Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



Weiterlesen

Stranger Things: Elfi

In Stranger Things begegnet uns die kleine 011, genannt Elfi, die (zunächst) nicht spricht. Wir erfahren allerdings schnell, dass Sprachverständnis und auch die Fähigkeit zu sprechen eigentlich intakt sind. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie diese Fähigkeiten im sozialen Kontakt zunächst kaum einsetzen kann. Elfi zeigt damit die Symptome eines elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) wie folgt definiert:
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen)
  • An sich vorhandene Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache

 
Der elektive Mutismus wird in der ICD-10 den sogenannten Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit (F94) zugeordnet. Diese Störungen stellen häufig (aber nicht in jedem Einzelfall zwingend) Reaktionen auf bestimmte ungünstige soziale Bedingungen und negative oder unzureichende Erziehungserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen dar. Hierzu zählen Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch.

 
Aus psychotherapeutischer Sicht sind folglich Elfis frühere Beziehungserfahrungen interessant, über die wir in Stranger Things durch wiederholte Rückblenden tatsächlich einiges erfahren können. Elfi wurde unter mysteriösen Umständen von ihrer leiblichen Mutter getrennt und von Dr. Brenner in einem Labor aufgezogen, der vorgibt ihr Vater zu sein. Ob er ihr biologischer Vater ist, oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn für Elfi ist er lange Zeit die einzige elterliche Bezugsperson, ihr „Papa“. Wie jedes Kind hat sie eine starke emotionale Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut. Sie vertraut Dr. Brenner, genießt seine Zuwendung und fühlt sich von seinem Wohlwollen ihr gegenüber existenziell abhängig.

 
Diese starke emotionale Bindung, die dazu führt, dass Elfi – wie jedes Kind – alles ihr Mögliche dafür tun würde, um ihren Vater zufriedenzustellen, wird von diesem in schamloser und egoistischster Weise missbraucht. Wie immer es seinen Zwecken dient, manipuliert er Elfi, ködert sie mit der von ihr so dringend benötigten Zuwendung, nimmt keine Rücksicht auf ihre psychische und körperliche Gesundheit und hält sie in strikter Isolation, um die Abhängigkeit von seiner „Liebe“ konkurrenzlos aufrechtzuerhalten.

 
Damit liegt ein schwerer und langjähriger, v.a. psychischer, aber auch körperlicher, Missbrauch vor. Wie in der überwiegenden Mehrheit der Missbrauchsfälle stammt der Täter aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers und macht sich dessen emotionale Abhängigkeit zunutze. Diese ist auch der Grund, warum die Opfer sich selten, und wenn, dann oft erst spät, Hilfe holen. Genau wie Elfi, die lange Vieles mitmacht und erduldet, was ihr seelisch, moralisch und körperlich zuwider ist – aus Loyalität zu ihrer einzigen wichtigen Bezugsperson und aus Angst, deren Zuneigung zu verlieren. Vielleicht ahnt sie auch, trotz der gelungenen Abschottung gegenüber der Außenwelt, dass Dr. Brenners Versuche unethisch und vermutlich illegal sind und versucht ihn, durch ihre Kooperation vor Sanktionen zu schützen – ebenfalls ein häufiges Phänomen bei missbrauchten Kindern. So wird, Schätzungen zufolge, in Deutschland nur etwa einer von zwanzig Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gebracht!

 
Elfi zeigt, über den Mutismus hinaus, zahlreiche weitere Symptome und Verhaltensweisen, die typisch für Kinder mit Bindungsstörungen, also als Folge unzureichender oder negativer Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, sind (wenngleich diese immer nur als Hinweis auf die Möglichkeit solcher Erfahrungen, nicht als Beweis für diese gelten können).

 
Bei Elfi können wir, nachdem sie aus dem Labor geflohen ist und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, ein recht typisches Störungsbild missbrauchter Kinder erkennen, nämlich das der sogenannten reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.1). Diese ist gekennzeichnet durch ein ungewöhnliches, von der Altersnorm abweichendes, Beziehungsmuster, welches durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist: Einerseits suche nach Kontakt und Nähe, andererseits Angst und Schreckhaftigkeit mit der Folge plötzlichen Rückzugs oder aggressiver Abwehr.

Weitere Symptome einer reaktiven Bindungsstörung, die bei Elfi vorliegen, sind:

  • Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggression
  • Furchtsamkeit, Misstrauen, übertriebene Wachsamkeit
  • Traurigkeit
  • Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
  • Mangel an (positiven) emotionalen Reaktionen
 
Typisch für die reaktive Bindungsstörung ist jedoch auch, dass ihre Symptome sich (im Vergleich zu anderen psychiatrischen Symptomen) relativ schnell wieder zurückbilden können, wenn das Kind dauerhaft in ein günstigeres soziales Umfeld, mit schützenden, wertschätzenden und verlässlichen Bezugspersonen kommt.

 
So wird für Elfi Mikes Freundschaft, sein Vertrauen und seine Bereitschaft, immer wieder auf sie zuzugehen, selbst wenn sie sich eigenartig und bedrohlich verhält, zur wirksamsten Therapie.

 
Weiterlesen

Flesh and Bone: Claire

Das Titelbild der Starz-Miniserie zeigt eine dünne, fast nackte Tänzerin in düsterer, ebenso fast nackter Umgebung. Der Titel lautet Flesh and Bone. Setting ist das Ballett. Man muss nicht allzu kreativ sein, um sich auszumalen, dass es um Leistungsdruck, Selbstwertprobleme, Essstörungen und sexuellen Missbrauch gehen wird. 
Und – so die Erkenntnis nach den ersten beiden Folgen – so ist es dann auch.
Anders als in der parallel laufenden, heiteren Amazon-Serie Mozart in the Jungle, wo Leistungsdruck und Selbstausbeutung der New Yorker Symphoniker immer wieder durch die Liebe zur klassischen Musik und die auf dieser gemeinsamen Basis entstehenden Begegnungen und Beziehungen belohnt werden, ist der Ballettbetrieb in Flesh and Bone ein feindseliger und traumatisierender Ort, an dem jeder (mehr oder weniger erfolgreich) für sich selbst und (meist weniger erfolgreich) gegen die eigenen Dämonen kämpft.
Diese Dämonen sind Selbstzweifel, Versagensängste, Essstörungen, Drogensucht und Traumata. Schon in der ersten Folge erfahren wir, dass Claire wiederholt sexuell missbraucht wurde – und zwar von ihrem Bruder. Wie viele (aber, entgegen mancher Darstellung nicht alle) Opfer sexuellen Missbrauchs, zeigt Claire Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). 
Sie war, was die Grundvoraussetzung ist, einem Erlebnis von außergewöhnlicher emotionaler Belastung ausgesetzt. Da sich dieses Erlebnis über einen längeren Zeitraum immer wieder wiederholt hat, spricht man von einem Typ-II-Trauma (im Gegensatz zum Typ-I-Trauma, bei dem der Auslöser ein einzelner Vorfall von katastrophalem Ausmaß, z.B. ein Gewaltverbrechen oder eine Naturkatastrophe ist).
Das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln ist besonders hoch bei Typ-II-Traumata, die durch nahestehende Personen ausgelöst werden, wobei es sich meist um körperliche Gewalt, psychischen oder eben sexuellen Missbrauch handelt. Das erhöhte Erkrankungsrisiko ergibt sich vermutlich daraus, dass den Betroffenen oft Mitverantwortung und Schuldgefühle vermittelt werden, die Gefühle gegenüber dem Täter widersprüchlich sein können, sie sich aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Strafe und Stigmatisierung keine Hilfe holen oder das Erlebte durch andere Bezugspersonen infrage gestellt, bagatellisiert oder verheimlicht wird.

Claires posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Form der folgenden, charakteristischen Symptome:

  • Sie erlebt eine starke innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen. Am offensichtlichsten ist dies bei Kontakt zu ihrem Bruder, dem Täter. Aber auch in anderen Situationen, in denen sich ihr Männer ungefragt oder unerwartet körperlich annähern, wie zum Beispiel ihr Tanzlehrer, Tanzpartner oder der Hauptsponsor des Balletts, fühlt sie sich sichtlich sehr unwohl.
  • Folglich versucht sie, entsprechende Situationen zu vermeiden. Sie bleibt gegenüber Männern distanziert und scheint keine Freude daran zu haben, sich verführerisch zu kleiden oder zu flirten.
  • Sie zeigt deutliche Symptome chronisch erhöhter psychischer Erregung, wie Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit) und Schreckhaftigkeit (insbesondere bei Berührungen und im Kontakt mit Männern) sowie Einschlafstörungen.
Drei weitere Aspekte von Claires posttraumatischer Belastungsstörung sind zwar für die Diagnosestellung nicht erforderlich, aber dennoch interessant genug, um eigens thematisiert zu werden.

1. Claire verletzt sich selbst. Selbstverletzendes Verhalten (häufig in Form von Ritzen mit Rasierklingen oder Verbrennen mit Feuerzeugen oder Zigaretten) kann infolge sexuellen oder psychischen Missbrauchs auftreten. Claire schlägt sich mit ihrem Ballettschuh auf den Fuß und das immer in Situationen, die direkt oder indirekt mit ihrem Trauma zu tun haben, nämlich bei Kontakt zu ihrem Bruder, oder wenn sie beispielsweise von ihrem Tanzlehrer erniedrigt wurde, was die alten Scham- und Schuldgefühle reaktualisiert haben dürfte. Dabei scheint die Selbstverletzung den Effekt zu haben, dass intensive der physische Schmerz für einige Momente die noch schlimmeren Gedanken und Gefühle verdrängt und die Situation dadurch erträglicher macht.

2. Claire behandelt ihre Einschlafstörungen indem sie ihren ganzen Körper mit Büchern beschwert. Wie oben beschrieben, sind Schlafstörungen ein typisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Claires Behandlungsmethode ist dagegen eher ungewöhnlich, gleichwohl aber kreativ und scheint für sie gut zu funktionieren. Sie bedient sich dabei (vermutlich ohne dies zu wissen) des therapeutischen Effekts, dass das Gefühl von Schwere mit muskulärer Entspannung assoziiert ist und somit zunächst körperliche und in der Folge auch psychische Entspannung fördern kann. Therapieverfahren die diesen Effekt ebenfalls nutzen sind zum Beispiel die Schwereübung im Autogenen Training oder der Einsatz von Sanddecken in der Körpertherapie.

3. Claire wird als Balletttänzerin ständig retraumatisiert. Ohne dies bewusst zu beabsichtigen, setzt sie sich immer wieder Situationen aus, die mehr oder weniger deutlich an ihre traumatische Missbrauchserfahrung erinnern. Als Tänzerin ist sie Objekt sexueller Begierde, wird auf ihre Physis reduziert, die Persönlichkeit ist uninteressantes oder gar störendes Beiwerk. Ihr Körper wird entblößt, öffentlich zur Schau gestellt, kritisch bewertet, ungefragt angefasst und erbarmungslos geschunden. Dennoch setzt sie alles daran, Tänzerin zu sein und zu bleiben. Psychologen sprechen hierbei von Reinszenierung oder auch von Wiederholungszwang.

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Zum einen ist denkbar, dass Claire durch die ständige Konfrontation mit diesen für sie so unangenehmen Erfahrungen ein hohes Erregungsniveau aufrecht erhält und somit unbewusst verhindert, dass in ihrem Bewusstsein Raum für die Erinnerung an ihr ursprüngliches Trauma und damit für die noch unangenehmeren Gefühle und Gedanken entsteht.

Ein alternativer Erklärungsansatz wäre ein unbewusster Wiedergutmachungswunsch: Claires ursprüngliche Traumatisierung ist geschehen und nicht mehr aus ihrer Lebensgeschichte zu löschen. Indem sie immer wieder Situationen aufsucht, die zwar ähnlich sind, aber im Hier und Jetzt stattfinden, wo sie sich, zumindest theoretisch, verteidigen oder innerlich stärker abgrenzen könnte, versucht sie unbewusst, eine bessere Erfahrung zu machen, sich selbst nicht als Opfer, sondern wehrhaft und stark zu erleben und somit ihre früheren Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Scham zu überwinden.

Die Tragik besteht darin, dass Claire dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, wodurch sie immer wieder von ihrer eigenen Reinszenierung überrascht wird, unvorbereitet in für sie bedrohliche Situationen gerät und ihre alten Wunden umso mehr schmerzen.

Und siehe da: Auf einmal verstehen wir doch, warum Claire sich all dem aussetzt. Warum sie tanzt und tanzt, hinfällt und weitertanzt, als ginge es um ihr Leben. Es geht tatsächlich darum, ob ein neues Leben, auch und gerade mit den alten Wunden, möglich ist. Man darf gespannt sein, wie der Tanz auf Messers Schneide endet.


Weiterlesen