True Detective: Rust


Der True Detective Rustin „Rust“ Cohle ist ein mürrischer Zeitgenosse. Seit dem Unfalltod seiner kleinen Tochter leidet er unter einer chronischen depressiven Störung, die als Dysthymia bezeichnet wird. Diese zeichnet sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F34.1) dadurch aus, dass die Symptomatik zwar weniger stark ausgeprägt ist, als bei einer akuten depressiven Episode (ICD-10: F32), dafür aber über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhält. In Rusts Fall äußert sich die depressive Symptomatik außerdem auf die für Männer typische Weise, in Form einer sogenannten male depression:
  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol-/Nikotin-/Drogenmissbrauch

Zum Zeitpunkt der beiden Handlungsebenen von True Detective ist Rusts Depression bereits chronifiziert und aus seinem Alkohol-, Nikotin-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hat sich eine Multiple Substanzabhängigkeit entwickelt. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F19.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen

Eine gravierende schädliche Folge von Rusts Drogen- und später Medikamentenkonsum (vor und während des frühen Handlungsstranges) sind die dadurch ausgelösten Halluzinationen. Da diese eindeutig im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen (später, als Rust nur noch trinkt, treten die Halluzinationen nicht mehr auf) und über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten, liegt eine halluzinatorische substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.52) vor, auch bekannt als Drogenpsychose.

Was Rust Cohle so charismatisch und interessant macht, ist, dass er, neben seinen vielfachen und schwerwiegenden psychopathologischen Beeinträchtigungen, ein überaus intelligenter und offenbar sehr gebildeter Mann ist, der den Zuschauer und, zu dessen Leidwesen, seinen Partner Martin Hart, an seiner depressiven Weltsicht teilhaben lässt.

Rust zeigt dabei ein für depressive Störungen typisches Denkmuster, welches die Kognitionspsychologie als Kognitive Triade bezeichnet. Diese ist durch eine negative und hoffnungslose Sichtweise auf drei zentrale Lebensbereiche gekennzeichnet:
  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft

Rust schreibt den Menschen im Allgemeinen überwiegend negative Eigenschaften, vor allem Selbstsucht, Eitelkeit und Ignoranz, zu. Sich selbst nimmt er davon nicht aus, sondern beansprucht für sich lediglich, die bittere Wahrheit im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Mitmenschen nicht zu verdrängen.

Sein, zuvor wahrscheinlich optimistischeres, Weltbild scheint durch den Tod seiner Tochter zerstört worden zu sein. Eine Welt in der unschuldige Kinder sterben und all die anderen Gräueltaten, die er in seinem Job erlebt möglich sind, kann nur schlecht sein. Um den Schmerz über den Verlust seiner Tochter besser aushalten zu können, findet der intelligente und eloquente Rust nachträglich viele gute Argumente für die Verkommenheit der Welt als Ganzes. Man nennt das Rationalisierung. So kommt er zu dem Schluss, dass es das Glück seiner kleinen Tochter war, in einer so durchweg schlechten Welt, nicht lange genug zu leben, um von ihr korrumpiert zu werden. Daran wird deutlich, dass Rust gar nicht mehr anders kann, als in der Welt nur das Schlechte zu sehen, da er sonst wieder ungeschützt seiner unverarbeiteten Trauer ausgesetzt wäre.

Das misanthropische Weltbild, das Rust sich selbst immer wieder dadurch bestätigt, dass er sich obsessiv mit Verbrechen, Leid und menschlichen Abgründen beschäftigt und alle einladenden Gesten wohlwollender Mitmenschen zurückweist, lässt ihn auch für die Zukunft nur Schlechtes erwarten: Habgier, Hass, religiöser Fanatismus und Umweltzerstörung werden, so Cohle, dazu führen, dass die Menschheit sich selbst vernichtet. Wenn es nach ihm geht, darf sie vorher noch erkennen, was ihm schon lange klar ist: Dass alles von Anfang an sinnlos war.

Psychologen nennen das Depression, Philosophen Melancholie, Nihilisten wahrscheinlich Realismus. Rusts Partner Martin versucht es mit Humor zu sehen: „Für einen Typen, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht, machst du dir ganz schön viele Gedanken darüber.“

Mehr zur ersten Staffel von True Detective gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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Breaking Bad: Walter



In Breaking Bad können wir den Aufstieg (und Fall?) des Mittelschicht-Chemielehrers Walter White zum skrupellosen Drogendealer mit dem Pseudonym Heisenberg verfolgen. Die Handlung setzt ein, als Walter ein inoperabler Lungenkrebs diagnostiziert und eine Restlebenszeit von wenigen Jahren prognostiziert wird.

Über Walters Leben vor der Diagnose erfahren wir nur wenig. Offenbar war er einst ein äußerst begabter Chemiker, kreativ, wissbegierig und dadurch erfolgreich. Bis zu seinem fünfzigsten Geburtstag, an welchem er die Krebsdiagnose erhält, scheint er jedoch den Großteil seiner Vitalität eingebüßt zu haben. Was passiert ist, wissen wir nicht. Wahrscheinlich nur der Alltag und das Alter.

Als wir Walter kennenlernen, weist er die diagnostischen Merkmale einer Dysthymia(ICD-10: F34.1) auf, einer chronischen subdepressiven Verstimmung. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Symptomatik nicht so stark ausgeprägt ist, wie bei einer manifesten depressiven Störung, dafür aber über mindestens zwei Jahre konstant oder wiederkehrend anhält. Bei Walter lassen sich die folgenden charakteristischen Symptome beobachten: 

  • Antriebslosigkeit
  • Geringes Selbstvertrauen
  • Verlust der Freude an Sexualität
  • Sozialer Rückzug
  • Verminderte Gesprächigkeit
Dies ändert sich jedoch schlagartig, als Walters deprimierende Alltagsroutine durch die katastrophale Krebsdiagnose erschüttert wird: Umgehend fasst er den Plan, Crystal Meth zu kochen und zu verkaufen, um Geld für seine Familie aufzutreiben.
Doch diese relativ rationale Ausgangsmotivation kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dem eine plötzliche und fundamentale Veränderung von Walters Erlebens- und Verhaltensweisen zugrunde liegt: Der ehemals, im Rahmen seiner Dysthymia, überangepasste, stille und unterwürfige Walter neigt jetzt auf einmal zu Wutausbrüchen und impulsiver Aggressivität, ebenso wird eiskaltes kriminelles Kalkül sichtbar. Die depressive Stimmungslage schlägt in umtriebige Vitalität und aggressive Gereiztheit um, Antrieb und Libido sind gesteigert, der Selbstwert wirkt plötzlich erhöht, Empathie und soziale Anpassung sind verschwunden. Auffallend ungerührt begeht Walter nun Verbrechen, lügt, bricht Regeln und Versprechen, greift zu körperlicher Gewalt und psychologischer Manipulation.

Eine derart auffallende Veränderung der Erlebens- und Verhaltensweisen in direktem Zusammenhang mit einer starken psychosozialen Belastungssituation wird in der Psychopathologie als Anpassungsstörung bezeichnet. Da Walter überwiegend Symptome aus dem dissozialen Spektrum zeigt (Missachtung sozialer Normen, Empathielosigkeit), ist eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F43.24) zu diagnostizieren.
Wie lässt sich nun diese massive Symptomverschiebung erklären? Wie wird aus einem depressiven Spießer quasi über Nacht ein gewalttätiger Drogendealer? Um das zu verstehen, müssen wir uns eingehender mit Walters Persönlichkeit und ihrer Psychodynamik befassen.
Der junge Walter, wir lernen ihn in einer Rückblende kennen, ist ein energischer, charismatischer und begabter Wissenschaftler. Er erzielt erste Erfolge, die ihn seiner überdurchschnittlichen Intelligenz und Begabung versichern. Die Welt steht ihm offen und er weiß das.
Doch die Welt bleibt Walter viel schuldig: der akademische Ruhm ist flüchtig und bleibt schließlich ganz aus. Weniger Begabte machen die großen Karrieren. Die verwöhnten Highschool-Kids, die er schließlich als Chemielehrer unterrichtet, respektieren ihn und seine Kenntnisse nicht. Ihre offene Geringschätzung wird ein Quell ständiger Kränkung. Wenngleich ihm die meisten intellektuell nicht gewachsen sind, steht nun ihnen die Welt offen, während er zum zuschauen verdammt ist.
Auch privat bleibt das große Glück aus. Attraktion und Erotik werden im Alltag des Ehelebens zerrieben, der Stammhalter ist behindert, sozial isoliert und zeigt kein Interesse daran, die hochfliegenden Träume des Vaters stellvertretend zu leben.
All dies, inklusive des entwürdigenden Zweitjobs als Autowäscher und der Angebereien seines Schwagers, der sich als männlich-kerniger Super-Drogenfahnder inszeniert, scheint Walter über Jahre hinweg geduldig zu ertragen: Er ist ein bescheidener Mann. Es könnte schlimmer sein.

Doch die früheren Träume von Großartigkeit, Einfluss und Anerkennung sind nicht einfach ausgelöscht, sie sind lediglich ins Unbewusste verdrängt worden, um den deprimierenden Alltag nicht durch Gedanken, wie alles hätte werden können, noch unerträglicher zu machen.
Die narzisstischen Fantasien über die eigene Person, wie und wer man selbst sein könnte, wenn nur die Umstände perfekt und die eigenen Schwächen besser unter Kontrolle wären, nennt die Psychologie Größenselbst. Es hat die Aufgabe, der heranwachsenden Persönlichkeit die Angst vor der großen, weiten Welt zu nehmen, indem sie beeinflussbar, ja beherrschbar wirkt, und dadurch Entwicklung zu ermöglichen. Auch schützt das Größenselbst das Ich vor allzu großen Selbstzweifeln und Resignation angesichts der alltäglichen Kränkungen und Insuffizienzen.
Walters Größenselbst ist zwar tief ins Unbewusste verdrängt, doch dort wartet es, lauert. Während das Bewusstsein Kränkung um Kränkung stoisch einsteckt, wächst das unbewusste Größenselbst kompensatorisch umso mehr. Geltungsdrang, Rachegelüste, hedonistische Bedürfnisse werden zugunsten der emotionalen Abstumpfung, die den Alltag erträglich macht, ins Unbewusste verschoben und nähren dort das Größenselbst.
Und dessen Stunde schlägt schließlich: Die erschütternde Diagnose ist die ultimative Kränkung, die finale Ungerechtigkeit. Das Leiden, Ertragen, Funktionieren werden nicht belohnt, es wird kein Happy End geben, die fetten Jahre folgen nicht mehr, nach den vielen dürren soll einfach Schluss sein. Walters psychische Überlebensstrategie ist gescheitert.

Die zu erwartende Konsequenz, nach der initialen Schockstarre, wäre der völlige Zusammenbruch: Verzweiflung, Resignation, Depression, vielleicht Suizid. Doch anstelle der totalen Depression, tritt das lange verdrängte Größenselbst. Verzweiflung und Hilflosigkeit werden jetzt verdrängt, um den Zusammenbruch zu verhindern. Das Ich kämpft mit allen Mitteln ums Überleben. Vom Tode bedroht, schwingt sich Walter selbst zum Herrn über diesen auf. Seine eigene, akute Sterblichkeit wird verleugnet, von Behandlungsoptionen will er nichts wissen. Im Mord an seinen Kontrahenten im Drogenbusiness ist er es, der den Tod beherrscht. Warum Walter White, der Langweiler mit dem deprimierenden Leben und dem unwürdigen Tod sein, wenn man Heisenberg sein kann, gottgleiches Genie, Nobelpreisträger – oder Drogenbaron.

Das Leben, die Gesellschaft, sie haben Walter White nichts geschenkt – Heisenberg schuldet ihnen nichts.

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