Skins: Effy

„If you close your eyes, you see darkness. But if you keep them closed for long enough, and concentrate hard, you’ll see light.“
Effy
 
Effy Stonem aus der weniger bekannten, aber sehr sehenswerten, melancholisch-schönen Serie Skins (UK, 2007), ist ein faszinierender, düsterer Charakter. Eine jugendliche Femme fatale, körperlich fast noch ein Kind und doch von der tiefen Traurigkeit und dem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe getrieben, die einen Menschen zerreißen können. Beliebt, begehrt, bewundert – und doch im Innern unsicher und ängstlich. Extravertiert, offensiv und exzessiv in fast jeder Hinsicht – und doch im Innern einsam und entfremdet, ihre wahren Gefühle vor allen, auch sich selbst, verbergend.
Auf der psychopathologischen Ebene zeigt Effy in den ersten beiden Staffeln, in denen sie eher eine Nebenrolle spielt, einen elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) beschrieben als die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu sprechen, obwohl geistige Entwicklung, Sprachverständnis und Sprechfähigkeit im Allgemeinen altersgemäß entwickelt sind und in bestimmten Situationen normal gesprochen werden kann.
Interessanterweise wird elektiver Mutismus in der ICD-10 in einem Kapitel mit den Bindungsstörungen aufgeführt und tatsächlich scheint es, als würde Effy durch ihr Schweigen vor allem ganz präzise regulieren, mit wem sie wann und wie weit in Beziehung tritt und wen sie von sich fernhält – dazu später mehr.
In den Staffeln drei und vier wird Effy der Hauptcharakter der Serie und leider auch schwer psychisch krank. Wir erfahren, dass es eine familiäre Vorbelastung von affektiven Störungen (ICD-10: F3) gibt. Hierunter fallen Störungen der Stimmung, also krankhaft gedrückte Stimmung (Depression) sowie krankhaft gehobene Stimmung (Manie) und diverse leichtere und Mischformen dieser Störungen.
In der Serie wird Effys Krankheit als psychotische Depression bezeichnet, damit ist das Krankheitsbild der Schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) gemeint. Zusätzlich zu schweren depressiven Symptomen, wie z.B. gedrückter Stimmung, Freud- und Interessensverlust, Antriebslosigkeit, Leeregefühlen, geringem Selbstwertgefühl und Suizidalität, liegen hier sogenannte psychotische Symptome, also gravierende Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, wie z.B. Wahnvorstellungen und Halluzinationen vor.
Damit wird Effys Aktusymptomatik passend beschrieben. Meiner Ansicht nach könnte jedoch Effys Psychodynamik insgesamt auch als beginnende Bipolare Affektive Störung (F31.5) klassifiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass außer der beschriebenen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen auch manische oder hypomanische (leichtere manische) Episoden auftreten können. Diese sind gekennzeichnet durch Verhalten wie:
  • Gesteigerte Aktivität und Ruhelosigkeit
  • Soziale Hemmungslosigkeit mit sozial unangemessenem Verhalten
  • Vermindertes Schlafbedürfnis
  • Überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Leichtsinniges, riskantes Verhalten
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Interessanter als die formale psychopathologische Klassifikation von Effys Symptomatik ist jedoch, wie so oft, ihre innere Psychodynamik: Was Effy sich, wie jeder Mensch, wünscht, ist Liebe. Wahre, bedingungs- und selbstlose, verlässliche Liebe. Was sie, wie viele Menschen, mehr als alles andere fürchtet, ist verlassen, enttäuscht, verletzt zu werden.
Psychologen nennen das einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Effy sucht intensiv nach Liebe, versucht, die Menschen durch ihre Extravertiertheit und ihren Charme an sich zu binden – und muss doch gerade die Beziehungen, die ihr besonders viel bedeuten, bis zum Zerreisen auf die Probe stellen, gerade weil sie ihr so viel bedeuten, dass sie den Gedanken, sich weiter einzulassen und die Angst davor, später vielleicht doch verlassen zu werden, nicht aushalten kann.
 
Die Einsamkeit ist ihr ein vertrauter Feind. Ihre Eltern waren nicht verlässlich für Effy da, auch wenn die Mutter sich immer wieder bemüht hat, fehlte es ihr doch an eigener emotionaler Stabilität. Ihr Bruder Tony liebt Effy sehr, ist jedoch – natürlich – mit seinem eigenen Erwachsenwerden beschäftigt und somit kein Ersatz für die fehlende, durch die Eltern nicht gegebene, Stabilität und den emotionalen Halt, den ein Kind braucht. Effys Ersatzfamilie sind – wie für die meisten Jugendlichen in Skins – ihre Freunde.
Folglich erwartet sie von diesen das, was sie von Familien kennt: Oberflächliche Gesellschaft deren Sicherheit gerade darin besteht, dass niemand ihr wichtig genug wird, um sich von ihm abhängig zu fühlen und dadurch verletzbar zu werden. Freunde wie Cook, von dem man immer weiß, dass man nichts zu erwarten hat, sind die sicherste Abwehr gegen Bindungs- und Verlustängste.
Effy selbst beschreibt diese Ambivalenz so: „Sometimes I think I was born backwards, you know, came out my mum the wrong way. I hear words go past me backwards. The people I should love I hate, and the people I hate…”
Freddie dagegen, mit seinem glaubhaften Angebot aufrichtiger und bedingungsloser Liebe, wird Effys vermeidendem Beziehungsmodus gefährlich, fordert ihre abgewehrten Wünsche und Sehnsüchte heraus und muss sich von Effy so hart und wiederholt auf die Probe stellen lassen, dass seine Liebe und er selbst fast daran zerbrechen. Dennoch schafft er es schließlich, das Vertrauen der so unsicheren, verletzlichen, sicherheitsbedürftigen Effy zu gewinnen und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte alles gut werden – aber so eine Art Serie ist Skins nicht…
 
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True Detective: Ani



Starke weibliche Hauptrollen sind in Mainstreamfilmen und -serien rar gesät. Antigone „Ani“ Bezzerides aus der zweiten Staffel von True Detective bildet hier eine rühmliche Ausnahme.

Ebenso wie Ray, Frank und Paul, scheint auch Ani auf der Flucht vor einer dunklen Vergangenheit zu sein (passend dazu: Der Titelsong never-mind des großen Leonard Cohen). Allerdings hat Ani, im Gegensatz zu ihren männlichen Mit- und Gegenspielern, nicht selbst etwas Schreckliches getan, sondern flieht vor der Erinnerung an etwas, das ihr angetan wurde.
Dabei können wir bei Ani eine Reihe typischer psychischer Abwehrmechanismen erkennen:
  • Verdrängung: Als Verdrängung wird das (vollständige oder teilweise) Vergessen des Erlebten bezeichnet. Ani scheint sich zwar zu erinnern, dass sie als Kind in der Kommune ihres Vaters sexuell missbraucht worden ist, die Details der Erinnerung scheinen aber zunächst verdrängt zu sein.
  • Reaktionsbildung: In der Missbrauchssituation hat sich Ani wehrlos und schwach erlebt. Als Erwachsene arbeitet sie hart daran, sich immer genau gegenteilig zu fühlen. Das nennt die Psychologie Reaktionsbildung. Sie trainiert hart, trägt immer Messer bei sich, ist eher aggressiv als ängstlich. Auch ihre Berufswahl (Polizistin) lässt den Wunsch nach Stärke und Selbstsicherheit erkennen. Über ihre sexuellen Vorlieben erfahren wir nichts genaues, es wird aber in der ersten Folge angedeutet, dass sie auch hier in der Lage ist, ihren Sexualpartner ziemlich einzuschüchtern.
  • Projektion: Wir wissen nicht genau, inwieweit Anis Sorge um ihre in der Erotikbranche tätige Schwester berechtigt ist. Sollte es so sein, wie ihre Schwester behauptet, dass sie nämlich selbstbestimmt nur das tut, was sie möchte, könnte Anis Sorge um sie zum Teil eine Projektion sein. Das bedeutet, Ani überträgt ihr eigenes Gefühl, Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein, auf ihre Schwester und kann dann versuchen, diese zu beschützen, nun da sie eine toughe Polizistin ist, während sie sich selbst als kleines Mädchen nicht schützen konnte.
  • Sensation Seeking: So nennt man Verhaltensweisen, die zum Ziel haben, ständig starke äußere Reize zu erzeugen um dadurch die Situation zu vermeiden, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen und damit möglichen schmerzhaften Gefühlen oder Erinnerungen zuwendet. In Anis Fall sorgt sie durch Trinken, Rauchen, exzessives Arbeiten und Sex dafür, möglichst nicht zu Ruhe zu kommen.
Häufig lassen sich solche intensiven Abwehrkonstellationen nicht ewig aufrechterhalten. Auch Ani wird im Verlauf der Serie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Undercover als Prostituierte schleicht sie sich auf eine geheime Sexorgie. Durch die Frauen, die sich dort scheinbar willenlos den gierigen Männern unterwerfen, wird sie unmittelbar an ihr Trauma erinnert. Zudem steht sie unter Drogen und schwebt in der ständigen Gefahr enttarnt zu werden. Schließlich wird sie noch von einem Mann direkt angegriffen. In dieser Hochstresssituation bricht die verdrängte Erinnerung an ihr Trauma hervor. Ani erinnert sich plötzlich im Detail an das damals Erlebte. Die Erinnerung kommt in Form eines sogenannten Flashbacks, d.h. Ani sieht die Bilder von damals vor ihrem inneren Auge und empfindet die dazugehörigen Gefühle in der Gegenwart noch einmal. Dies geht soweit, dass sie den Mann, der sie angreift, kurzzeitig für den Täter von damals hält. Doch diesmal ist sie vorbereitet…
Die Psychopathologie spricht hier von illusionärer Verkennung: Die Fehlwahrnehmung eines real vorhandenen Sinneseindrucks. Ani sieht tatsächlich einen Mann, nämlich den Sicherheitsmann auf der Sexparty, verkennt ihn aber als den Mann, der sie vor vielen Jahren missbraucht hat. Dadurch unterscheidet sich eine illusionäre Verkennung von einer Halluzination, bei der kein realer Reiz (Mann) vorhanden ist, der Eindruck (Täter) damit vollständig eingebildet wird.
Von allen Protagonisten der zweiten Staffeln von True Detective erwartet Ani das am wenigsten tragische Ende. Sie ist die einzige, die es schaffen könnte, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, dass sie es schafft, sich Ray anzuvertrauen und über ihr Trauma zu sprechen. Vor allem auch über die, in einem solchen Falle nicht seltenen, Schuldgefühle. Dadurch, dass sie sich Ray öffnet, gibt sie ihm die Möglichkeit, ihr zu sagen, dass sie keine Schuld trägt.
Somit könnte ihre Wunde mit der Zeit heilen.
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Hand of God: Pernell

Die Amazon-Serie Hand of God ließe sich wohl unter vielen Gesichtspunkten interessant analysieren. Glaube vs. Rationalität, Rache vs. Vergebung, Stolz vs. Scham – das sind nur einige der behandelten Themen.
Aus psychiatrischer Perspektive sehen wir in Hand of God in erster Linie einen Mann (Richter Pernell Harris) der unter dem Einfluss eines traumatischen Ereignisses (Suizidversuch seines Sohnes) eine psychische Erkrankung entwickelt, deren imposantestes Symptom ein religiöser Wahn ist. Als Wahn bezeichnet die Psychopathologie eine Überzeugung, die nachweisbar unvereinbar mit der objektiven Realität ist, an der die betroffene Person aber dennoch dauerhaft festhält. Wahn beeinträchtigt dadurch die Realitätswahrnehmung und das Alltagsfunktionsniveau. Pernells religiöser Wahn besteht darin, dass er von Gott auserwählt wurde, seinen Sohn zu rächen. Dass Gott ihm Hinweise in Form optischer Wahrnehmungen sendet. Dass er durch Handeln im Sinne Gottes seinen Sohn aus dem Koma erwecken kann.
Darüber hinaus hat Pernell akustische und optische Halluzinationen: Er hört die Stimme seines im Koma liegenden Sohnes (unterhält sich sogar mit ihm) und sieht immer wieder Personen oder Dinge, die nicht da sind.
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) leidet Pernell unter einer Paranoiden Schizophrenie (F20.0), welche in seinem Fall durch die folgenden charakteristischen Symptome gekennzeichnet ist:
  • Wahn
  • Akustische Halluzinationen in Form von kommentierenden und dialogischen Stimmen
  • Optische Halluzinationen
  • Gedankeneingebung: Überzeugung dass eigene Gedanken von außen (von Gott) geschickt wurden
  • Gedankenabreisen: Unterbrechung des Denkflusses (bei Pernell durch das plötzliche Einschießen von Einfällen im Zusammenhang mit seinem Wahn)

Pernells religiöser Wahn unterscheidet sich von einfacher Religiosität oder auch religiösem Fundamentalismus (der zwar ein Problem, aber keine Krankheit darstellt) dadurch, dass Pernells Realitätswahrnehmung durch seinen Wahn immer wieder deutlich beeinträchtigt wird, z.B. wenn er davon überzeugt ist, seinen Sohn durch aktives Handeln aus dem Koma erwecken zu können etc.
Für einen psychisch gesunden Gläubigen kann z.B. das ewige Leben gleichzeitig mit und trotz dem physischen Tod bestehen – Pernell verleugnet das Koma und den nahenden Tod seines Sohnes, entgegen aller medizinischen Fakten.
Religiöse Fundamentalisten verleugnen zwar auch objektive Realitäten, sie tun dies aber (wie z.B. der charismatische Reverend Curtis in Hand of God) zur Verbreitung ihrer Glaubenslehren und Durchsetzung ihrer Interessen. In den meisten Fällen sind sie sich dennoch der logischen und naturwissenschaftlichen Realitäten bewusst.
Natürlich spielt Hand of God mit genau diesen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, ob nicht doch übernatürliche Kräfte im Spiel sind. Letzten Endes ist wohl auch das Glaubenssache.

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True Detective: Rust


Der True Detective Rustin „Rust“ Cohle ist ein mürrischer Zeitgenosse. Seit dem Unfalltod seiner kleinen Tochter leidet er unter einer chronischen depressiven Störung, die als Dysthymia bezeichnet wird. Diese zeichnet sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F34.1) dadurch aus, dass die Symptomatik zwar weniger stark ausgeprägt ist, als bei einer akuten depressiven Episode (ICD-10: F32), dafür aber über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhält. In Rusts Fall äußert sich die depressive Symptomatik außerdem auf die für Männer typische Weise, in Form einer sogenannten male depression:
  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol-/Nikotin-/Drogenmissbrauch

Zum Zeitpunkt der beiden Handlungsebenen von True Detective ist Rusts Depression bereits chronifiziert und aus seinem Alkohol-, Nikotin-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hat sich eine Multiple Substanzabhängigkeit entwickelt. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F19.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen

Eine gravierende schädliche Folge von Rusts Drogen- und später Medikamentenkonsum (vor und während des frühen Handlungsstranges) sind die dadurch ausgelösten Halluzinationen. Da diese eindeutig im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen (später, als Rust nur noch trinkt, treten die Halluzinationen nicht mehr auf) und über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten, liegt eine halluzinatorische substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.52) vor, auch bekannt als Drogenpsychose.

Was Rust Cohle so charismatisch und interessant macht, ist, dass er, neben seinen vielfachen und schwerwiegenden psychopathologischen Beeinträchtigungen, ein überaus intelligenter und offenbar sehr gebildeter Mann ist, der den Zuschauer und, zu dessen Leidwesen, seinen Partner Martin Hart, an seiner depressiven Weltsicht teilhaben lässt.

Rust zeigt dabei ein für depressive Störungen typisches Denkmuster, welches die Kognitionspsychologie als Kognitive Triade bezeichnet. Diese ist durch eine negative und hoffnungslose Sichtweise auf drei zentrale Lebensbereiche gekennzeichnet:
  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft

Rust schreibt den Menschen im Allgemeinen überwiegend negative Eigenschaften, vor allem Selbstsucht, Eitelkeit und Ignoranz, zu. Sich selbst nimmt er davon nicht aus, sondern beansprucht für sich lediglich, die bittere Wahrheit im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Mitmenschen nicht zu verdrängen.

Sein, zuvor wahrscheinlich optimistischeres, Weltbild scheint durch den Tod seiner Tochter zerstört worden zu sein. Eine Welt in der unschuldige Kinder sterben und all die anderen Gräueltaten, die er in seinem Job erlebt möglich sind, kann nur schlecht sein. Um den Schmerz über den Verlust seiner Tochter besser aushalten zu können, findet der intelligente und eloquente Rust nachträglich viele gute Argumente für die Verkommenheit der Welt als Ganzes. Man nennt das Rationalisierung. So kommt er zu dem Schluss, dass es das Glück seiner kleinen Tochter war, in einer so durchweg schlechten Welt, nicht lange genug zu leben, um von ihr korrumpiert zu werden. Daran wird deutlich, dass Rust gar nicht mehr anders kann, als in der Welt nur das Schlechte zu sehen, da er sonst wieder ungeschützt seiner unverarbeiteten Trauer ausgesetzt wäre.

Das misanthropische Weltbild, das Rust sich selbst immer wieder dadurch bestätigt, dass er sich obsessiv mit Verbrechen, Leid und menschlichen Abgründen beschäftigt und alle einladenden Gesten wohlwollender Mitmenschen zurückweist, lässt ihn auch für die Zukunft nur Schlechtes erwarten: Habgier, Hass, religiöser Fanatismus und Umweltzerstörung werden, so Cohle, dazu führen, dass die Menschheit sich selbst vernichtet. Wenn es nach ihm geht, darf sie vorher noch erkennen, was ihm schon lange klar ist: Dass alles von Anfang an sinnlos war.

Psychologen nennen das Depression, Philosophen Melancholie, Nihilisten wahrscheinlich Realismus. Rusts Partner Martin versucht es mit Humor zu sehen: „Für einen Typen, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht, machst du dir ganz schön viele Gedanken darüber.“

Mehr zur ersten Staffel von True Detective gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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The Sixth Sense: Cole

Der kleine Cole sieht tote Menschen – und fürchtet sich vor ihnen.
Dass ein Kind Angst vor Geistern hat, ist per se nicht unnormal, allerdings sind Coles Ängste ausgesprochen heftig und beeinträchtigen sein Leben massiv. Außerdem zeigt er eine, für einen Neunjährigen, auffallend gering ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. 
Die von dem Kinderpsychologen Dr. Crowe anfänglich geäußerte Verdachtsdiagnose einer emotionalen Störung ist demnach zutreffend. Cole leidet unter einer phobischen Störung des Kindesalters, die nach ICD-10 (F93.1) definiert ist als: Anhaltende oder wiederkehrende Angst (Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist (oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist.

Warum sieht Cole tote Menschen? Oder anders gefragt: Warum hat Cole seine Angst vor Geistern noch nicht überwinden können, wie die meisten anderen Neunjährigen? 
Angst vor Geistern (Hexen, Monstern, Krokodilen…) ist Angst vor dem alleine sein. Wenn die Eltern im Zimmer sind, oder hineinkommen, ist die Angst meist schnell wieder weg. So geht es auch Cole: Selbst wenn er die toten Menschen weiterhin sieht, machen sie ihm keine Angst mehr, sobald seine Mutter oder Dr. Crowe im Raum sind.
In dieser Angst vor dem alleine sein spiegelt sich die reale Erfahrung jedes Neugeborenen und Kleinkindes wider, von der Mutter und später auch anderen Erwachsenen existenziell abhängig zu sein. Wenn das Kind dann die Erfahrung macht, von den Erwachsenen verlässlich beschützt und versorgt zu werden, entsteht das sogenannte Urvertrauen. Damit ist eine tendenziell optimistische Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und sich selbst gemeint, welche die Grundlage für das Gefühl der Selbstwirksamkeitdarstellt, also die Erwartung, Situationen und auch eigene Emotionen erfolgreich beeinflussen und bewältigen zu können. Ist diese grundlegende Fähigkeit vorhanden, können sich Kinder immer neuen altersspezifischen Ängsten (Entwicklungsaufgaben) stellen und durch deren Bewältigung ein weiteres Stück unabhängiger von den Eltern werden.
Coles Entwicklung aber ist ins Stocken geraten. Er kann die Angst vor dem alleine sein erst im Verlauf des Films überwinden. Bis zu einem gewissen Punkt scheint seine Entwicklung ganz passabel verlaufen zu sein, was dafür spricht, dass er zunächst Gelegenheit hatte, ein grundlegendes Urvertrauen auszubilden, welches dann aber erschüttert wurde.
Vieles spricht für Dr. Crowes Hypothese, dass die ausschlaggebende Situation die Trennung von Coles Eltern war. Sein Vater hat die Familie verlassen und da Cole nicht weiß warum, kann er nicht ausschließen, dass er als Sohn versagt und den Vater enttäuscht hat. Die Mutter wurde daraufhin psychisch krank (wahrscheinlich depressiv), die Behandlung blieb erfolglos. Cole behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, ob er bereits vor der Trennung der Eltern tote Menschen gesehen habe. Am wahrscheinlichsten ist, dass er als Kleinkind schonmal Angst vor Geistern oder ähnlichem hatte, diese dann überwunden hat und auf das Trennungstrauma mit Regression, das heißt mit dem Rückfall auf eine frühere emotionale Entwicklungsstufe, reagiert.
Dafür spricht auch, dass Coles kindliche Angst vor Geistern, und seine Hilflosigkeit im Umgang damit, in auffallendem Widerspruch zu seiner Gesamtpersönlichkeit stehen. Wenn er nicht gerade in Panik verfällt, wirkt er ausgesprochen intelligent, eloquent, rational und reflektiert. Kurz: Er wirkt wie ein kleiner Erwachsener.

Das hat einen Grund: Cole ist parentifiziert. Das bedeutet, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung zwischen Cole und seiner Mutter umgekehrt hat.
Nach der Trennung der Eltern steht er alleine da, mit einer Mutter, die nicht nur traurig, sondern auch impulsiv, orientierungslos und affektlabil ist – wie ein kleines Kind. Sie schafft es nicht, trotz ihrer eigenen Trauer noch für ihren Sohn da zu sein, sondern erwartet von diesem (zumindest unbewusst), dass er nun statt des treulosen Ehemannes (und des enttäuschenden Psychotherapeuten) für sie da ist. In ihrer Aussage, ihre Gebete seien nie erhört worden und daher müssten Cole und sie nun ihre Gebete gegenseitig erhören, kommt das direkt zum Ausdruck.
Auf die Ängste ihres Sohnes reagiert sie entweder wütend, weil sie sich belogen fühlt, oder selbst hochgradig panisch, was sein Vertrauen in die Bewältigbarkeit von Ängsten weiter schwinden lässt.

Das Muster der Parentifizierung bildet sich auch in der Beziehung zu Dr. Crowe ab. Wegen seiner eigenen Eheprobleme ist er immer wieder versucht, Coles Fall abzugeben. Doch Cole schafft es, Dr. Crowe an sich zu binden, indem er auch diesen dazu bringt, ihm gegenüber die eigenen Probleme offenzulegen, was Dr. Crowe eigentlich als Kunstfehler betrachtet. Dies gelingt Cole durch ebenjene erwachsen wirkende Art, weil sie Dr. Crowe, in seiner eigenen Bedürftigkeit, die Tatsache verdrängen lässt, dass hier ein krankes Kind seine Hilfe braucht, und nicht umgekehrt.

Cole ist kein „Psycho“ (wie ihn die anderen Kinder nennen) weil er Angst vor Geistern hat, sondern weil ihm eine Aufgabe zugemutet wird, die völlig unangemessen und maximal überfodernd ist.
Er bemüht sich nach Kräften, erwachsen und vernünftig zu sein, was bei den Gleichaltrigen naturgemäß nicht gut ankommt. Dass er Mitschüler bezahlt, um der Mutter vorzumachen, er sei integriert, damit diese sich besser fühlt, lässt ihn vor jenen noch verrückter dastehen. 

Weil er lernen musste, die Gefühle von Erwachsenen zu deuten um darauf reagieren zu können, ist er in der Lage, seinen Lehrer so zu verletzen, dass sogar dieser ihn schließlich vor der Klasse als „Psycho“ beschimpft.
Dass Cole für das ständige Zurückstellen seiner altersgemäßen Bedürfnisse mit kompensatorischen infantilen Ängsten bezahlt, macht ihn noch zusätzlich zum Gespött der Gleichaltrigen, welche den pathologischen Kontrast zwischen der altklugen Ernsthaftigkeit und der bis zur Ohnmacht führenden Panik intuitiv erkennen.

Im Film bewältigt Cole die übergroßen Aufgaben zu guter Letzt: Er erkennt, dass auch die Geister (Wie könnte es anders sein!) nur seine Hilfe wollen, und beginnt damit, sich erfolgreich um sie zu kümmern. Er löst Dr. Crowes Eheprobleme, indem er ihm hilft die Wahrheit zu erkennen. Und er heilt zumindest eine der Wunden seiner Mutter, indem er ihr berichten kann, dass ihre eigene Mutter damals doch bei ihrer wichtigen Schulaufführung gewesen ist.
In Wahrheit wäre es wohl besser gewesen, die Mutter hätte einen zweiten psychotherapeutischen Behandlungsversuch unternommen und so vielleicht die Kraft gefunden, zu Coles Schulaufführung zu kommen.

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Der Herr der Ringe: Gollum

Über Gollum wissen wir, von der triologischen Verfilmung des Herrn der Ringe ausgehend, zunächst einmal eines: Er ist getrieben vom Wunsch, den Einen Ring zu besitzen. Dieser Wunsch ist so übermächtig, dass das ganze Leben, die ganze Persönlichkeit Gollums darauf ausgerichtet zu sein scheint. Gollum ist süchtig nach dem Ring.

Die internationale Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10, WHO, 2010) legt für die Diagnose eines stoffgebundenen Abhängigkeitssyndroms (F19.2) fest, dass mindestens drei der folgenden Kriterien längerfristig erfüllt sein müssen:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen
Der „Konsum“ des Ringes besteht für Gollum (und auch die anderen Konsumenten: Isildur, Bilbo, Frodo) im bloßen Besitz (Sauron hingegen scheint eher ein instrumentelles Interesse an der militärischen Macht des Ringes zu haben). Die Benutzung des Ringes und die damit einhergehende Unsichtbarkeit sind offenbar von untergeordneter Bedeutung. In diesem Sinne ist bei Gollum ein starkes, ja übermächtiges Verlangen, sein Suchtmittel zu konsumieren, deutlich festzustellen.
Kontrollverlust über Dauer und Menge des Konsums des Ringes ist dagegen schwer nachzuweisen, da man ihn nur entweder besitzen kann, oder nicht. Jedoch werden wir im Verlauf der Filme Zeuge davon, wie Gollum, um seine aufkeimende Freundschaft zu Frodo zu schützen, zeitweise versucht, gegen seine Sucht anzukämpfen, was, wie wir wissen, letztlich erfolglos bleibt.
Ein körperliches Entzugssyndrom, wie es die meisten psychotropen Substanzen früher oder später mit sich bringen, lässt sich für den Ring nicht feststellen. Der Konsum selbst scheint sich, nebenbei bemerkt, kurzfristig negativ auf die körperliche Gesundheit auszuwirken (Gollum, und im Verlauf der Filme zunehmend auch Frodo, sind in erschreckender physischer Verfassung), langfristig aber das Leben zu verlängern.
Da uns die subjektive Wirkung des Ringes auf seinen Träger nicht wirklich beschrieben wird, ist es schwer, eine mögliche Toleranzentwicklung zu beurteilen. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass der Besitz des Ringes zunächst mit höchst positiven Gefühlen, die an eine Manie erinnern (Aktivierung, Tollkühnheit, Größenwahn etc.), einhergeht (was vermutlich zum hohen Suchtpotential beiträgt). Vor allem Isildur, aber auch der junge Gollum (der damals noch Smeagol hieß), zeigen diese Symptome. Bei fortgesetztem Konsum (die Dosis des Einen Ringes ist ja, wie gesagt, unveränderbar) scheinen die positiven Gefühle immer mehr abzunehmen und es treten (wie bei vielen euphorisierenden Drogen) zunehmend gereizte und paranoide Stimmungen in den Vordergrund. Somit ist eine gewisse Toleranzentwicklung bzgl. der erwünschten Wirkung festzustellen.
Die Aufgabe anderer Interessen bei hohem Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum des Suchtmittels können wir bei Gollum im Extrem beobachten: Sein ganzes Leben, all seine Aktivitäten und Anstrengungen, zielen letztlich auf den Besitz des Ringes ab. Davon vermögen ihn auch die beträchtlichen schädlichen Folgen seines Suchtverhaltens nicht abzubringen: Er tötet seinen besten Freund (Beschaffungskriminalität), wird sozial ausgegrenzt, vernachlässigt seine Gesundheit, lebt völlig isoliert in bitterster Armut, wird gefangen, geschlagen und gefoltert und opfert letztlich auch die Aussicht auf einen neuen Freund (Frodo), der ihn und sein Schicksal verstehen und akzeptieren könnte, der Gier nach dem Ring.
Jenseits der, diagnostisch somit gesicherten, Abhängigkeitserkrankung, zeigt Gollum noch weitere Symptome (in welchen er sich von den anderen Ringträgern unterscheidet): Zunächst fällt uns seine bizarre Sprechweise auf. Er spricht von sich in der ersten Person Plural, scheint im Dialog mit seinem „Schatz“ zu stehen, benutzt Neologismen (Hobbitse, Orkse). Außerdem zeigt er seltsame, stereotype Bewegungsmuster und Körperhaltungen (z. B. stundenlanges Sitzen in der Hocke, den Blick in die eigene Handfläche vertieft).
Diese Symptome (die zunächst ein sog. Prodromalstadium darstellen) wachsen sich im weiteren Verlauf zu einer manifesten Psychose aus: Gollum hat optische und akustische Halluzinationen in Form eines bösen Alter-Egos, auf welches er seine süchtigen, brutal-egoistischen Selbstanteile projiziert. Angesichts der jahrelangen Abhängigkeitserkrankung, können wir davon ausgehen, dass es sich um eine Psychotische Störung infolge des Substanzkonsums (ICD-10: F19.5) handelt.
Und als wäre das noch nicht genug, leidet der arme Gollum, ebenfalls infolge des gesundheitlichen Abbaus im Rahmen seiner Sucht, noch an einem chronischen vokalen Tic (ICD-10: F95.1): Seit vielen Jahren muss er mehrmals täglich, unwillkürlich, plötzlich und wiederholt den Laut „Gollum“ ausstoßen, dem er seinen stigmatisierenden Namen verdankt.
In Gollums psychotischer Ich-Spaltung wird das Wesen der Sucht exemplarisch deutlich: Verängstigte, einsame, hilflose Persönlichkeitsanteile (die sich auch später noch Smeagol nennen, was auf dessen prämorbide Persönlichkeitsstruktur verweist) finden in der Sucht eine starke, selbstbewusste, beschützende und versorgende Instanz. Diese ist jedoch trügerisch und kann jederzeit massiv bedrohlich, entwertend und beschuldigend werden, was die ursprünglichen Gefühle von Angst, Einsamkeit und Hilflosigkeit wiederum verstärkt.
Die ganze Figur des Gollum kann somit als Metapher auf den Teufelskreis der Sucht verstanden werden: Zunächst können negative Gefühle kompensatorisch durch angenehmere ersetzt werden. Diesen folgen jedoch irgendwann Scham- und Schuldgefühle. Der daraus entstehende Impuls, sich loszusagen, löst erneut die primären negativen Gefühle aus. Mit jeder Niederlage im Ankämpfen gegen die Sucht, werden Scham und Schuld und der Zweifel daran, das Leben ohne den Suchtstoff bewältigen zu können, stärker.
Wenngleich Gollum dem Ring völlig verfällt und schließlich an seiner Sucht zugrunde geht, scheint, wie bei jedem Suchtmittel, auch das Abhängigkeitspotential des Ringes interpersonell unterschiedlich groß zu sein:
Isildur nutzt den Ring um sich besser und stärker zu fühlen, ähnlich einer Partydroge oder einem Aufputschmittel zur Leistungssteigerung. Sein Risiko, langfristig abhängig zu werden, wäre hoch, fände er nicht im Rausch einen frühen Tod.
Bilbo steckt den jahrzehntelangen Besitz des Ringes offenbar recht unbeschadet weg und kann ihn, trotz zwischenzeitlich beträchtlichen Widerwillens, schließlich abgeben. Danach setzt jedoch ein rapider und stetiger körperlicher Verfall ein. Bilbo erinnert somit an einen Spiegeltrinker, der über lange Zeit konsumiert, ohne dabei vollständig die Kontrolle zu verlieren. Ohne seinen Suchtstoff fällt es ihm allerdings schwer, ein angemessenes Funktionsniveau aufrecht zu erhalten und die körperlichen Langzeitfolgen machen sich umso deutlicher bemerkbar.
Frodo zeigt schon früh süchtige Verhaltensweisen und riskiert im Kampf um den Ring schließlich sogar sein Leben. In seinem Fall liegt folglich ein Schädlicher Gebrauch (ICD-10: F19.1) vor. Als er aber vom Ring befreit ist, kann er dies ohne Entzugssymptome und nennenswerte Folgeschäden aushalten, was dafür spricht, dass eine Abhängigkeit im Entstehen begriffen war, aber durch den erzwungenen Entzug noch abgewendet werden konnte.
Sam schließlich scheint am wenigsten suchtgefährdet: Ihm sind der Ring und dessen Wirkung von Beginn an suspekt und er ist regelrecht erleichtert, ihn wieder loszuwerden. Er trägt den Ring aus Verantwortungsgefühl, ähnlich jemandem, der aus sozialen Beweggründen Drogen konsumiert, vor deren Wirkung er aber eigentlich Angst hat und die ihm auch nicht schmecken. Da der „Gruppenzwang“ zum Tragen des Rings für Sam einmalig bleibt, besteht weiterhin keine Suchtgefahr.
Wer warum wie auf einen Suchtstoff reagiert, ist eine Frage von extremer psycho-physiologischer Komplexität, die auch im Herr der Ringe (in der Realität sowieso) nicht abschließend beantwortet werden kann.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass selbst der schwerst süchtige Gollum, nach Jahrzehnten der Misshandlung und Ausgrenzung, durch ein Bisschen Zuwendung und Mitgefühl von Frodo, zu einem ernsthaften, wenn auch letzten Endes erfolglosen, Versuch, gegen seine Sucht anzukämpfen, befähigt wird.
Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn ihm früher jemand die Hand gereicht hätte?
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Dexter: Dexter

Dexter Morgan, der sympathische Serienkiller aus dem sonnigen Miami – man muss ihn einfach mögen.
Dexter ist forensischer Blutspurenspezialist bei der Mordkommission der Polizei von Miami. Er ist der nette, harmlose, in seiner scheinbaren Schüchternheit irgendwie charmante Labornerd, der die Kollegen mit Donuts und genialen forensischen Analysen beglückt. Sogar eine Freundin mit zwei süßen Kindern hat er sich zugelegt, um die er sich rührend geduldig und verständnisvoll kümmert.
Nachts jedoch treibt es ihn immer wieder hinaus in die düsteren Winkel Miamis und der Conditio Humana, wo er seine Opfer aufspürt und ermordet. In der Regel handelt es sich dabei um Menschen, die aus niederen Motiven selbst gemordet haben und von der Justiz nicht belangt werden konnten. Dexters Antrieb ist aber nicht Selbstjustiz im Dienste der Gerechtigkeit, sondern ein innerer, unstillbarer Drang zu töten, dem er nicht dauerhaft widerstehen kann und den er durch die gezielte Auswahl seiner Opfer lediglich in vermeintlich richtige Bahnen zu lenken versucht. Dies hat zur Folge, dass er selbst wiederholt Ermittlungen sabotiert, um die dann entkommenen oder entlasteten Täter selbst zur Strecke bringen und sein Verlangen stillen zu können.

Dexters Drang zu morden begleitet ihn bereits seit der Kindheit und war offenbar niemals über längere Zeit erloschen. Dabei ist er durchaus in der Lage, die Umsetzung für einige Zeit aufzuschieben, zum Beispiel um nach einem geeigneten Opfer zu suchen oder eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Dadurch wächst jedoch seine innere Anspannung und es fällt ihm immer schwerer, sich zurückzuhalten. Seine Gedanken engen sich zunehmend auf das Töten ein, bis es ihm kaum noch möglich ist, sich auf anderes zu konzentrieren, um in seinem Alltag zu funktionieren. Mit der Zeit hat er ein festes Ritual entwickelt, das er bei der Tötung seiner Opfer zumeist rigide befolgt und dessen Einhaltung einen maßgeblichen Teil seiner Befriedigung und Erleichterung durch das Morden ausmacht. Wenngleich Dexter seinen Drang als „dunklen Begleiter“ bezeichnet, ist er sich doch im Klaren darüber, dass er aus seinem Inneren, seiner eigenen Psyche entspringt und nicht etwa auf mystische oder magische Weise von außen eingegeben ist. Ebenso realisiert Dexter, dass sein Verhalten extrem ist und von fast allen anderen Menschen nicht akzeptiert, geschweige denn verstanden werden würde. Dexter ist nicht in der Lage, das Morden aufzugeben, wenngleich er dadurch immer wieder in extrem bedrohliche Situationen gerät: Mehrfach steht er kurz davor, erwischt zu werden, was in Florida die Todesstrafe bedeuten würde. Auch Personen die ihm nahe stehen, werden durch seine Aktivitäten gefährdet, mitunter sogar getötet. Nicht zuletzt ist er durch sein Doppelleben permanent extremem Zeitstress und chronischem Schlafmangel ausgesetzt.

Damit können wir Dexter eine Zwangsstörung, bei der Zwangshandlungen, sogenannte Zwangsrituale, im Vordergrund stehen (ICD-10: F42.1), diagnostizieren. Diese ist durch die folgenden Kriterien definiert:

  • Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen treten über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen auf
  • Sie werden als Produkte des eigenen Geistes erkannt und nicht als von Personen oder äußeren Einflüssen eingegeben betrachtet
  • Sie treten wiederholt auf, werden als unangenehm und zumindest teilweise unangemessen erlebt
  • Der Betroffene versucht, sie zu unterdrücken. Mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung kann nicht erfolgreich unterdrückt werden
  • Die Zwangshandlung ist an sich nicht angenehm (dies ist zu unterscheiden von einer vorübergehenden Erleichterung von Anspannung oder Angst)
  • Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen Beschwerden oder soziale Probleme
Im Verlauf der Serie erfährt Dexter (und mit ihm der Zuschauer) immer mehr über seine Vergangenheit. Er findet heraus, dass er im Alter von drei Jahren Zeuge des extrem sadistischen Mordes an seiner Mutter wurde, was er fortan als Ursache seiner psychischen Störung ansieht. Wir können jedoch davon ausgehen, dass bei deren Manifestation zumindest zwei weitere Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben:
Erstens war Dexters Mutter akut drogenabhängig. Dies, sowie ihr krimineller Umgang und die Affäre mit einem verheirateten, notorisch fremdgehenden Polizisten, für den sie gleichzeitig als Informantin tätig war, sprechen für eine nicht allzu gefestigte psychische Struktur. Folglich dürften Dexters frühe Beziehungserfahrungen oftmals verwirrend, ängstigend, enttäuschend und verunsichernd gewesen sein, weshalb wir annehmen können, dass seine psychische Struktur zur Zeit des Traumas bereits fragiler und somit störungsanfälliger war, als die von durchschnittlichen Dreijährigen.
Zweitens wurde Dexters Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses über Jahre hinweg von seinem Ziehvater Harry, einem Cop alter Schule, geprägt. Dieser enthielt ihm psychotherapeutische Hilfe vor und vermittelte ihm stattdessen sein klassisch dichotomes Verständnis von gut und böse. Unablässig betrieb er die Abspaltung des traumatisierten Anteils als böses „Monster“, welches in Dexters Innerem lauern und in Form des Drangs zu töten an die Oberfläche drängen würde. Er hielt dieses Monster für nicht kontrollierbar und sah somit die einzige Möglichkeit der Schadensbegrenzung für Dexter und die Allgemeinheit darin, den Impuls wenigstens auf die, aus seiner Sicht, richtigen Opfer zu lenken.
Wir dürfen annehmen, dass Harry damit auch eigene Fantasien, die Bösen jenseits gerichtlicher Bürokratie gerecht bestrafen zu können, auf Dexter projizierte.
Dadurch blieb Dexter die Möglichkeit, seine Gefühle und Impulse besser zu verstehen und dadurch das Trauma adäquat zu verarbeiten, verwehrt. In einer Therapie hätte er lernen können zu begreifen, dass durch den brutalen Mord an seiner Mutter seine kindliche Welt in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Nichts konnte mehr als sicher gelten. Seine eigene Existenz, sowie alles was er liebte und brauchte, waren in einer Welt, in der etwas so schreckliches geschehen konnte, fundamental bedroht.

Diese Wahrnehmung kann die Seele eines Dreijährigen nicht verkraften, weshalb Dexters Psyche verschiedene Abwehrmechanismen einsetze um ihre Funktionalität irgendwie aufrecht zu erhalten: Erstens spaltete Dexter die Erinnerung an das Trauma über viele Jahre komplett ab, verdrängte das Erlebnis ins Unbewusste. Zweitens, quasi als Schutz vor eventuell doch ans Licht kommenden Erinnerungen, identifizierte sich Dexter unbewusst mit der einzigen Person, die angesichts der unfassbaren Gewalttat nicht um ihr Leben fürchten musste: Dem Mörder.





Das Dilemma, dass die einzige Sicherheit gebende Identifikationsfigur gleichzeitig auch zutiefst ängstigend und verhasst war, wurde durch eine nur unvollständige, gleichsam widerwillige Identifikation gelöst. Psychoanalytiker sprechen von einem „Täterintrojekt“: Dexter nimmt selbst die Rolle des Mörders ein und kann somit (gefühlt) nicht mehr zum Opfer werden.
Gleichzeitig erlebt er den Impuls zu morden aber als etwas störendes, falsches, eigentlich nicht zu ihm passendes. Er legt größten Wert darauf, sich von den anderen Mördern, die Unschuldige umbringen, zu unterscheiden und bringt sie, stellvertretend für den nicht internalisierten Teil des Mörders seiner Mutter, immer wieder um.

Dexter wurde also Opfer, machte sich, um die Opferrolle zu verlassen, selbst zum Täter, und vermeidet die Schuldgefühle eines Täters, indem er die Schuld auf andere Täter projiziert, die er dann zu gerechten Opfern macht.
Die Komplexität dieser Abwehrkonstruktion lässt bereits vermuten, dass das nie lange gut gehen kann. Und tatsächlich, nach jedem Mord dauert es nicht lange, bis der Zwang sich wieder meldet und unaufhaltsam auf Umsetzung drängt. All die verdrängten Gefühle (Angst vor der Destruktivität der Welt, Trauer um die Mutter, Hass auf deren Mörder, Schuldgefühle wegen der eigenen Täterschaft…) drängen ins Bewusstsein und drohen, Dexters sensibles psychisches Gleichgewicht zu zerstören, was ihn immer wieder dazu zwingt, dieses wieder in Ordnung zu bringen.
In seinem Tötungsritual wird das eindrucksvoll deutlich: 

  • Der ganze Raum wird sorgfältigst mit Plastikfolie ausgekleidet: Das Morden ist hier sauber, fast ein Akt der Reinigung, schmutzig sind die anderen Mörder – nicht Dexter. 
  • Vor ihrem Tod werden die Opfer mit den Opfern ihrer eigenen Gräueltaten konfrontiert: Dem Bösen wird damit ein fester Ort zugewiesen. Es ist im Anderen zu Hause, nicht bei Dexter. 
  • Dexter behält von jedem Opfer einen Blutstropfen auf einem Objektträger, welche er, fein säuberlich geordnet, in seiner Wohnung aufbewahrt: Das Opfer wird damit zur Fallnummer, zu einem Stück DNS unter vielen, somit entmenschlicht. Dexter ist ein Sammler, ein Wissenschaftler, so einer ist nicht wirklich böse. Brutale Mörder, und damit schuldig, sind die Anderen. 
Dexter selbst sieht sich (durch Harry dahingehend indoktriniert) als hoffnungslosen Fall. Der Kreislauf aus Zwangsgedanken, Mord, Erleichterung und erneutem Aufkommen der Zwangsgedanken wird solange weitergehen, bis er eines Tages gefasst und für seine Taten gerichtet wird. Davon geht Dexter, zumindest zu Beginn der Serie, fest aus.
Als Zuschauer haben wir allerdings durchaus Grund zur Hoffnung: Dexter verlässt zunehmend seine resignativ selbstgewählte innere Isolation. Die Bindungen, die er zunächst nur als Fassade eingegangen ist, lassen ihn nicht unberührt. Er entdeckt warme, emotionale Seiten in sich (dem vermeintlichen Monster) und dunkle, verborgene Seiten in den (vermeintlich guten) anderen, welchen er sich dadurch doch hin und wieder zugehörig fühlen darf.
Es beginnt eine schrittweise Ablösung von Harrys simplifizierender Ideologie, die er zunehmend nicht mehr als seine eigene betrachtet, sich aber auch noch nicht vollständig von ihr lösen kann, was sich in Form von halluzinierten Zwiegesprächen mit dem verstorbenen Harry niederschlägt: Dexter sieht Harry, hört seine Stimme und erlebt die darin geäußerten Gedanken als Harrys, nicht als seine eigenen.
Diese Symptome rechtfertigen zwar die Diagnose einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0). Da uns aber weder Hinweise auf frühere schizophrene Episoden vorliegen, noch ein kognitiver oder motorischer Abbau erkennbar wäre, ist die Prognose günstig.
Wir können davon ausgehen, dass Dexter sich auf diese Weise nach und nach von Harry, seinen Zuschreibungen und Lösungsstrategien verabschiedet.
Und wir dürfen hoffen, dass er sich eines Tages vielleicht auch von seinem Zwang lösen und die Komplexität seiner Gefühle und Persönlichkeitszüge mithilfe realer zwischenmenschlicher Beziehungen zulassen und aushalten kann.
Bis dahin wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass der liebenswürdige, zigfache Serienkiller auch weiterhin ungeschoren davonkommt.
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