Der Zauberer von Oz: Angst und Mut

Als der Löwe, der sich selbst für einen Feigling hält, weil er das Gefühl der Angst kennt, Oz, der vorgibt ein Zauberer zu sein, obwohl er nicht zaubern kann, darum bittet ihm Mut zu verleihen und sich diesen so vorstellt, dass man grundsätzlich keine Angst mehr fühlt, antwortet der kluge Oz:

 
„Ich bin sicher, dass du mutig bist. Alles was dir fehlt, ist Selbstvertrauen. Es gibt kein Lebewesen, das sich angesichts einer Gefahr nicht ängstigen würde. Wahrer Mut zeigt sich ja gerade darin, dass man dennoch der Gefahr ins Auge blickt. Und über diese Art von Mut verfügst du reichlich.“
 
 

 

Sehr ähnlich fast es der Psychoanalytiker und weltberühmte Angstforscher Fritz Riemann in seinem für die Praxis der Persönlichkeitspsychologie und Psychotherapie unverändert relevanten Standardwerk Grundformen der Angst von 1961 zusammen: 
 
„Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit lässt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. […] Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen“.
 
Tatsächlich hat der Löwe im Zauberer von Oz seinen Mut, den wahren Mut, der sich nicht ohne, sondern trotz und gerade wegen des Vorhandenseins von Angst zeigt, schon mehrfach unter Beweis gestellt, bevor er überhaupt Gelegenheit bekommt, dem Zauberer seinen Wunsch vorzutragen. Dieser Mut zeigt sich vor allem dann, wenn es um das geht, was dem Löwen am wichtigsten ist: seine Freunde. 
 
Hier können wir eine von erfreulich zahlreichen psychologischen Weisheiten erkennen, die in dem Kinderbuchklassiker Der Zauberer von Oz thematisiert werden: Ein Leben ohne Angst ist nicht möglich. Ebensowenig wie ein Leben ohne Traurigkeit, Scham, Ekel, Ärger, Neugier, Freude, Zuneigung oder irgendein anderes Gefühl. 
Das wäre auch gar nicht wünschenswert. Unser heutiges Gefühlssortiment ist immerhin das Produkt eine langen evolutionären Entwicklungsprozesses und die Evolution weiß bekanntlich, was sie tut. Jedes Gefühl hat seine Funktion und damit seine grundsätzliche Daseinsberechtigung. Angst zum Beispiel weist uns auf mögliche Gefahren hin und versetzt uns in einen Zustand der Reaktionsbereitschaft (ja, genau, das fight-or-flight-syndrome aus dem Biounterricht). 
Wenn die Winkies angreifen, um den Löwen und seine Freunde zu töten, bekommt er Angst: Atmung und Herzschlag beschleunigen sich, der Blutdruck steigt. Die Durchblutung der Extremitäten wird verstärkt, die Muskeln in den Beinen spannen sich an, bereit zum Sprung, bereit zuzuschlagen. Jetzt ist nicht die Zeit, entspannt auf dem Bauch zu liegen und den Blick seelenruhig über die weite Steppe schweifen zu lassen. Jetzt sind Fokus und Reaktionsgeschwindigkeit gefragt. Essen, Schlafen, Sex – dafür wird später noch Zeit sein. Sofern jetzt überlebt wird. Wie gut also, dass der Löwe Angst hat. 
 
Und doch ist uns der Wunsch des Löwen so vertraut. Oft wünschen wir uns, bestimmte Gefühle einfach abstellen zu können. Wenn nur Angst, Unsicherheit, Scham, Erschöpfung, Neid, Hunger oder Wut nicht wären, könnten wir endlich unser wahres mutiges, selbstbewusstes, aktives, erfolgreiches, großzügiges, liebevolles – kurzum: perfektes – Ich entfalten. Aber da sind halt diese blöden Gefühle, schade! 
 
In der Psychotherapie, ebenso wie im Leben im Allgemeinen, besteht eine wichtige Einsicht darin, dass wir unser Leben aktiv nach unseren persönlichen Bedürfnissen und Werten ausrichten können, obwohl Gefühle wie Angst, Scham, Reue oder Kränkung gerade das oft erschweren. 
In der Therapieschule, die diese Erkenntnis zu ihrem Grundprinzip erhoben hat, der Akzeptanz- und Commitmenttherapie, heißt es: „we hurt, where we care“ oder auch „where there’s pain, there’s values“. 
Gerade da, wo die Gefühle intensiv, der Schmerz spürbar wird, gibt es wichtiges zu verstehen und zu erreichen. 
 
Der Löwe hält die Angst für sein Problem, doch sie ist Teil der Lösung. Wie der große Stoiker Captain Jack Sparrow (Fluch der Karibik) sagt: 
 
„The problem is not the problem. The problem is your attitude about the problem.“ 
 
 
Wer unangenehme Gefühle nicht als vermeidbares Übel, sondern als unverzichtbare Signale betrachtet, kann damit aufhören, Energie an Ärger, Hader und Selbstanklage zu verschwenden und anfangen, eine Lösung im Sinne der eigenen Bedürfnisse und Werte zu finden. 
„Leiden = Schmerz x Widerstand“ ist die berühmte Formel buddhistischer Lebensweisheit. 
 
Der Löwe hat etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Und es ist gerade seine Angst, die ihn das spüren lässt und ihm Kraft verleiht. 

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