The Walking Dead: Negan

Negan aus The Walking Dead ist ein beeindruckender Bösewicht. Schon vor seinem ersten Auftritt in der Serie wurde viel über die aus den Comics bekannten Figur spekuliert und auch in der Serie selbst schien sich die Präsenz eines mächtigen Gegenspielers sich bereits im Vorfeld subtil atmosphärisch abzuzeichnen.

Dann, in der letzten Folge der sechsten Staffel, hat er seinen ersten Auftritt und dieser wird in einem gut zehnminütigen Monolog zelebriert. 

Aus psychotherapeutischer Sicht ist das erste Kennenlernen einer Person, im Falle der Therapie die sogenannte Eingangsszene, von großem Interessen, da wir davon ausgehen, dass Patienten uns im ersten Kontakt besonders deutlich die Informationen liefern, welche sie – bewusst oder unbewusst – als wichtige Angaben über sich selbst und damit als relevant für die Therapie erachten. 

Dabei unterscheidet man drei Formen von Information:

  1. Objektive Informationen: Fakten und Daten, die objektiv überprüfbar sind
  2. Subjektiv Information: Die emotionale Bedeutung, die der Patient bestimmten Daten und Fakten persönlich verleiht. Diese ist ihm bewusst und kann dem Therapeuten (ggf. auf Nachfrage) mitgeteilt werden.
  3. Szenische Informationen: Durch die Gestaltung der Szene, also durch Auftreten, Körpersprache, Ausdrucksweise etc. teilt der Patient unbewusst Informationen über sich selbst mit. Diese können mit den objektiven und subjektiven Informationen übereinstimmen, oder aber diesen widersprechen.
Aus der aufmerksamen Registrierung aller drei Informationsquellen versucht der Therapeut, ein möglichst umfassendes Bild des Patienten, seiner Persönlichkeit und der zentralen Themen und Konflikte zu gewinnen.

Betrachten wir Negans ersten Auftritt unter diesen Gesichtspunkten erhalten wir eine Menge objektiver, subjektiver und szenischer Informationen.
Objektive Informationen sind beispielsweise sein Name, Negan, der Name seines Baseballschlägers, Lucille, oder auch die vielen Regeln und Konsequenzen, die er verkündet. Dieses sind Fakten. Sie können richtig oder falsch, gut oder böse sein, sind aber objektiv überprüfbar und bedürfen zur Überprüfung keiner subjektiven Einordnung oder Erklärung.
Relevante subjektive Informationen sind zum Beispiel, dass Negan verärgert darüber ist, dass die Gruppe um Rick viele seiner Leute getötet hat. Hier benennt er ein Gefühl, keinen Fakt. Niemand außer ihm kann dieses Gefühl überprüfen. Jemand anderes könnte infolge derselben objektiven Information (Negans Leute wurden getötet) andere Gefühle haben, ohne dass dadurch Negans Gefühl falsifiziert wäre. Oder die Tatsache, dass Negan Lucille großartig findet. Auch hier könnten Andere anderer Meinung sein.
Häufig am interessantesten sind die szenischen Informationen, da diese erst durch Interpretation erschlossen werden müssen und in Teilen meist der Person selbst nicht bewusst sind. Die offensichtlichste szenische Information, die Negan vermittelt, ist, dass er die mächtigste anwesende Person ist und diese Macht zur Kontrolle der anderen einsetzen möchte, was zur objektiven Information der von ihm aufgestellten Regeln und Konsequenzen passt. Negan vermittelt diesen Machtanspruch durch seine aufrechte, breitbeinige Körperhaltung, während die anderen knien müssen. Weitere typische Inszenierungen eines überlegenen Status sind seine langsame, ruhige, mittellaute Sprechweise, der intensive Blickkontakt und das räumliche Eindringen in den persönlichen Bereich seines Gegenübers, wenn er unangenehm nahe an sie herantritt.
Eine weitere wichtige szenische Information ist seine vermeintliche Unberechenbarkeit. Niemand soll sich allzu sicher fühlen. Daher wird er immer wieder überraschend laut, wechselt die Gangrichtung, wendet sich mal dem einen, dann spontan dem anderen zu, täuscht Angriffe an um sie wieder abzubrechen oder doch überraschend an anderer Stelle zuzuschlagen. Auch diese Information sendet Negan bewusst und absichtlich.
Wer jedoch genau hinsieht, kann auch szenische Informationen entdecken, die Negan offenbar unbewusst sendet, da sie nicht zu seiner bewussten Inszenierung als eiskalter und unberechenbarer Gewaltherrscher passen.
So ist zum Beispiel einen kurzen Moment lang seine Anerkennung, vielleicht sogar Bewunderung für Darryl, der versucht ihm Paroli zu bieten, sichtbar, bevor er schnell wieder in sein gewohntes Auftreten zurückfindet. Gleiches gilt für eine kurzen Moment mit Carl, als Negan sich zu ihm auf die Knie begibt um Augenhöhe zu dem Jungen, der immerhin eines seiner Gewehre erbeutet hat, herzustellen.
Hier zeigt sich eine wichtige unbewusste Seite Negans, die auch deshalb relevant ist, weil sie ihm möglicherweise zum Verhängnis werden könnte: Negan ist entgegen Selbstwahrnehmung sehr abhängig von der Bewunderung anderer Menschen. Insbesondere von Menschen, die er selbst respektiert, meist weil sie sich als mutig oder willensstark erwiesen haben, möchte er eben nicht nur gefürchtet, sondern vielmehr unbedingt bewundert werden.
Dadurch handelt er immer wieder irrational, z.B. wenn er extrem viel Zeit darauf verwendet, Darryl oder Carl zu beeindrucken. Auch schätzt er dadurch bestimmte Situationen falsch ein. Während fast alle anderen, inklusive der Saviors und deren Arbeitern, ausschließlich Angst vor ihm empfinden, interpretiert er deren Unterwürfigkeit als Respekt. Dies verleitet ihn immer wieder, sich leichtfertig in Situationen zu begeben, in denen er durchaus angreifbar wäre, weil er mehr positive Bewunderung und Zuneigung vermutet, wo meist nur Angst, aber auch eine gehörige Menge Hass sind.
So zeigt uns Negan bereits in der Eingangsszene, und ohne es zu wollen, zwei wichtige Merkmale seiner narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80):
  • Das exzessive Bedürfnis nach Bewunderung und
  • das Gefühl nur mit einigen wenigen, ebenfalls besonderen Personen auf Augenhöhe sein zu können.
Weitere Symptome sind:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Intensives Streben nach Erfolg und Macht
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Die Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Wir werden im weiteren Verlauf von The Walking Dead erfahren, ob ihm diese stark verzerrte Selbstwahrnehmung nicht irgendwann noch zum Verhängnis wird… 

Mit The Walking Dead und Negan befassen wir uns auch im Charakterneurosen-Podcast


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