Casablanca: Rick

Hätte man dem charismatischen Cafébetreiber Rick Blaine aus dem Filmklassiker Casablanca von 1942 etwas über Depressionen erzählt, hätte er wahrscheinlich angenommen, es gehe um die jüngste amerikanische Wirtschaftskrise. Allenfalls hätte er ein vages Bild des psychologischen Depressionsbegriffes als irgendeine neurotische Spinnerei für Frauen und Feiglinge gehabt…

Tatsächlich sind die Symptome einer depressiven Störung nur schwer in Übereinstimmung zu bringen mit dem Männerbild, das Rick geprägt hat und zu dessen Inbegriff er wurde.
Diese Symptome sind nach ICD-10 (F32):
  • Depressive/gedrückte Stimmung
  • Interessen-/Freudverlust
  • Antriebsminderung, gesteigerte Ermüdbarkeit
  • Verlust des Selbstvertrauens
  • Schuldgefühle
  • Suizidgedanken
  • Konzentrationsstörungen, Unentschlossenheit
  • Psychomotorische Hemmung oder Agitiertheit
  • Schlafstörungen
  • Appetitstörungen
Nun mögen die starren Geschlechtsrollenstereotypen mit denen Rick aufgewachsen ist, inzwischen etwas (!) an Gültigkeit verloren haben, Tatsache ist dennoch, dass Männer statistisch seltener an einer solchermaßen definierten depressiven Störung erkranken. Haben Männer also weniger Grund, traurig, verzweifelt und niedergeschlagen zu sein? 
In Ricks Fall wohl kaum! Als unter ungeklärten Umständen seiner Heimat beraubter Paria findet er in Paris die Liebe seines Lebens, nur um von dieser später ohne weitere Erklärung wieder verlassen zu werden. In Casablanca baut er sich ein neues Leben auf und genießt hohes Ansehen unter den Ausgestoßenen, Gestrandeten und Verfolgten Europas. 
Aber glücklich wirkt er dabei nicht. Kränkung und Verlust sitzen zu tief. Der frühere Idealist und Philanthrop, der mehrfach im antifaschistischen Widerstand engagiert war, ist zum Egoisten und Zyniker geworden („Ich halte für niemanden den Kopf hin“). 
Er begegnet seinen Mitmenschen gereizt und herablassend (Ugarte: „Sie verachten mich, nicht wahr?“ Rick: „Wenn ich einen Gedanken an Sie verschwenden würde, wahrscheinlich“).
Er provoziert und beleidigt seine Gäste (Rick: „Sie können Ihr Geld an der Bar ausgeben.“ Deutscher Gast: „Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?“ Rick: „Das weiß ich, seien Sie froh, dass Sie überhaupt an die Bar dürfen.“). Er benutzt und verletzt die Frauen (Yvonne: „Wo warst du gestern Nacht?“ Rick: „Das ist schon solange her, ich erinnere mich nicht mehr.“ Yvonne: „Sehen wir uns heute Nacht?“ Rick: „Ich plane nie soweit im Voraus.“). Er schmuggelt, besticht, zockt, raucht und trinkt.

Rick, der vor dem Verlust seiner großen Liebe (und auch später, nach dem Wiedersehen mit ihr) ein ganz anderer (gewesen) zu sein scheint, zeigt damit die Symptome eines psychopathologischen Konstrukts, das als male depression (männliche Depression) bezeichnet wird.
Dieses Syndrom, das noch nicht Eingang in die offiziellen internationalen Klassifikationssysteme psychischer Krankheiten gefunden hat, beschreibt eine mehr an (typischerweise) männlichen Erlebens- und Verhaltensweisen orientierte Reaktion auf depressive Gefühlslagen und soll verhindern, dass depressive Störungen bei männlichen Patienten übersehen, oder fehldiagnostiziert werden (z.B. als Sucht oder dissoziale Persönlichkeitsstörung).
Vorgeschlagene Kriterien für die Diagnose einer male depression sind:

  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol- und Nikotinmissbrauch
Während sich die psychologische Forschung unserer Tage dem Phänomen der männlichen Depression langsam annähert, wusste Captain Renault in Casablanca Ricks Verhalten bereits richtig einzuordnen: „Weil ich, mein lieber Rick, den Verdacht hege, dass unter dieser zynischen Schale ein recht sentimentales Herz schlägt.“ Er erkennt Ricks Schmerz, gesteht ihm aber auch seine Abwehrmechanismen zu. Er trinkt, raucht und scherzt mit ihm und als es darauf ankommt, lässt er ihn nicht hängen. Wie man das unter Männern macht.
So entlockt er schließlich dem notorischen Zyniker Rick die berühmtesten Schlussworte der Filmgeschichte: „Louis, ich denke das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
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Dark Knight Trilogy: Batman

Batman ist die, in einen High-Tech-Fledermaus-Kampfanzug gewandete, Tarnidentität des Milliardärs Bruce Wayne, mithilfe derer er nachts Verbrecher in den Straßen seiner Heimatstadt Gotham City jagt. Batmans Geschichte wird, nicht zum ersten Mal, im Rahmen der Filmtrilogie “Batman Begins”, “The Dark Knight” und “The Dark Knight Rises”, wie folgt erzählt:
Bruce Wayne wächst zunächst unter vermeintlich idealen Bedingungen auf. Besonders sein Vater scheint geradezu traumhaft gut zu sein: Selfmade-Milliardär, sozialer Wohltäter, liebender Ehemann und Vater. Umso mehr können wir annehmen, dass sich der kleine Bruce, angesichts dieses schier unerreichbaren Rollenvorbilds, schon früh mit Insuffizienz- und Minderwertigkeitsgefühlen herumzuschlagen hat. Allerdings müssen diese, um die dringend benötigte Fürsorge des Vaters nicht zu gefährden, ins Unbewusste verdrängt werden.

Erstmals erschüttert wird die heile Welt des Bruce Wayne durch den Sturz in einen dunklen Brunnenschacht, in welchem es von Fledermäusen wimmelt. In der Folge dieser als lebensbedrohlich erlebten Situation (aus welcher ihn schließlich sein Vater befreit!), entwickelt er eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) mit den folgenden Symptomen:

  • Wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Albträume)
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen
  • Vermeidung von Umständen, die der Belastung ähneln
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten)

Die Angst in traumaassoziierten Situationen und der Drang diese zu vermeiden, führen dazu, dass Familie Wayne eine Oper, in deren Verlauf Fledermäuse umherflattern, vorzeitig durch einen Seiteneingang verlassen muss und das Elternpaar von einem Straßenräuber ermordet wird. Bruce entwickelt daraufhin starke Schuldgefühle. Dass er sich insgeheim manchmal vom übergroßen Schatten des Vaters frei gewünscht hätte, dürfte diese zusätzlich verstärkt haben. 

Seine ohnmächtigen Schuldgefühle projiziert er auf den Täter und schmiedet irgendwann im Lauf der nächsten Jahre einen Racheplan, welchen er bei dessen Haftentlassung umzusetzen versucht. Bis dahin scheint ihn die Rachephantasie für ein äußerlich unauffälliges und leidlich erfolgreiches Leben als Student einer Eliteuni ausreichend stabilisiert zu haben. Als der unausgegorene Racheplan an der Realität scheitert, wirft die narzisstische Kränkung den jungen Mann in eine schwere Depression (ICD-10: F32.2), die sich in typisch männlicher Weise manifestiert:

  • Sozialer Rückzug
  • Zynismus
  • Gereiztheit
  • Parasuizidales Risikoverhalten

Trotz der, zum Markenzeichen stilisierten, Einzelgängerrolle bleibt Bruce insgeheim weiterhin von der Sehnsucht nach der verlorenen väterlichen Anerkennung und mütterlichen Geborgenheit getrieben, welche er beide auf seine Jugendliebe Rachel verschiebt, wobei er das gemeinsame Glück aber vermeidend in eine phantasierte Zukunft projiziert, wahrscheinlich aus Angst, Rachel durch seine untergründig empfundene Unvollkommenheit zu enttäuschen und/oder zu gefährden und dadurch (wie die Eltern) wieder zu verlieren.
Als Rachel (und mit ihr die Erlösungsphantasie) im zweiten Film “The Dark Knight” tatsächlich stirbt, wiederholen sich die Schulddepression und schließlich, zu Beginn des dritten Films “The Dark Knight Rises”, der bekannte Ausweg aus dieser durch die Flucht in die Rolle des maskierten Helden. Wieder wird die empfundene Schuld auf die Bösen projiziert und das Minderwertigkeitsgefühl durch die narzisstische Selbstglorifizierung als edler Rächer abgewehrt.

Bruce Wayne ist also gefangen in einem sich ständig neu inszenierenden Dilemma, einem chronisch misslingenden Beziehungsmuster: Zwar hat er den starken Wunsch von seinen Mitmenschen geliebt und angenommen zu werden. Jedoch ist er in seinem tiefsten Inneren davon überzeugt, den Erwartungen nicht genügen zu können (vermutlich aufgrund des idealisierten und unerreichbaren väterlichen Vorbilds). In dem subjektiven Zwang, sich perfekt und damit liebenswert zu präsentieren, spaltet er alle mit dem väterlichen Idealbild nicht vereinbaren Selbstaspekte (Angst, Rachsucht, Aggressivität, Bindungsängste, Depression…) mithilfe des heimlichen Alter-Egos Batman ab. Tragischerweise wird der nach außen wahrgenommene Bruce Wayne dadurch eindimensional und leer, vermag Andere nicht wirklich an sich zu binden (mit Ausnahme von Rachel in einer Mischung aus Nostalgie und Mitleid).

Der traurige, einsame Bruce Wayne kann einem wahrlich leid tun und man ist regelrecht dankbar, dass Hollywood ihm nach drei langen Filmen voller Leiden und zermürbenden Selbstzweifeln doch noch ein Happy End schenkt.
Gönnen wir also diesem leidgeprüften Batman sein wohlverdientes Glück und trinken mit Alfred einen Fernet Branca auf sein Wohl!

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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