Skins: Effy

„If you close your eyes, you see darkness. But if you keep them closed for long enough, and concentrate hard, you’ll see light.“
Effy
 
Effy Stonem aus der weniger bekannten, aber sehr sehenswerten, melancholisch-schönen Serie Skins (UK, 2007), ist ein faszinierender, düsterer Charakter. Eine jugendliche Femme fatale, körperlich fast noch ein Kind und doch von der tiefen Traurigkeit und dem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe getrieben, die einen Menschen zerreißen können. Beliebt, begehrt, bewundert – und doch im Innern unsicher und ängstlich. Extravertiert, offensiv und exzessiv in fast jeder Hinsicht – und doch im Innern einsam und entfremdet, ihre wahren Gefühle vor allen, auch sich selbst, verbergend.
Auf der psychopathologischen Ebene zeigt Effy in den ersten beiden Staffeln, in denen sie eher eine Nebenrolle spielt, einen elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) beschrieben als die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu sprechen, obwohl geistige Entwicklung, Sprachverständnis und Sprechfähigkeit im Allgemeinen altersgemäß entwickelt sind und in bestimmten Situationen normal gesprochen werden kann.
Interessanterweise wird elektiver Mutismus in der ICD-10 in einem Kapitel mit den Bindungsstörungen aufgeführt und tatsächlich scheint es, als würde Effy durch ihr Schweigen vor allem ganz präzise regulieren, mit wem sie wann und wie weit in Beziehung tritt und wen sie von sich fernhält – dazu später mehr.
In den Staffeln drei und vier wird Effy der Hauptcharakter der Serie und leider auch schwer psychisch krank. Wir erfahren, dass es eine familiäre Vorbelastung von affektiven Störungen (ICD-10: F3) gibt. Hierunter fallen Störungen der Stimmung, also krankhaft gedrückte Stimmung (Depression) sowie krankhaft gehobene Stimmung (Manie) und diverse leichtere und Mischformen dieser Störungen.
In der Serie wird Effys Krankheit als psychotische Depression bezeichnet, damit ist das Krankheitsbild der Schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) gemeint. Zusätzlich zu schweren depressiven Symptomen, wie z.B. gedrückter Stimmung, Freud- und Interessensverlust, Antriebslosigkeit, Leeregefühlen, geringem Selbstwertgefühl und Suizidalität, liegen hier sogenannte psychotische Symptome, also gravierende Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, wie z.B. Wahnvorstellungen und Halluzinationen vor.
Damit wird Effys Aktusymptomatik passend beschrieben. Meiner Ansicht nach könnte jedoch Effys Psychodynamik insgesamt auch als beginnende Bipolare Affektive Störung (F31.5) klassifiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass außer der beschriebenen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen auch manische oder hypomanische (leichtere manische) Episoden auftreten können. Diese sind gekennzeichnet durch Verhalten wie:
  • Gesteigerte Aktivität und Ruhelosigkeit
  • Soziale Hemmungslosigkeit mit sozial unangemessenem Verhalten
  • Vermindertes Schlafbedürfnis
  • Überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Leichtsinniges, riskantes Verhalten
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Interessanter als die formale psychopathologische Klassifikation von Effys Symptomatik ist jedoch, wie so oft, ihre innere Psychodynamik: Was Effy sich, wie jeder Mensch, wünscht, ist Liebe. Wahre, bedingungs- und selbstlose, verlässliche Liebe. Was sie, wie viele Menschen, mehr als alles andere fürchtet, ist verlassen, enttäuscht, verletzt zu werden.
Psychologen nennen das einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Effy sucht intensiv nach Liebe, versucht, die Menschen durch ihre Extravertiertheit und ihren Charme an sich zu binden – und muss doch gerade die Beziehungen, die ihr besonders viel bedeuten, bis zum Zerreisen auf die Probe stellen, gerade weil sie ihr so viel bedeuten, dass sie den Gedanken, sich weiter einzulassen und die Angst davor, später vielleicht doch verlassen zu werden, nicht aushalten kann.
 
Die Einsamkeit ist ihr ein vertrauter Feind. Ihre Eltern waren nicht verlässlich für Effy da, auch wenn die Mutter sich immer wieder bemüht hat, fehlte es ihr doch an eigener emotionaler Stabilität. Ihr Bruder Tony liebt Effy sehr, ist jedoch – natürlich – mit seinem eigenen Erwachsenwerden beschäftigt und somit kein Ersatz für die fehlende, durch die Eltern nicht gegebene, Stabilität und den emotionalen Halt, den ein Kind braucht. Effys Ersatzfamilie sind – wie für die meisten Jugendlichen in Skins – ihre Freunde.
Folglich erwartet sie von diesen das, was sie von Familien kennt: Oberflächliche Gesellschaft deren Sicherheit gerade darin besteht, dass niemand ihr wichtig genug wird, um sich von ihm abhängig zu fühlen und dadurch verletzbar zu werden. Freunde wie Cook, von dem man immer weiß, dass man nichts zu erwarten hat, sind die sicherste Abwehr gegen Bindungs- und Verlustängste.
Effy selbst beschreibt diese Ambivalenz so: „Sometimes I think I was born backwards, you know, came out my mum the wrong way. I hear words go past me backwards. The people I should love I hate, and the people I hate…”
Freddie dagegen, mit seinem glaubhaften Angebot aufrichtiger und bedingungsloser Liebe, wird Effys vermeidendem Beziehungsmodus gefährlich, fordert ihre abgewehrten Wünsche und Sehnsüchte heraus und muss sich von Effy so hart und wiederholt auf die Probe stellen lassen, dass seine Liebe und er selbst fast daran zerbrechen. Dennoch schafft er es schließlich, das Vertrauen der so unsicheren, verletzlichen, sicherheitsbedürftigen Effy zu gewinnen und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte alles gut werden – aber so eine Art Serie ist Skins nicht…
 
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Suicide Squad: Harley Quinn

Zu Suicide Squad ist ja von Kritikerseite bereits alles gesagt. Auch die Geschichte der Psychiaterin, die dem Joker verfällt, derentwegen ich mir den Film, trotz der (zu Recht) vernichtenden Kritiken, angesehen habe, wird nur oberflächlich behandelt.
Was wir dennoch erfahren, ist, dass Dr. Harleen Quinzel, die spätere Harley Quinn, im Arkham Asylum (der legendären forensischen Psychiatrie Gotham Citys) offenbar psychotherapeutische Gespräche mit dem Joker führte, in deren Rahmen sie sich immer mehr in ihn verliebte. Ein beliebtes Motiv, das zeigt, dass die psychotherapeutische Beziehung, ihre Beschaffenheit, Regeln und Grenzen, Autoren nachhaltig interessieren.
In Film und Fernsehen wird die therapeutische Beziehung dem hohen Anspruch, einerseits echte intensive Gefühle und tiefes Vertrauen hervorzubringen und gleichzeitig streng auf die Therapie und deren Ziele begrenzt zu bleiben, oft nicht gerecht. So ergab die Auswertung von über 100 Filmen*, in denen Psychotherapeuten vorkamen, dass diese in 45% der Fälle die Grenzen des therapeutischen Rahmens überschritten. Etwa die Hälfte der Grenzüberschreitungen war sexueller Natur.
In der Realität sind solche schweren therapeutischen Kunstfehler zum Glück seltener, wenngleich sie natürlich vorkommen. Gelingt es, eine gute, konstruktive und tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, ist diese einer der wichtigsten, in manchen Studien sogar der wichtigste Wirkfaktor erfolgreicher Psychotherapien. „Gut“ ist die therapeutische Beziehung dann, wenn Therapeut und Patient sowohl wohltuende, Vertrauen und Sicherheit fördernde Nähe aufbauen, als auch das Geschehen innerhalb und außerhalb der Therapiesitzungen analytisch reflektieren und zwischen diesen beiden Ebenen flexibel hin- und herwechseln können. Um nicht in die Gefahr zu geraten, dauerhaft zu einseitig zu agieren, also sich zum Beispiel zu unreflektiert auf die positiven Gefühle gegenüber dem Patienten einzulassen und sich in Rettungs- oder Liebesphantasien zu verlieren, praktizieren Psychotherapeuten in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit nur unter Supervision erfahrener Kollegen, denen sie regelmäßig über den Therapieverlauf berichten.
Dies scheint Dr. Quinzel versäumt zu haben, weshalb niemand intervenieren kann, als sie sich mehr und mehr in ihren manipulativen Patienten verliebt und diesem schließlich zur Flucht verhilft.
Im Rahmen des Ausbruchs kommt es zu einer eigenartigen Szene: Obwohl Harley dem Joker bereits verfallen und ergeben zu sein scheint, lässt er sie überwältigen und verabreicht ihr Elektroschocks. Es wirkt, als sei der Joker mit der Elektrokrampftherapie (EKT), bei welcher mittels Stromstößen gezielt Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst werden, vertraut.
Vermutlich wurde er ihr selbst in Arkham gegen seinen Willen unterzogen. Indem er nun Harley dasselbe antut, wehrt er das Gefühl des passiven Opfers ab und projiziert es auf Harley, um sich selbst wieder aktiv, stark und wehrhaft fühlen zu können. Es ist einer von mehreren grausamen Akten des Jokers, die alle dazu dienen, Harley zu dem irren, albernen aber auch unheimlichen Freak zu machen, als welcher er selbst von allen anderen gesehen wird.
In unserer Realität wird EKT tatsächlich zur Behandlung schwerer Depressionen und Schizophrenien eingesetzt, wenn psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsversuche erfolglos bleiben. Allerdings nur, wenn der Patient dem zustimmt.
Die durch die elektrischen Impulse ausgelösten Krampfanfälle des Gehirns stoßen dabei dessen Selbstheilungskräfte an, so dass bestimmte Botenstoffe wieder ins Gleichgewicht gebracht und neuronale Verbindungen quasi repariert werden können.
Bei Harley Quinn, die vor der EKT keine psychiatrischen Symptome zeigt, ist diese selbstverständlich absolut kontraindiziert und erwirkt somit auch eine geradezu paradoxe Reaktion: Die EKT löst bei Harley deutliche Symptome einer Manie aus. Diese affektive (= die Stimmung betreffende) Störung, kann sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F30.2) unter anderem äußern durch:
  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Verlust sozialer Hemmungen, unangemessenes Verhalten
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten ohne Risikobewusstsein
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Darüber hinaus kann eine manische Episode mit psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) einhergehen, was Harley andeutet, wenn sie berichtet, Stimmen zu hören oder sich nicht sicher ist, ob es sich bei Enchantress um eine optische Halluzination handelt.
Somit unterscheidet sich Harley, bei aller Liebe und äußerlichen Ähnlichkeit, vom Joker. Während dessen Fröhlichkeit nur Sarkasmus ist, ein Stilmittel, welches seinen Zorn noch grausamer wirken lässt, ist Harleys Stimmung, infolge der Manie, tatsächlich gehoben. Sie genießt weniger die Grausamkeit, als vielmehr die Action um ihrer selbst willen. Während der Joker planmäßig handelt, um andere, meist Batman, zu provozieren, tut und sagt Harley impulsiv wonach ihr ist und hat wenig Gespür und kaum Interesse für die Konsequenzen. Der Joker möchte Angst verbreiten, weil die Gesellschaft ihn verstoßen hat. Darum stiftet er Chaos. Harley kehrt der Gesellschaft den Rücken, weil das Chaos aufregender ist.
Manien verlaufen episodisch (im Gegensatz zu der zeitstabilen und situationsübergreifenden dissozialen Persönlichkeitsstörung des Jokers). Auf manische Phasen mit starker Symptomatik folgen Phasen, in denen die gesunde Grundpersönlichkeit wieder hervortritt, die sich, auch bei Harley Quinn, „normale“ Dinge wünscht: Eine Familie, ein Tässchen Espresso, ein gutes Buch…
*Gharaibeh, N.M. (2005). The psychiatrist’s image in commercially available American movies. Acta psychiatrica Scandinavica, 111(4), 316-319.
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Terminator 2: Sarah Connor



Sarah Connor gilt, insbesondere in Terminator 2 – Tag der Abrechnung, als eine der stärksten weiblichen Heldenfiguren des Actionkinos. Dennoch befindet sie sich zu Beginn des Films in einer überaus hilflosen Lage, nämlich zwangseingewiesen in einer geschlossenen forensischen Psychiatrie.

[Insgesamt erinnert die Szene: Starke (rothaarige!) Frau mit geheimem Wissen wird von (männlichen) Autoritäten nicht verstanden und dafür bestraft, ein wenig an die Hexenjagden früherer Jahrhunderte.]
Aber zurück zur Psychologie: Sarah Connor erhält von ihren Ärzten die Diagnose Schizoaffektive Störung und soll mit Thorazine behandelt werden. Thorazine ist der amerikanische Handelsname eines Medikaments mit dem Wirkstoff Chlorpromazin. Chlorpromazin gehört zur Arzneimittelgruppe der Neuroleptika und kann zur Behandlung von Wahn und Unruhe im Rahmen von schizophrenen Störungen eingesetzt werden. Insofern wäre eine Thorazine-Therapie ein denkbarer Behandlungsansatz für Sarah Connor – wenn sie denn eine schizoaffektive Störung hätte.
Eine solche wäre nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F25) gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten von
  • Symptomen einer Schizophrenie, z.B. Wahn   und
  • Symptomen einer Affektiven Störung, also entweder
    • einer Depression (gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebsminderung)   oder
    • einer Manie (situationsunangemessen gehobene Stimmung, Gereiztheit, Antriebssteigerung, Größenwahn)
Fairerweise muss man den (zugegebenermaßen so unprofessionellen wie unsympathischen) Behandlern von Sarah Connor zugestehen, dass der Verdacht auf eine wahnhafte Störung naheliegt, wenn eine Patientin steif und fest der Überzeugung ist, von menschengleichen Robotern aus der Zukunft gejagt zu werden, weil sie die Mutter des designierten Retters der Menschheit sei. Tatsächlich scheint dies näher zu liegen, als ihr ihre Geschichte einfach zu glauben. Da sie im Zusammenhang mit diesen Überzeugungen eine Straftat verübt hat (einen Sprengstoffanschlag auf das Cyberdyne-Labor), scheint auch die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie (i.e. einer psychiatrischen Einrichtung für aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig gewordene oder schulunfähige Täter) angemessen.
Würde es sich bei ihrer Überzeugung tatsächlich um eine Wahnvorstellung handeln, könnte die Behandlung mit Thorazine ihr diese nehmen und sie vor der Begehung weiterer Straftaten bewahren. Zudem wirkt Chlorpromazin sedierend, also beruhigend und ermüdend, so dass Sarahs ängstlich-gereizte Übererregung, welche die Ärzte als manisches Symptom fehldeuten, dadurch ebenfalls behandelt werden könnte.
So machen sich Sarah Connors Behandler im Film zwar durch ihr unprofessionelles aggressiv-entwertendes Verhalten ihrer Patientin gegenüber schuldig. Diagnosestellung und Behandlungsplan an sich sind jedoch nachvollziehbar, da die Ärzte unmöglich wissen (und kaum glauben) können, dass Sarah die Wahrheit sagt.
Die Rahmenhandlung der Terminator-Reihe wirkt phantastisch genug um davon auszugehen, dass eine Situation wie die von Sarah Connor zu Beginn des zweiten Films in unserer Realität nicht denkbar ist. Andererseits haben sich 2013 nicht wenige Kollegen die Frage gestellt, wie sie wohl reagiert hätten, wenn ihnen ein Patient vor den Enthüllungen Edward Snowdens vom Ausmaß der Geheimdienstüberwachungen berichtet hätte…
Sarah Connor hat also keine schizoaffektive Störung, braucht kein Thorazine und gehört nicht in die forensische Psychiatrie. Unbeschadet überstanden hat sie die Ereignisse des ersten Terminator-Films jedoch auch nicht. Zu Beginn der zweiten Teils zeigt sie die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Ein Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, z.B. von einem Terminator gejagt und mehrfach fast getötet zu werden
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, z.B. Tagträume vom Ende der Welt
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, z.B. unverhofft auf der Flucht aus dem Krankenhaus auf genau das Terminator-Modell zu treffen, von welchem man gejagt und mehrfach fast getötet wurde
  • Erhöhte psychische Sensitivität und Erregung, z.B. Gereiztheit, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Impulsivität…
Mithilfe ihres Sohnes und des umprogrammierten T-800 kann Sarah ihr Trauma teilweise überwinden. Wer beides nicht zur Hand hat, dem hätte auch mit einer Psychotherapie im ambulanten oder offenen stationären Rahmen (statt geschlossener Forensik), der vorübergehenden Einnahme eines leichten Beruhigungsmittels bei Bedarf (statt neuroleptischer Dauermedikation) und einer therapeutischen Fokussierung auf die Gefühle von Angst und Hilflosigkeit (statt den Wahrheitsgehalt der Geschichte) geholfen werden können.
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Homeland: Carrie

Im Zentrum von Homeland steht die CIA-Agentin Carrie Mathisen. Carrie leidet unter einer bipolaren affektiven Störung (ICD-10: F31). Die Bezeichnung bipolar bezieht sich darauf, dass das Hauptmerkmal der Störung ein Wechsel zwischen den beiden Extrempolen affektiven Erlebens, Manie und Depression, ist.

Relativ viele Menschen, die unter Stimmungsschwankungen oder widersprüchlichen Gefühlen leiden, meinen sich in mehr oder weniger seriösen Beschreibungen der bipolaren affektiven Störung („himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt…“) wiederzufinden, also „manisch-depressiv“ zu sein. Tatsächlich sind aber die meisten Stimmungsschwankungen völlig normal und eine bipolare affektive Störung mit Krankheitswert recht selten.

In Homeland können wir dagegen viel über eine wirkliche bipolare affektive Störung lernen.

Diese ist zu einem bedeutsamen Anteil genetisch determiniert, das heißt, Angehörige von Erkrankten haben ein (Studien zufolge bis zu siebenfach) erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken. Diese Disposition hat Carrie von ihrem Vater geerbt. Allerdings wird nicht jeder Mensch mit familiärer Vorbelastung krank, Carries Schwester Maggie leidet beispielsweise nicht unter der Störung.
Warum bei gleichem genetischem Risiko ein Mensch erkrankt und der andere nicht, erklärt das psychologische Diathese-Stress-Modell. Es besagt, dass zur Disposition für eine bestimmte Erkrankung (Diathese) noch belastende Faktoren (Stress) hinzukommen müssen, um zum Ausbruch der betreffenden Krankheit zu führen. Je stärker die genetische Disposition, umso geringer die Stressschwelle und umgekehrt.

Im Verlauf der Serie erfahren wir, dass Carrie krank wurde, nachdem sie begonnen hatte, aufs College zu gehen. Für eine so ehrgeizige Person wie sie, dürfte das mit einigem Stress verbunden gewesen sein. Zudem hat sich an ihrem ersten Collegetag ihre Mutter von der Familie abgewandt und nie mehr gemeldet, worunter sie beträchtlich gelitten haben muss. Es gibt Hinweise darauf, dass der Weggang Carrie schwerer getroffen hat, als Maggie. Zunächst scheint Maggie die ältere zu sein, möglicherweise war sie bereits in ihrem Leben als Ärztin, Ehefrau und Mutter angekommen und gefestigt, während Carrie gerade erst auf dem Sprung zur Verselbstständigung und entsprechend irritierbar war. Darüber hinaus hat Maggie ein engeres Verhältnis zum zweiten Elternteil, ihrem Vater, der später auch bei ihr lebt. Möglicherweise hatte sie als ältere noch mehr „gute“ Jahre mit ihm, bevor er selbst krank wurde. In ihrem Beruf als Ärztin wird der Wunsch deutlich, für den kranken Vater da zu sein, während sie der Mutter nicht verzeiht, dass sie ihn verlassen hat.

Anders Carrie: Sie hat Verständnis für ihre Mutter, die es mit dem kranken Vater nicht mehr ausgehalten hat. Sie verdrängt auch ihre eigene Krankheit, welche sie mit den schwachen Seiten des Vaters verbindet, und sucht sich stattdessen in Person von CIA-Agent Saul einen Ersatzväter, der Macht, Stärke und Belastbarkeit verkörpert.

Die Verdrängung der eigenen Schwäche zeigt sich auch in Carries Lebensstil. Sie ist ein Workoholic und definiert sich selbst fast ausschließlich über ihren Beruf. Sie arbeitet viel, ernährt sich ungesund, trinkt zu viel, schläft zu wenig, nimmt ihre Medikamente unregelmäßig und ohne fachärztliche Kontrolle und hat keine stabilen, vertrauensvollen Beziehungen in ihrem Privatleben. Somit finden wir in Carries Alltag nahezu alle Stressoren, die den Ausbruch der Erkrankung begünstigen. Auch das unterscheidet sie von Maggie, deren Leben wesentlich beschaulicher und geregelter zu sein scheint.

Als die Belastungen immer größer werden und sie zudem ihre Medikamente absetzt, erlebt Carrie schließlich einen Rückfall. Dieser verläuft nach dem typischen Muster des Typs I der bipolaren affektiven Störung: Eine manische Phase gefolgt von einer depressiven Phase.

Carrie erlebt dabei das Vollbild einer manischen Episode, wie sie in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F31.1) folgendermaßen definiert ist: Eine Periode abnormer und ständiger gehobener, überschwänglicher oder gereizter Stimmung, die mindestens eine Woche dauert und während der mindestens drei der folgenden Symptome vorliegen:

  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Ideenflucht oder Gefühl von Gedankenrasen
  • Verlust normaler sozialer Hemmungen, was zu unangemessenem Verhalten führt
  • vermindertes Schlafbedürfnis
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten, dessen Risiken die Betroffenen nicht erkennen
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit

Zusätzlich können bei manischen Episoden psychotische Symptome in Form wahnhafter Ideen und Überzeugungen auftreten, also zum Beispiel Größen- und Verfolgungswahn oder Verschwörungsideen. Carries Theorien bewahrheiten sich zwar letztlich, wirken aber zunächst derart bizarr und unglaubwürdig, dass sie von ihrem Umfeld für wahnhaft gehalten werden.
Im Anschluss an die Manie verfällt Carrie in eine schwere Depression, wobei die Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit dabei ein Stück weit auch dem realen Scheitern ihres Lebensentwurfs als nimmermüde, stets überlegene und einsam erfolgreiche Topagentin Rechnung tragen.

Carries psychische Störung spiegelt auch die emotionale Bipolarität ihres Umfeldes wieder. Der in einer als feindlich erlebten Welt manisch-getriebene CIA-Apparat kultiviert seinen Größenwahn, indem er zwanghaft Informationen und Daten sammelt, wahllos Menschen manipuliert und instrumentalisiert und sich über alle legalen und moralischen Grenzen erhebt. Aus dem Kampf um die eigene Daseinsberechtigung ergibt sich der Zwang zur Verbreitung und Rechtfertigung der eigenen Paranoia.
Doch am Ende jeder manischen Jagd auf einen Feind steht immer wieder die Depression. Weil der Feind zwar getötet wurde, aber Hass und Rachedurst der Gegenseite umso stärker brennen. Weil Rückschläge und Fehler nicht verziehen werden. Weil Erfolge von Oben vereinnahmt und Misserfolge dem Einzelnen angelastet werden. Weil Freunde sich als Verräter und Versprechen als Lügen herausstellen. Weil Böse gut und Gute böse sind. Weil letztlich jeder für sich selbst kämpft und alleine stirbt.

Zum Ende der ersten Staffel von Homeland stellt sich Carrie schließlich ihrer Krankheit, gesteht sich ihre Schwäche ein und lässt sich professionell behandeln. Zunächst mit Medikamenten, dann mit Elektrokonvulsionstherapie (EKT). Dabei werden durch Elektroschocks Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst und in diesem antidepressive Botenstoffe freigesetzt und regenerative Mechanismen angestoßen. Im Kreise ihrer Familie, mit geregelten Arbeitszeiten, entspannenden Hobbys, Psycho- und Pharmakotherapie hätte sie wohl eine recht gute Prognose gehabt. Doch die Firma hat andere Pläne…

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