Safe (ZDF): Resilienz und Selbstwirksamkeit

Foto: ZDF/Julia Vietinghoff

Es ist ein Geschenk, dass mich fast jeden Wochentag mit Freude und Dankbarkeit erfüllt, meinen Lebensunterhalt mit etwas verdienen zu können, was derart erfüllend, sinnvoll, interessant, abwechslungsreich und spannend ist, wie Psychotherapie. Ich fühle mich da oft, wie Ernest Lash, der Protagonist aus Irvin D. Yaloms großem Psychotherapieroman Lying on the Couch (Die rote Couch):

Ernest liebte es, Psychotherapeut zu sein. Tag für Tag ließen ihn seine Patienten in den verborgensten Winkeln ihres Lebens stöbern, Tag für Tag tröstete er sie, teilte ihre Sorgen und linderte ihre Verzweiflung. Wofür er seinerseits bewundert und gehätschelt wurde. Und auch bezahlt, obwohl er auch ohne Honorar als Therapeut gearbeitet hätte, wenn er auf das Geld nicht angewiesen gewesen wäre.

Glücklich der, der seine Arbeit liebt. Und Ernest schätzte sich tatsächlich glücklich. Mehr als glücklich. Gesegnet. Er war ein Mann, der seine Berufung gefunden hatte – ein Mann, der sagen konnte, ich bin genau da, wo ich hingehöre, im Auge des Sturms, wo meine Talente, meine Interessen, meine Passionen gebündelt sind.

Ernest war kein religiöser Mensch. Aber wenn er morgens seinen Terminkalender aufschlug und die Namen der acht oder neun Lieben sah, mit denen er den Tag verbringen würde, wurde er von einem Gefühl überwältigt, das er nur als religiös bezeichnen konnte. In diesen Momenten verspürte er ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit allem gegenüber, das ihn zu seiner Berufung geführt hatte.“

Kein Wunder, dass unser Beruf, der sich sowohl um die alltäglichen als auch um die fast unglaublichen wahren Geschichten im Leben von Menschen dreht, immer auch schon interessant als Schablone für spannende fiktionale Geschichten war.

In Filmen des zwanzigsten Jahrhunderts war das Bild von psychotherapeutischen und psychiatrisch Tätigen dabei noch meist von Ängsten und Befürchtungen geprägt, die mit der Vorstellung eines so tiefen und exklusiven Vertrauensverhältnisses, wie es Psychotherapien erfordern, verbunden sein können: Psychiater und Psychotherapeuten waren meist nicht nur weiß, männlich und alt, sondern überdies in der Regel selbst mehr oder weniger verrückt. Von vertrottelten Neurotikern bis zu manipulativen Serienmördern und Menschenfressern (hier ein Review dazu: www.psychiatrictimes.com/articles/stigma-continues-hollywood).

In den moderneren Filmen und Serien des 21. Jahrhunderts hat sich die fiktionale Kolleg*innenschaft diversifiziert und ist realistischer geworden: Meist sind die Psychotherapeut*innen einigermaßen kompetent und wohlwollend, häufig haben sie eher „normale“ Probleme im Privatleben, die mit der gruseligen Mysthifizierung des Berufsstandes brechen und die Psychotherapeut*innen menschlich und relateable machen.

Eine besonders realitätsnahe Darstellung psychotherapeutischer Arbeit und auch der dazugehörigen Reflexionsprozesse ist dem ZDF mit Safe geglückt. Zudem zeigt die Serie Kinder- und Jugendlichentherapien, was recht selten ist, meist sind in Serien Erwachsene die Patient*innen. Die Darstellung der psychoanalytisch ausgerichteten Therapien in der Serie ist sogar so realistisch, dass Kolleg*innen sie zum Teil empfunden haben, als würde man sich selbst bei der Arbeit zusehen. Ein bisschen ging es mir auch so.

Ganz besonders hat mich natürlich die Szene gefreut, in welcher der Therapeut Tom einen Film nutzt, um seinem jugendlichen Patienten Sam etwas zu vermitteln: „Nichts steht geschrieben!“ sagt Lawrence von Arabien in dem gleichnamigen Filmklassiker von 1962 und widerspricht damit seinen fatalistischen Gefährten, die es für aussichtslos halten, den in der unbarmherzigen Wüste verschollenen Kameraden noch retten zu wollen. „Es (das Schicksal) steht geschrieben“ sagen sie. „Nichts steht geschrieben“ entgegnet Lawrence.

Dieses Zitat soll Sam veranschaulichen, dass auch sein Schicksal nicht vorherbestimmt und festgelegt ist. Ja, eine Vulnerabilität, d.h. ein gewisses Risiko bestimmte, auch psychische, Krankheiten zu entwickeln, ist genetisch determiniert und wird somit vererbt. Aber eben nur im Sinne einer erhöhten statistischen Wahrscheinlichkeit. Ebenso sind Temperament und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, wie Sams Impulsivität, in der Tendenz angeboren.

Welche Persönlichkeit ein Mensch jedoch letztendlich ausbildet und ob eine bestimmte Krankheit, in Sams Fall vielleicht eine Depression oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, tatsächlich ausbricht, hängt auch noch von anderen, biographisch-sozialen Faktoren, wie z.B. den frühen Bindungserfahrungen ab. Man spricht daher vom bio-psycho-sozialen Modell von Krankheit bzw. Gesundheit. (bio = vererbte genetische Anlagen, psycho = angeborene Temperaments-/Persönlichkeitseigenschaften, sozial = prägende biographische Ereignisse und Lebensumstände).

Wenn ein Kind bspw. seine frühe soziale Umwelt als sicher und verlässlich erlebt, entwickelt es Urvertrauen in sich selbst und andere, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert und wird dadurch resilienter, d.h. widerstandsfähiger, auch gegen psychische Erkrankungen. Und letztlich spielen auch die Lebensumstände in der späteren Entwicklung eine Rolle: Chronischer Stress, Armut, Gewalterfahrungen und andere traumatische Erlebnisse wirken sich ungünstig auf die Gesundheit im Allgemeinen aus und können den Ausbruch von Krankheiten triggern.

Nun scheint es für Sam auf allen Ebenen – Genetik, frühe Bindungen und spätere Lebensereignisse – nicht gerade günstig auszusehen: Seine Eltern waren offenbar beide psychisch krank, die Mutter verlor er durch Suizid und er hat viel Ablehnung und Kritik aufgrund seiner Impulsivität und Regelverstöße erfahren. Genau darum ist das Filmbeispiel, das Sams Therapeut in Safe wählt, so passend: Auch für Lawrence von Arabien stehen die Chancen nicht gut. Und dennoch steht das Schicksal nicht geschrieben! Lawrence kann hier und jetzt seine persönlichen Ressourcen – Mut, Entschlossenheit, Reitkunst… – in die Waagschale werfen, um das Unwahrscheinliche möglich zu machen. Ebenso kann auch Sam sich entscheiden, kein Schläger oder Dieb zu sein und sich bei aller Frustration und Verzweiflung nicht umzubringen. Er kann die Hilfe seines Therapeuten und seiner Pflegeeltern annehmen und mit Mut, Entschlossenheit und Offenheit auf das Mädchen zugehen, das er mag. Er kann, um es mit Sensei Johnny Lawrence aus Cobra Kai zu sagen, „das Drehbuch umschreiben (flip the script)“, oder, in den Worten eines der lebensweisesten Philosophen aller Zeiten, des Stoikers Epiktet: „Vergegenwärtige dir einen Charakter, ein Musterbild, wonach du zu leben dir vornimmst, sowohl im privaten, als im öffentlichen Leben“ und sich somit selbst das Drehbuch, die Leitlinie seines eigenen Lebens – auch angesichts widriger Umstände – kreieren.

Der amerikanische Psychotherapeut Stanton Samenow, auf dessen Buch über Psychotherapie mit Straftäter*innen sich sogar Dr. Melfi in den Sopranos bezieht, hält auf seinem Blog selbst für dieses sicher sehr schwierige Patient*innenklientel fest: Es gibt immer Hoffnung auf Veränderung (hier der Link zum Post: www.psychologytoday.com/intl/blog/inside-the-criminal-mind/202102/does-psychotherapy-make-criminals-worse)

Fazit: Nicht nur wegen dieser sehr gelungenen Therapiesequenz ist Safe absolut sehenswert. Das zumindest steht geschrieben!

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Systemsprenger: Hinsehen bis es schmerzt

Systemsprenger ist ein großartiger, schmerzhafter, weitgehend realistischer Film über ein Kind mit einer schweren Bindungsstörung und die Lücken in unserem sozialpädagogisch-psychiatrischen Versorgungssystem. Allerdings ist der Film potentiell auch sehr triggernd, durch die Darstellung von Traumatisierung, emotionaler Vernachlässigung und Gewalt. Insofern ist der Film dringend allen zu empfehlen, die sich so etwas ansehen können – allen anderen ist dringend davon abzuraten. Nachdem das gesagt ist, hier mein – weitgehend spoilerfreier – erster Eindruck. 
Quelle: https://www.systemsprenger-film.de/
Was also macht den Film so gut? Zunächst mal sind die Schauspieler*innen, allen voran die Hauptdarstellerin Helena Zengel (Benni), durch die Bank großartig und jedes Setting so realistisch, dass man als Profi aus dem Bereich Kinder- und Jugendhilfe/-psychiatrie ständig ein „Ja, genau so…“-Gefühl hat und als Laie einen ziemlich realitätsnahen Eindruck vermittelt bekommt, wenngleich dieser im Spielfilm (anders als in einer Dokumentation) natürlich unkommentiert bleibt, was manche Vorgehensweisen des Personals der verschiedenen Einrichtungen vielleicht schwer einzuordnen und nachzuvollziehen macht, z. B. die wiederholten Fixierungen, den Off-label-use von Neuroleptika oder die genauen Erwägungen, warum Benni bestimmte Einrichtungen verlassen muss. Andererseits versetzt genau diese Intransparenz die Zuschauenden auch in die Perspektive der Protagonistin Benni, der all diese Maßnahmen ebenfalls willkürlich und zum Teil grausam erscheinen müssen. 
Der Film zeigt hier die ganze Überforderung, Desillusionierung und Frustration eines Hilfesystems, in dem durchaus engagierte und liebevolle Menschen, teilweise bis zur persönlichen Verausgabung, aktiv sind. Die Grenzen des Systems liegen nicht in Engagement oder Qualifikation der Fachkräfte, sondern im maximal banalen Fehlen von Ressourcen, i.e. Zeit und Geld. Um es klar zu sagen: Das deutsche Kinder- und Jugendhilfesystem und die Versorgungsstrukturen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sind unterm Strich nicht so schlecht und bieten einer sehr großen Zahl Kinder und Jugendlicher mit ihren Familien hochwertige professionelle Unterstützung und Behandlung. Das frustrierende und eigentlich unfassbare ist nicht, dass Systeme an ihre Grenzen geraten, sondern, dass unser System eben vor allem an finanzielle und damit vermeidbare Grenzen stößt. Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Personal – das wäre nicht unmöglich; folglich sind wir alle, als Bürger, Wähler und Mitmenschen, dafür verantwortlich, wenn und wo es nicht funktioniert. Damit ist der Film auch ein Appell an die Zuschauenden, die Themen Kinder- und Jugendhilfe, psychische Gesundheit und psychosoziale Versorgung aller, speziell der sozioökonomisch schwächeren Gesellschaftsschichten, nicht erst und nur dann wichtig zu finden, wenn spektakuläre Fehler und Unterlassungen durch die Presse gehen. 
Genau hier wird dieser kleine deutsche Film zum psychologischen Meisterwerk: Er zwingt – und es ist oft ein schmerzhafter Zwang – uns nicht nur hinzusehen, sondern auch intensiv zu fühlen. Bereits nach wenigen Minuten und bis über den Abspann hinaus, spürt man die intensive, schier unerträgliche Daueranspannung, die Kinder wie Benni ständig begleitet. 
Aufgrund der frühen Traumatisierung, der immer und immer wieder enttäuschten Beziehungswünsche und aggressiven Gegenreaktionen ihres Umfelds, ist für Benni keine Situation, nicht einmal die oberflächlich glücklichen Momente, sicher. Indem der Film uns brachial in diese Gefühlswelt hineinzieht erleben wir, wie Benni, unterschwellig gerade in diesen Situationen – Pommes essen, Schlittschuh laufen, mit einem Baby spielen – sogar die größte Anspannung, weil uns der Film früh klarmacht, dass in Bennis Welt jederzeit jede Kleinigkeit zur absoluten Eskalation führen kann. Kurze Verschnaufpausen bieten, paradoxerweise, nur die Szenen, in denen Benni sediert und fixiert im Überwachungsraum der Kinder- und Jugendpsychiatrie liegt: Der traurige Höhepunkt jeder Eskalation und der einzige kurze Moment des Innehaltens vor dem nächsten Sturm. 
Psychopathologisch gesehen, hat Benni eine Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (ICD-10 F94.2), die durch folgende Symptome definiert ist:
  • Beziehungsmuster mit einer Mischung aus Annäherung und Vermeidung sowie Widerstand gegen Zuspruch
  • Eingeschränkte Interaktion mit Gleichaltrigen
  • Beeinträchtigung des sozialen Spielens
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggressionen
  • Nicht-selektives Bindungsverhalten mit wahlloser Freundlichkeit und Distanzlosigkeit
  • Gleichförmige Interaktionsmuster gegenüber Fremden
  • Inadäquate Reaktionen auf Beziehungsangebote von Bezugspersonen 
Mögliche Ursachen dieser Bindungsstörung sind Misshandlung, Missbrauch und Vernachlässigung, v.a. in den ersten Lebensjahren, sowie inkonsistente und wechselnde Bezugspersonen. Die Kinder entwickeln dadurch keine sichere Bindung bzw. das, was gerne Urvertrauen genannt wird. Keine soziale Situation fühlt sich sicher, keine andere Person wirklich verlässlich an. Wer sich nie sicher fühlt, muss psychologisch und physiologisch ständig reaktionsbereit sein, d.h. das sympathische Nervensystem, zuständig für die sogenannte Fight-or-flight-Reaktion ist ständig aktiviert: Mehr Stresshormone werden ausgeschüttet, man ist schreckhaft, reizbar, angespannt und überdreht. 
Die Daueranspannung ist so anstrengend und unaushaltbar, dass den Kindern letztlich eine Wahl bleibt, als die nächste Eskalation herbeizuführen, um danach für einen kurzen Moment Ruhe zu haben – und sei es durch Gewalt, Zwang, Verlassenwerden oder absolute Erschöpfung. 
Trotz allem sind auch diese schweren Bindungsstörungen behandelbar. Was es dazu braucht, wird im Film angedeutet: Intensive pädagogische Betreuung durch langfristig konstante Bezugspersonen, die wiederum ausreichend Zeit, Ressourcen und Supervision erhalten, um den langen und von Rückschlägen geprägten Weg zu gehen. Und eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, für die dasselbe gilt. Leider sind das Dinge, die wir uns als Gesellschaft bisher nicht leisten wollen. Und so lässt uns der Film am Ende ratlos und traurig zurück – ebenso wie schon viele der realen Bennis uns als Profis am Ende ratlos und traurig zurückgelassen haben.
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