu etwas Einzigartigem.

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New Girl: Nick & Schmidt

Nick Miller und der vornamenlose Schmidt aus New Girl sind ein ungleiches Freundespaar. Während Schmidt alles mit Leidenschaft, Hingabe und Perfektionismus tut und sich dabei häufig in Überengagement verrennt und in Detailverliebtheit verliert, scheut Nick Herausforderungen und Veränderung und schiebt die wenigen Ziele, die er überhaupt hat, chronisch auf. Während Schmidt in allem der Beste sein will, will Nick scheinbar in überhaupt nichts der Beste sein.
Schmidt und Nick sind wie Aktivität und Passivität, Engagement und Lethargie, Unrast und Ruhe, Veränderung und Bewahrung, Progression und Stillstand, Interesse und Desinteresse, Motivation und Genügsamkeit, laut und leise, schnell und langsam…
Besonders deutlich wird die Gegensätzlichkeit von Schmidt und Nick im Bezug auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Schmidt geht die Meinung und Wertschätzung anderer über alles. Er sucht ständig Kontakt, teilt seine Gefühle mit und möchte mit ihnen wahrgenommen und beachtet werden. Er nimmt sich selbst, aber auch sein Gegenüber, immens wichtig. Er würdigt, hegt und zelebriert seine Beziehungen zu den ihm wichtigen Menschen. Nick dagegen scheut zu enge und emotionale Beziehungen und Situationen. Er behält sein Innerstes möglichst für sich und zeigt eher durch nüchterne und pragmatische Taten, als durch große Worte und Gesten, wenn ihm etwas am anderen liegt. Er bemüht sich nicht um Anerkennung, sondern lehnt Konventionen und gesellschaftliche Leistungsansprüche renitent ab. Wenn es Schmidt schlecht geht, möchte er Hilfe und Trost, wenn es Nick schlecht geht, möchte er in Ruhe gelassen werden.
Dieses Beziehungsverhalten ist die Folge unterschiedlicher Bindungsstile. Bindungsstile bilden sich in der Kindheit aus und werden vor allem durch die Beziehungen zu den engsten Bezugspersonen, also meist den Eltern, geprägt.
Gelingt den Eltern ein ausgeglichenes Maß an Fürsorge und Gelassenheit, können die Kinder lernen, dass sie in Beziehungen einerseits Schutz und Sicherheit erfahren können, dass aber auch vorübergehende Trennungen zu bewältigen sind und die Beziehung dadurch nicht zerbricht. Der daraus entstehende Bindungsstil, der durch ein ausgewogenes Verhältnis aus Bezogenheit und Selbstständigkeit gekennzeichnet ist, wird sichere Bindung genannt.
Schmidt und Nick haben deshalb immer wieder Probleme in Beziehungen, weil sie äußerst problematische Beziehungen zu ihren Eltern, vor allem den Vätern, hatten. 
Schmidts Vater hat die Familie aus heiterem Himmel verlassen, woraufhin der kleine, geschwisterlose Schmidt mit seiner Mutter zurückblieb, die ihn fortan kompensatorisch mit Zuwendung, vor allem in Form von Essen, überschüttete und ihm sogar den Hollywoodstar und Batman-Darsteller Buster Keaton als imaginären Brieffreund zur Seite stellte. 
Schmidt lernte daraus, dass Beziehungen unerwartet und abrupt abbrechen können und die Trauer darüber nur durch die übermäßige Zuneigung anderer bewältigt werden kann. Es ist folglich kein Wunder, dass er ständig die Bewunderung und Aufmerksamkeit anderer sucht und sich doch niemals wirklich in einer Beziehung sicher fühlen und entspannen kann. Man nennt diesen Bindungsstil unsicher-ambivalente Bindung
Nicks Vater war ein unzuverlässiger Lebemann, der seinen Sohn immer wieder für seine Zwecke instrumentalisiert und die Familie enttäuscht hat. Wann immer Nick die Hoffnung hatte, dass sein Vater sich geändert haben und endlich verantwortungsvoll und selbstlos geworden sein könnte, wurde er von ihm wieder enttäuscht. Für seine Mutter und seine Geschwister versuchte Nick den unzuverlässigen Vater zu ersetzen und übernahm zu früh zu viel Verantwortung. 
Nick hat daraus gelernt, dass enge Beziehungen entweder zu Enttäuschung und Verletzung führen, oder erfordern, dass man sich einseitig für andere, die ihre Schwächen weniger gut überspielen können, aufopfert und dabei die eigenen Bedürfnisse unterdrückt. Folglich vermeidet er es, sich zu sehr auf andere einzulassen und enttäuscht deren Erwartungen bereits im Voraus, um nicht selbst vereinnahmt oder enttäuscht zu werden. Dieser Bindungsstil heißt unsicher-vermeidende Bindung
So gegensätzlich Nick und Schmidt hinsichtlich ihres Bindungsverhaltens sind, so gut ergänzen sie sich, nicht zuletzt gerade deshalb, als Freunde. 
Nick kann sich Schmidts Freundschaft stets gewiss sein und wird ihrer von Schmidt immer wieder überschwänglich versichert, ohne dass er selbst allzu offen zu seinen Gefühlen stehen und sich um Schmidts Loyalität bemühen muss. Dadurch kann er sich in der Beziehung zu Schmidt aufgehoben fühlen, ohne Angst haben zu müssen, selbst zu viel zu investieren. 
Schmidt hat in Nick einen Freund gefunden, der nicht mit ihm konkurriert, der ihm Raum für seine Selbstdarstellungen und selbstverliebten Höhenflüge lässt und der trotzdem verlässlich da ist, wenn er danach wieder auf dem Boden ankommt und einfach nur einen ganz normalen Freund braucht. 
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