Viele der Balletttänzerinnen in Flesh and Bone zeigen (worauf der Serientitel schon hinweist) Symptome von Essstörungen. Am deutlichsten ersichtlich werden diese bei Claires Mitbewohnerin Mia, deren Essstörung in der Serie auch thematisiert wird.
Mia leidet unter einer Anorexia nervosa, der Krankheit, die als Magersucht bekannt ist. Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F50.0) ist eine Anorexia nervosa zu diagnostizieren, wenn die folgenden Symptome vorliegen:
- Das Körpergewicht liegt unter einem Body-Mass-Index (BMI) von 17,5
- Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung
- Körperschemastörung
- Amenorrhoe (Ausbleiben der Periode)
Der BMI wird nach folgender Formel berechnet: (Körpergewicht in kg) : (Körpergröße in m)². Bei Mias geschätzter Körpergröße von etwa 1,75 läge die Grenze bei einem Körpergewicht von 53,6 kg.
Dass sie nur sehr wenig bzw. sehr selten isst, wird immer wieder thematisiert, zum Beispiel wenn Mia Claire, nur scheinbar scherzhaft, berichtet, sie habe sich einen Keks nur gekauft, um ihn anzusehen, oder als Claire ihr im Streit sagt, sie habe sie mit Essen im Mund gar nicht erkannt. Sich leckeres, hochkalorisches Essen, vor allem Süßigkeiten, aufzuheben um es anzusehen oder daran zu riechen und sich dadurch einerseits eine visuelle oder olfaktorische Ersatzbefriedigung zu verschaffen, andererseits der eigenen Willensstärke zu versichern, ist eine nicht seltene Strategie von Menschen mit Anorexia nervosa. Ebenso typisch ist, dass Mia offenbar nie vor anderen isst, da das Essen zu etwas schambesetztem geworden ist und sie Angst davor hat, ihr Essverhalten könne kritisch beobachtet und bewertet werden.
Neben dem restriktiven Essen nimmt Mia, wie sie ihrem Arzt berichtet, Diätpillen (Appetitzügler) und Abführmittel ein.
Ob Mia eine Körperschemastörung hat, das bedeutet, ob sie ihren Körper oder einzelne Körperregionen, trotz ihres Untergewichts weiterhin als zu dick wahrnimmt, wissen wir nicht genau. Ebenso ist uns nicht bekannt, ob sie ihre Periode noch bekommt.
Diese beiden Merkmale der Anorexia nervosa werden aber wiederholt durch die anderen Tänzerinnen in Flesh and Bone gezeigt. Zum Beispiel, wenn eine von ihnen offenbar sehr überrascht, fast schockiert ist, als sie ihre Tage bekommt und auch die anderen (bis auf Claire) mit eigenartigem Ekel scheinbarer Verachtung darauf reagieren. Oder wenn zum Beispiel Claires eher normal große Brüste immer wieder abfällig als zu groß beurteilt werden. Auch das restriktive Essen scheint unter den Tänzerinnen weit verbreitet, was deutlich wird, wenn sie die Schwangere Mitarbeitern der Ballettschule mit oberflächlicher Verachtung, aber deutlich spürbarem unterschwelligem Neid beim Essen von Fast Food beobachten.
Bis heute sind die genauen Ursachen der Anorexia nervosa und deren Interaktion nicht vollständig wissenschaftlich geklärt. Vieles spricht aber für ein Zusammenspiel von genetischer Veranlagung, gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Faktoren.
Ob in Mias Familie gehäuft Essstörungen auftreten, was auf eine genetische Veranlagung hinweisen würde, wissen wir nicht. Sollte es so sein, würden Psychologen von einer genetischen Disposition sprechen, das heißt, durch die genetische Veranlagung besteht ein erhöhtes Risiko, an einer Essstörung zu erkranken, aber nur, wenn zusätzlich gesellschaftliche Faktoren sowie familiäre und/oder persönliche Auslöser hinzukommen.
Gesellschaftlichen Einflüssen, welche die Entwicklung einer Anorexia nervosa fördern, ist Mia fraglos zur Genüge ausgesetzt. Nicht nur, dass sie wie die meisten Mädchen in der westlichen Welt unserer Zeit von dünnen Puppen über dünne Popstars bis zu den dünnen Mädchen in Topmodel-Shows mit unrealistischen Ansprüchen an die weibliche Figur indoktriniert wurde (tatsächlich gaben in einer Studie 39% der an Anorexia nervosa erkrankten Frauen und Mädchen an, Germanys next Topmodel habe ihre Krankheit besonders beeinflusst), sie bewegt sich als Tänzerin auch noch in einem Umfeld, in dem der soziale Druck und die Kritik im Hinblick auf die eigene Figur ins Extrem getrieben werden.
Familiäre Faktoren, die den Ausbruch einer Essstörung begünstigen können, liegen vor, wenn in Familien starke, oft unausgesprochene Konflikte bestehen oder Familien extremen Wert auf Aussehen, Leistung, gesunde Ernährung und das äußere Ansehen der Familie legen. In der Person von Mias Mutter finden wir all dies prägnant verkörpert.
Last but not least bestehen bei Mia diverse persönliche Risikofaktoren: Sie ist permanent hohem Stress und großem Leistungsdruck ausgesetzt. Sie hat unter den Tänzerinnen keine gute Freundin, findet, trotz einiger Versuche, keinen Freund und hat, trotz größter Anstrengung, als Tänzerin nicht den Erfolg, den sie sich erhofft.
Leider gelingt es Mia nicht, ihre Anorexia nervosa zu überwinden, bevor sie an der schweren körperlichen Erkrankung Multiple Sklerose erkrankt. Aus Verzweiflung darüber versucht sie, sich das Leben zu nehmen. Zum Glück wird sie rechtzeitig von Romeo entdeckt und kann (zumindest vorerst) gerettet werden. In der Klinik werden die Ärzte auch auf ihre Essstörung aufmerksam. Zudem bemüht Claire, die von Mia als ihre schärfste Konkurrentin wahrgenommen wurde, sich um sie und zeigt ihr damit, dass es wichtigeres als Perfektion und Erfolg gibt. Vielleicht wird so die zweite schwere Krankheit in Mias Leben zum Wendepunkt…