Joker: Im Kern ein Charakterdrama

Ein Gastbeitrag von M.Sc. Psych. Christiane Attig 
Im Genre der Superheldenfilme existieren gefühlt zwei Lager: zum einen gibt es die quietschbunten, CGI-überladenen, humorgespickten Heldengeschichten wie Guardians of the Galaxy oder The Avengers, die vorrangig im alles überschattenden Marvel Cinematic Universe beheimatet sind. Zum anderen gibt es die dunkleren, psychologischeren, ernsthafteren Streifen, die sich weniger um mit Superkräften ausgestattete Helden drehen, sondern die persönlichen Geschichten und Beweggründe ihrer Protagonist*innen in den Fokus rücken. Christopher Nolans Dark Knight-Trilogie, James Mangolds Logan oder M. Knight Shyamalans Split kann man in letztere Kategorie fassen, die nun mit Todd Phillips‘ Joker einen weiteren Eintrag erhält.
Joker erzählt die Geschichte von Arthur Fleck, der gemeinsam mit seiner Mutter Penny in einem wirtschaftlich schlecht gestellten Stadtteil von Gotham City lebt – die Stadt, die Batman ebenfalls seine Heimat nennt und die dieser immer wieder von Kriminalität, Gewalt und Korruption zu reinigen versucht. In Joker existiert Batman allerdings noch gar nicht, denn dieser Film zeigt uns, wie aus Arthur Fleck der Joker wurde: der Erzfeind Batmans, der offenbar aus reiner Freude heraus wahllos Menschen tötet und dadurch Angst und Chaos in Gotham verbreitet. 
Die Darstellung dieser Entwicklung verfügt anscheinend über eine gewisse Brisanz, denn über wenige Filme wurde in den letzten Jahren intensiver sowohl im deutschen und internationalen Feuilleton als auch in der Filmpodcast-Landschaft diskutiert. Kritische Stimmen werfen dem Drehbuch Ideenlosigkeit und Stigmatisierung psychisch kranker Personen vor. Wohlwollende Stimmen sprechen von gelungener Kritik am kapitalistischen System und einer rührenden Darstellung des Protagonisten, die seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Aus der Perspektive der Klinischen Psychologie ist die Entwicklung Arthur Flecks hin zum Joker aber vor allem eines: realistisch. Und vielleicht ist gerade das der Punkt, weswegen die Entwicklung wie „Küchenpsychologie“ wirkt. Achtung: ab hier wird massiv gespoilert! 
In der ersten Szene des Films sehen wir Arthur, der sich für seinen Job vorbereitet: er schminkt sich zum Clown, um in den Straßen Gothams Werbeschilder zu halten und so die Bewohner der Stadt zum Konsum anzuregen. Gleichzeitig erfahren wir durch die Nachrichten, die im Hintergrund laufen, dass sich der Müll in den Straßen der Stadt türmt. Die Regierung spart an den falschen Stellen, die Reichen stecken sich immer mehr Geld in die eigenen Taschen und die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Doch das Leben an der Armutsgrenze ist nicht Arthurs einziges Problem: neben seiner neurologischen Störung, die in Stresssituationen ein Tic-artiges unwillkürliches und ununterdrückbares Lachen hervorruft, leidet er außerdem an Depressionen (und möglicherweise weiteren Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als er von seiner Therapeutin erfährt, dass die finanziellen Mittel sowohl für seine Gesprächs- als auch Pharmakotherapie gestrichen werden, gesteht er ihr, dass es ihm nicht nur schlecht ginge, nein: er habe ausschließlich negative Gedanken. Während er diese jedoch bisher relativ gut im Griff hatte, beginnen diese ihn nach dem erzwungenen Absetzen seiner Psychopharmaka und Psychotherapie zu übermannen. Die soziale Zurückweisung und das Mobbing, das er im Grunde (abgesehen von seiner Mutter und einem seiner Arbeitskollegen) von jeder Person in seinem Umfeld erfährt, kann nicht mehr abgefedert werden und entlädt sich in mörderischen Wutanfällen. Seine ersten Opfer sind mobbende Wallstreet-Yuppies. Ein Dreifachmord im Affekt, der negativ verstärkt wird: die Täter sind tot, die Schmerzen verschwunden.
Im späteren Verlauf des Films erfahren wir mit Arthur, worin seine neurologische Störung und seine psychischen Probleme begründet sind. Einer der früheren Partner seiner Mutter misshandelte Arthur als er ein Kind war, und fügte ihm dabei eine schwere Kopfverletzung zu – ein Trauma, das Arthur bis zur Gegenwart verdrängt hatte. Außerdem war seine Mutter Penny in der Vergangenheit wegen eigener psychischer Störungen in Gothams berühmter psychiatrischen Klinik, dem Arkham Asylum, untergebracht; hier wird eine familiäre Vorbelastung angedeutet. Doch das ist nicht alles: Jahrzehntelang belog Penny ihn bezüglich seiner Herkunft. Arthur, der ohnehin Bindungsprobleme aufweist, fühlt sich letztlich von der einzigen Person, von der er sich geliebt fühlte, verraten. Die Abwärtsspirale, die schon in vollem Gange ist, wird dadurch weiter angeheizt: suizidale Tendenzen und Rachegedanken manifestieren sich immer stärker und gipfeln in der Ermordung seines Idols vor laufenden Kameras. Ein Mord, der eine einzige Inszenierung ist. Ein Mord, der als politisches Zeichen instrumentalisiert wird. Ein Mord, für den Arthur positive Verstärkung in Form von Bewunderung und Glorifizierung erhält. Arthur ist tot, lang lebe der Joker. 
Was wir hier über zwei Stunden zu Gesicht bekommen, ist eine prototypische Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells zur Entstehung psychischer Störungen. Dieses besagt, dass zur Entwicklung solcher Störungen eine angeborene oder erworbene Vulnerabilität die Stressverarbeitungsressourcen des Individuums dauerhaft verringern. Erlebt das Individuum später akute Stressoren, die die Coping-Ressourcen übersteigen ohne dass schützende Resilienzfaktoren vorhanden sind, dann kommt es zur Manifestation der Störung. Arthur ist von Kindesbeinen an beeinträchtigt: er kommt aus wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen, lebt mit einer psychisch beeinträchtigten Mutter, erlebt Kindesmisshandlungen und erwirbt dadurch eine Behinderung, die ihn sozial ausgrenzt. All das hat vermutlich zur Entstehung der Depression beigetragen. Dank Psychopharmaka und Psychotherapie schafft er es jedoch, ein relativ geordnetes Leben zu führen. Als diese Ressourcen wegfallen, sinkt seine Stressverarbeitungskapazität jedoch wieder. Psychische und körperliche Gewalt, Einsamkeit und Wut können nicht mehr adäquat verarbeitet werden und Arthur wird zum Joker.
Joker zeigt somit eine nachvollziehbare und psychologisch plausible Entwicklung seines Protagonisten, mit der die Zuschauenden mitfühlen können. Arthur ist Opfer seiner Umstände: seines sozialen Umfelds, seiner Behinderung, des Wirtschaftssystems, der Regierung. All das ist eine Erklärung, nicht jedoch eine Entschuldigung: Die Verantwortung für seine Taten bleibt stets einzig bei Arthur. Die Verantwortung für den Weg dorthin aber nicht nur. So klagt der Film auch ganz Gotham an, insbesondere die, die die Fäden der kapitalistischen Stadt in der Hand halten, wie die Familie Wayne. Und das bedient letztlich das allgemeine Narrativ der Batman-Geschichte: Gotham bringt den Joker hervor, der Joker und Batman bedingen sich gegenseitig. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.  
„Madness, as you know, is like gravity. All it takes is a little push”, das sagte schon der von Heath Ledger verkörperte Joker in The Dark Knight. Dass dieser Joker, der durch eine dissoziale Persönlichkeitsstörung charakterisiert ist, die logische Fortführung der neuen, von Joaquin Phoenix verkörperten Joker-Iteration sein könnte, ist durchaus denkbar. Einige Einstellungen aus Todd Phillips‘ Film sind sogar offensichtliche Hommagen an The Dark Knight. So kann die Jokergenese über Filme und Inszenierungen hinweg weitergedacht werden. 
Vielleicht ist Joker für manche Menschen zu viel Erklärung. Vielleicht ist manchen Menschen ein mysteriöser Joker lieber. Einer, von dem man überhaupt nicht weiß, warum er so agiert wie er es tut. Einer, von dem man behaupten kann, dass er nun mal einfach „irre“ sei. Joker zeigt aber durch die Nachvollziehbarkeit: Arthur wurde nicht böse geboren. Das Böse gibt es nicht. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu bösen Handlungen in sich. Und letztlich sind wir alle verantwortlich dafür, dass nicht das Böse Überhand gewinnt, sondern Solidarität, Mitgefühl und Verständnis, füreinander und sich selbst.
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Mindhunter

Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das ganze schien, wie die typische „FBI jagt durchgeknallten Psychokiller“-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von „Psycho“ (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und „Killer“ (also Kriminalität). 

Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus, der alles was zu unangenehm ist, gerne in den Bereich des pathologischen abschiebt, wie eben auch den Gedanken, dass dieses Unangenehme etwas mit uns selbst zu tun haben könnte. Wenn ein unvorstellbar brutales Verbrechen geschieht, ist der Gedanke, dass so etwas jederzeit und überall durch einen nach Außen hin unauffälligen Mitmenschen geschehen könnte, schwerer zu ertragen, als das Narrativ vom durch und durch gestörten „Psychopathen“, denn letzterer ist wenigstens selten und verkehrt irgendwo, aber sicher nicht in unserem näheren Umfeld. Der „Psychopath“ ist von Grund auf so gestört, dass ihn mit uns selbst scheinbar gar nichts mehr verbindet, so dass sich auch die Fragen nach gesellschaftlichen Ursachen für kriminelles oder sonstwie abweichendes Verhalten und nach Präventionsmöglichkeiten nicht stellen. 
Diese Fragen sind anstrengend. Erstens, weil sie komplex und schwierig zu beantworten sind und zweitens, weil die Antworten, die ggf. doch gefunden werden, mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, die ihrerseits noch anstrengender sein könnten. Deshalb ist neben dem „Psychopathen“ auch der „islamistische Terrorist“ als Täter beliebt, weil er – völlig fanatisch und verwirrt – ebenso außerhalb unserer Alltagswelt zu stehen scheint. 
Dieser Abwehrmechanismus nennt sich Projektion: Gefühle oder Fakten, die für uns unangenehm sind, weil sie mit unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Selbstverständnis schwer vereinbar wären, werden auf andere projiziert, also diesen zugeschrieben. Diejenigen werden dann möglichst weit ausgegrenzt um mit der Distanz zu ihnen auch Distanz zu den unangenehmen Gefühlen und Gedanken herzustellen und uns selbst wieder sicher sein zu können, das mit uns selbst alles in bester Ordnung ist: „Gewalt und Sexismus sind das Problem junger Zuwanderer – deshalb gehören die ja auch nicht hierher. Frauen, die von treusorgenden Familienvätern vergewaltigt werden, waren früher Hexen und mussten verbrannt werden – heute sind sie zumindest ein bisschen selbst schuld, also Schlampen, und müssen mindestens solange geächtet werden, wie sie zu kurze Röcke tragen. Donald Trump ist halt ein Narzisst, wenn er abgewählt oder impeacht wird, ist alles wieder gut.“ Usw., usf.

Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen („weil nicht sein kann, was nicht sein darf“) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.). In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.
Folglich entstehen auch psychische Störungen – wie z.B. die dissoziale Persönlichkeitsstörung, von welcher einige der in Mindhunter interviewten Mörder betroffen sind – durch das Zusammenwirken genetischer und epigenetischer Veranlagungen – welche die Entwicklung einer bestimmten Störung zwar wahrscheinlicher machen, aber noch nicht bedingten – mit sozialen Faktoren, wie z.B. Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung. Dieses Zusammenspiel wird im sogenannten Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) beschrieben. Mit diesem Modell kann man sich die Entwicklung einer Krankheit etwa wie eine Treppe vorstellen, an derem oberen Ende der Ausbruch der Krankheit steht. Die durch genetische und epigenetische Faktoren bedingte Veranlagung (Diathese) bestimmt sozusagen das Ausgangsniveau. Wer bspw. mit einer hohen erblichen Vorbelastung geboren wird, befindet sich bereits zu Beginn einige Stufen weiter oben. Nun kommen im Laufe des Lebens weitere pathogene (krankheitsfördernde) Faktoren (sog. Stressoren) hinzu, z.B. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, oder in anderen Kontexten auch ein ungesunder Lebensstil, Umweltgifte etc., welche die betroffene Person jeweils weitere Treppenstufen nach oben steigen lassen. Werden auf diese Weise im Laufe der Zeit durch Diathese und Stressoren insgesamt genug – bzw. zu viele – Stufen erklommen, wird also der kritische Schwellenwert für die jeweilige Erkrankung erreich, kommt diese zum Ausbruch. 
Auf diese Weise lässt sich erklären, dass ähnliche Lebenserfahrungen bei einer Person z.B. zur Ausbildung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung führen, bei der anderen nicht. Aber auch, dass Menschen mit ähnlicher genetischer Veranlagung (z.B. Geschwister oder gar Zwillinge) sich psychisch und gesundheitlich ganz unterschiedlich entwickeln können. Die große Erkenntnis Holden Fords, die auch für die Psychotherapie und die Präventionsarbeit, ob im Gesundheits- oder Kriminalitätsbereich, sowie wahrscheinlich für die meisten anderen Felder der Beschäftigung mit Menschen, gilt, ist, dass es der sorgfältigen, differenzierten und unvoreingenommenen Betrachtung des einzelnen Individuums bedarf, um wirklich zu verstehen. Offenbar trifft das manchmal auch auf Fernsehserien zu. Ich muss also Abbitte leisten. Mindhunter ist spannend und befriedigt unser Bedürfnis nach Thrill durch die Konfrontation mit dem Grausamen und Bösen – macht dabei aber gerade nicht den Fehler, dieses zu trivialisieren und in den Bereich des im wörtlichen Sinne „un-menschlichen“ zu verdrängen. 

Mehr zu Mindhunter gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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Flesh and Bone: Mia

Viele der Balletttänzerinnen in Flesh and Bone zeigen (worauf der Serientitel schon hinweist) Symptome von Essstörungen. Am deutlichsten ersichtlich werden diese bei Claires Mitbewohnerin Mia, deren Essstörung in der Serie auch thematisiert wird.

Mia leidet unter einer Anorexia nervosa, der Krankheit, die als Magersucht bekannt ist. Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F50.0) ist eine Anorexia nervosa zu diagnostizieren, wenn die folgenden Symptome vorliegen:  
  • Das Körpergewicht liegt unter einem Body-Mass-Index (BMI) von 17,5 
  • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung
  • Körperschemastörung
  • Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode)

Der BMI wird nach folgender Formel berechnet: (Körpergewicht in kg) : (Körpergröße in m)². Bei Mias geschätzter Körpergröße von etwa 1,75 läge die Grenze bei einem Körpergewicht von 53,6 kg.
Dass sie nur sehr wenig bzw. sehr selten isst, wird immer wieder thematisiert, zum Beispiel wenn Mia Claire, nur scheinbar scherzhaft, berichtet, sie habe sich einen Keks nur gekauft, um ihn anzusehen, oder als Claire ihr im Streit sagt, sie habe sie mit Essen im Mund gar nicht erkannt. Sich leckeres, hochkalorisches Essen, vor allem Süßigkeiten, aufzuheben um es anzusehen oder daran zu riechen und sich dadurch einerseits eine visuelle oder olfaktorische Ersatzbefriedigung zu verschaffen, andererseits der eigenen Willensstärke zu versichern, ist eine nicht seltene Strategie von Menschen mit Anorexia nervosa. Ebenso typisch ist, dass Mia offenbar nie vor anderen isst, da das Essen zu etwas schambesetztem geworden ist und sie Angst davor hat, ihr Essverhalten könne kritisch beobachtet und bewertet werden.    
Neben dem restriktiven Essen nimmt Mia, wie sie ihrem Arzt berichtet, Diätpillen (Appetitzügler) und Abführmittel ein.
Ob Mia eine Körperschemastörung hat, das bedeutet, ob sie ihren Körper oder einzelne Körperregionen, trotz ihres Untergewichts weiterhin als zu dick wahrnimmt, wissen wir nicht genau. Ebenso ist uns nicht bekannt, ob sie ihre Periode noch bekommt. 
Diese beiden Merkmale der Anorexia nervosa werden aber wiederholt durch die anderen Tänzerinnen in Flesh and Bone gezeigt. Zum Beispiel, wenn eine von ihnen offenbar sehr überrascht, fast schockiert ist, als sie ihre Tage bekommt und auch die anderen (bis auf Claire) mit eigenartigem Ekel scheinbarer Verachtung darauf reagieren. Oder wenn zum Beispiel Claires eher normal große Brüste immer wieder abfällig als zu groß beurteilt werden. Auch das restriktive Essen scheint unter den Tänzerinnen weit verbreitet, was deutlich wird, wenn sie die Schwangere Mitarbeitern der Ballettschule mit oberflächlicher Verachtung, aber deutlich spürbarem unterschwelligem Neid beim Essen von Fast Food beobachten. 

Bis heute sind die genauen Ursachen der Anorexia nervosa und deren Interaktion nicht vollständig wissenschaftlich geklärt. Vieles spricht aber für ein Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Faktoren.  
Ob in Mias Familie gehäuft Essstörungen auftreten, was auf eine genetische Veranlagung hinweisen würde, wissen wir nicht. Sollte es so sein, würden Psychologen von einer genetischen Disposition sprechen, das heißt, durch die genetische Veranlagung besteht ein erhöhtes Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, aber nur, wenn zusätzlich gesellschaftliche Faktoren sowie familiäre und/oder persönliche Auslöser hinzukommen.  

Gesellschaftlichen Einflüssen, welche die Entwicklung einer Anorexia nervosa fördern, ist Mia fraglos zur Genüge ausgesetzt. Nicht nur, dass sie wie die meisten Mädchen in der westlichen Welt unserer Zeit von dünnen Puppen über dünne Popstars bis zu den dünnen Mädchen in Topmodel-Shows mit unrealistischen Ansprüchen an die weibliche Figur indoktriniert wurde (tatsächlich gaben in einer Studie 39% der an Anorexia nervosa erkrankten Frauen und Mädchen an, Germanys next Topmodel habe ihre Krankheit besonders beeinflusst), sie bewegt sich als Tänzerin auch noch in einem Umfeld, in dem der soziale Druck und die Kritik im Hinblick auf die eigene Figur ins Extrem getrieben werden.  

Familiäre Faktoren, die den Ausbruch einer Essstörung begünstigen können, liegen vor, wenn in Familien starke, oft unausgesprochene Konflikte bestehen oder Familien extremen Wert auf Aussehen, Leistung, gesunde Ernährung und das äußere Ansehen der Familie legen. In der Person von Mias Mutter finden wir all dies prägnant verkörpert.  
Last but not least bestehen bei Mia diverse persönliche Risikofaktoren: Sie ist permanent hohem Stress und großem Leistungsdruck ausgesetzt. Sie hat unter den Tänzerinnen keine gute Freundin, findet, trotz einiger Versuche, keinen Freund und hat, trotz größter Anstrengung, als Tänzerin nicht den Erfolg, den sie sich erhofft.  
Leider gelingt es Mia nicht, ihre Anorexia nervosa zu überwinden, bevor sie an der schweren körperlichen Erkrankung Multiple Sklerose erkrankt. Aus Verzweiflung darüber versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wird sie rechtzeitig von Romeo entdeckt und kann (zumindest vorerst) gerettet werden. In der Klinik werden die Ärzte auch auf ihre Essstörung aufmerksam. Zudem bemüht Claire, die von Mia als ihre schärfste Konkurrentin wahrgenommen wurde, sich um sie und zeigt ihr damit, dass es wichtigeres als Perfektion und Erfolg gibt. Vielleicht wird so die zweite schwere Krankheit in Mias Leben zum Wendepunkt…
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Homeland: Carrie

Im Zentrum von Homeland steht die CIA-Agentin Carrie Mathisen. Carrie leidet unter einer bipolaren affektiven Störung (ICD-10: F31). Die Bezeichnung bipolar bezieht sich darauf, dass das Hauptmerkmal der Störung ein Wechsel zwischen den beiden Extrempolen affektiven Erlebens, Manie und Depression, ist.

Relativ viele Menschen, die unter Stimmungsschwankungen oder widersprüchlichen Gefühlen leiden, meinen sich in mehr oder weniger seriösen Beschreibungen der bipolaren affektiven Störung („himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt…“) wiederzufinden, also „manisch-depressiv“ zu sein. Tatsächlich sind aber die meisten Stimmungsschwankungen völlig normal und eine bipolare affektive Störung mit Krankheitswert recht selten.

In Homeland können wir dagegen viel über eine wirkliche bipolare affektive Störung lernen.

Diese ist zu einem bedeutsamen Anteil genetisch determiniert, das heißt, Angehörige von Erkrankten haben ein (Studien zufolge bis zu siebenfach) erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken. Diese Disposition hat Carrie von ihrem Vater geerbt. Allerdings wird nicht jeder Mensch mit familiärer Vorbelastung krank, Carries Schwester Maggie leidet beispielsweise nicht unter der Störung.
Warum bei gleichem genetischem Risiko ein Mensch erkrankt und der andere nicht, erklärt das psychologische Diathese-Stress-Modell. Es besagt, dass zur Disposition für eine bestimmte Erkrankung (Diathese) noch belastende Faktoren (Stress) hinzukommen müssen, um zum Ausbruch der betreffenden Krankheit zu führen. Je stärker die genetische Disposition, umso geringer die Stressschwelle und umgekehrt.

Im Verlauf der Serie erfahren wir, dass Carrie krank wurde, nachdem sie begonnen hatte, aufs College zu gehen. Für eine so ehrgeizige Person wie sie, dürfte das mit einigem Stress verbunden gewesen sein. Zudem hat sich an ihrem ersten Collegetag ihre Mutter von der Familie abgewandt und nie mehr gemeldet, worunter sie beträchtlich gelitten haben muss. Es gibt Hinweise darauf, dass der Weggang Carrie schwerer getroffen hat, als Maggie. Zunächst scheint Maggie die ältere zu sein, möglicherweise war sie bereits in ihrem Leben als Ärztin, Ehefrau und Mutter angekommen und gefestigt, während Carrie gerade erst auf dem Sprung zur Verselbstständigung und entsprechend irritierbar war. Darüber hinaus hat Maggie ein engeres Verhältnis zum zweiten Elternteil, ihrem Vater, der später auch bei ihr lebt. Möglicherweise hatte sie als ältere noch mehr „gute“ Jahre mit ihm, bevor er selbst krank wurde. In ihrem Beruf als Ärztin wird der Wunsch deutlich, für den kranken Vater da zu sein, während sie der Mutter nicht verzeiht, dass sie ihn verlassen hat.

Anders Carrie: Sie hat Verständnis für ihre Mutter, die es mit dem kranken Vater nicht mehr ausgehalten hat. Sie verdrängt auch ihre eigene Krankheit, welche sie mit den schwachen Seiten des Vaters verbindet, und sucht sich stattdessen in Person von CIA-Agent Saul einen Ersatzväter, der Macht, Stärke und Belastbarkeit verkörpert.

Die Verdrängung der eigenen Schwäche zeigt sich auch in Carries Lebensstil. Sie ist ein Workoholic und definiert sich selbst fast ausschließlich über ihren Beruf. Sie arbeitet viel, ernährt sich ungesund, trinkt zu viel, schläft zu wenig, nimmt ihre Medikamente unregelmäßig und ohne fachärztliche Kontrolle und hat keine stabilen, vertrauensvollen Beziehungen in ihrem Privatleben. Somit finden wir in Carries Alltag nahezu alle Stressoren, die den Ausbruch der Erkrankung begünstigen. Auch das unterscheidet sie von Maggie, deren Leben wesentlich beschaulicher und geregelter zu sein scheint.

Als die Belastungen immer größer werden und sie zudem ihre Medikamente absetzt, erlebt Carrie schließlich einen Rückfall. Dieser verläuft nach dem typischen Muster des Typs I der bipolaren affektiven Störung: Eine manische Phase gefolgt von einer depressiven Phase.

Carrie erlebt dabei das Vollbild einer manischen Episode, wie sie in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F31.1) folgendermaßen definiert ist: Eine Periode abnormer und ständiger gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die mindestens eine Woche dauert und während der mindestens drei der folgenden Symptome vorliegen:

  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Ideenflucht oder Gefühl von Gedankenrasen
  • Verlust normaler sozialer Hemmungen, was zu unangemessenem Verhalten führt
  • vermindertes Schlafbedürfnis
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten, dessen Risiken die Betroffenen nicht erkennen
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit

Zusätzlich können bei manischen Episoden psychotische Symptome in Form wahnhafter Ideen und Überzeugungen auftreten, also zum Beispiel Größen- und Verfolgungswahn oder Verschwörungsideen. Carries Theorien bewahrheiten sich zwar letztlich, wirken aber zunächst derart bizarr und unglaubwürdig, dass sie von ihrem Umfeld für wahnhaft gehalten werden.
Im Anschluss an die Manie verfällt Carrie in eine schwere Depression, wobei die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dabei ein Stück weit auch dem realen Scheitern ihres Lebensentwurfs als nimmermüde, stets überlegene und einsam erfolgreiche Topagentin Rechnung tragen.

Carries psychische Störung spiegelt auch die emotionale Bipolarität ihres Umfeldes wieder. Der in einer als feindlich erlebten Welt manisch-getriebene CIA-Apparat kultiviert seinen Größenwahn, indem er zwanghaft Informationen und Daten sammelt, wahllos Menschen manipuliert und instrumentalisiert und sich über alle legalen und moralischen Grenzen erhebt. Aus dem Kampf um die eigene Daseinsberechtigung ergibt sich der Zwang zur Verbreitung und Rechtfertigung der eigenen Paranoia.
Doch am Ende jeder manischen Jagd auf einen Feind steht immer wieder die Depression. Weil der Feind zwar getötet wurde, aber Hass und Rachedurst der Gegenseite umso stärker brennen. Weil Rückschläge und Fehler nicht verziehen werden. Weil Erfolge von Oben vereinnahmt und Misserfolge dem Einzelnen angelastet werden. Weil Freunde sich als Verräter und Versprechen als Lügen herausstellen. Weil Böse gut und Gute böse sind. Weil letztlich jeder für sich selbst kämpft und alleine stirbt.

Zum Ende der ersten Staffel von Homeland stellt sich Carrie schließlich ihrer Krankheit, gesteht sich ihre Schwäche ein und lässt sich professionell behandeln. Zunächst mit Medikamenten, dann mit Elektrokonvulsionstherapie (EKT). Dabei werden durch Elektroschocks Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst und in diesem antidepressive Botenstoffe freigesetzt und regenerative Mechanismen angestoßen. Im Kreise ihrer Familie, mit geregelten Arbeitszeiten, entspannenden Hobbys, Psycho- und Pharmakotherapie hätte sie wohl eine recht gute Prognose gehabt. Doch die Firma hat andere Pläne…

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