Podcast Folge 02 – The Big Bang Theory

In der zweiten Folge des Charakterneurosen-Podcasts besprechen Dr. Gebele und Herr Andreas die Serie The Big Bang Theory. Wir lernen etwas über Autismus, das Asperger-Syndrom, soziale Phobien, Mutismus, Mutter-Kind-Symbiosen und selbstunsichere Persönlichkeiten. Außerdem geht es um grüne Psychopharmakologie, weiße Cuokolade, rote Inder und blasse Biere

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Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



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Stranger Things: Elfi

In Stranger Things begegnet uns die kleine 011, genannt Elfi, die (zunächst) nicht spricht. Wir erfahren allerdings schnell, dass Sprachverständnis und auch die Fähigkeit zu sprechen eigentlich intakt sind. Es scheint vielmehr so zu sein, dass sie diese Fähigkeiten im sozialen Kontakt zunächst kaum einsetzen kann. Elfi zeigt damit die Symptome eines elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) wie folgt definiert:
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Häufiges Einsetzen nonverbaler Kommunikation (Mimik, Gestik, schriftliche Aufzeichnungen)
  • An sich vorhandene Altersentsprechende Kompetenz im sprachlichen Ausdruck der situationsabhängigen Sprache

 
Der elektive Mutismus wird in der ICD-10 den sogenannten Störungen der sozialen Funktionen mit Beginn in der Kindheit (F94) zugeordnet. Diese Störungen stellen häufig (aber nicht in jedem Einzelfall zwingend) Reaktionen auf bestimmte ungünstige soziale Bedingungen und negative oder unzureichende Erziehungserfahrungen mit den nächsten Bezugspersonen dar. Hierzu zählen Vernachlässigung, körperliche und psychische Gewalt sowie sexueller Missbrauch.

 
Aus psychotherapeutischer Sicht sind folglich Elfis frühere Beziehungserfahrungen interessant, über die wir in Stranger Things durch wiederholte Rückblenden tatsächlich einiges erfahren können. Elfi wurde unter mysteriösen Umständen von ihrer leiblichen Mutter getrennt und von Dr. Brenner in einem Labor aufgezogen, der vorgibt ihr Vater zu sein. Ob er ihr biologischer Vater ist, oder nicht, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, denn für Elfi ist er lange Zeit die einzige elterliche Bezugsperson, ihr „Papa“. Wie jedes Kind hat sie eine starke emotionale Bindung zu ihrer primären Bezugsperson aufgebaut. Sie vertraut Dr. Brenner, genießt seine Zuwendung und fühlt sich von seinem Wohlwollen ihr gegenüber existenziell abhängig.

 
Diese starke emotionale Bindung, die dazu führt, dass Elfi – wie jedes Kind – alles ihr Mögliche dafür tun würde, um ihren Vater zufriedenzustellen, wird von diesem in schamloser und egoistischster Weise missbraucht. Wie immer es seinen Zwecken dient, manipuliert er Elfi, ködert sie mit der von ihr so dringend benötigten Zuwendung, nimmt keine Rücksicht auf ihre psychische und körperliche Gesundheit und hält sie in strikter Isolation, um die Abhängigkeit von seiner „Liebe“ konkurrenzlos aufrechtzuerhalten.

 
Damit liegt ein schwerer und langjähriger, v.a. psychischer, aber auch körperlicher, Missbrauch vor. Wie in der überwiegenden Mehrheit der Missbrauchsfälle stammt der Täter aus dem nahen sozialen Umfeld des Opfers und macht sich dessen emotionale Abhängigkeit zunutze. Diese ist auch der Grund, warum die Opfer sich selten, und wenn, dann oft erst spät, Hilfe holen. Genau wie Elfi, die lange Vieles mitmacht und erduldet, was ihr seelisch, moralisch und körperlich zuwider ist – aus Loyalität zu ihrer einzigen wichtigen Bezugsperson und aus Angst, deren Zuneigung zu verlieren. Vielleicht ahnt sie auch, trotz der gelungenen Abschottung gegenüber der Außenwelt, dass Dr. Brenners Versuche unethisch und vermutlich illegal sind und versucht ihn, durch ihre Kooperation vor Sanktionen zu schützen – ebenfalls ein häufiges Phänomen bei missbrauchten Kindern. So wird, Schätzungen zufolge, in Deutschland nur etwa einer von zwanzig Fällen sexuellen Missbrauchs von Kindern zur Anzeige gebracht!

 
Elfi zeigt, über den Mutismus hinaus, zahlreiche weitere Symptome und Verhaltensweisen, die typisch für Kinder mit Bindungsstörungen, also als Folge unzureichender oder negativer Erfahrungen mit nahen Bezugspersonen, sind (wenngleich diese immer nur als Hinweis auf die Möglichkeit solcher Erfahrungen, nicht als Beweis für diese gelten können).

 
Bei Elfi können wir, nachdem sie aus dem Labor geflohen ist und mit der Außenwelt in Kontakt tritt, ein recht typisches Störungsbild missbrauchter Kinder erkennen, nämlich das der sogenannten reaktiven Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.1). Diese ist gekennzeichnet durch ein ungewöhnliches, von der Altersnorm abweichendes, Beziehungsmuster, welches durch Ambivalenz und Widersprüchlichkeit gekennzeichnet ist: Einerseits suche nach Kontakt und Nähe, andererseits Angst und Schreckhaftigkeit mit der Folge plötzlichen Rückzugs oder aggressiver Abwehr.

Weitere Symptome einer reaktiven Bindungsstörung, die bei Elfi vorliegen, sind:

  • Schwierigkeiten, mit Gleichaltrigen adäquat zu interagieren
  • Gegen sich selbst und andere gerichtete Aggression
  • Furchtsamkeit, Misstrauen, übertriebene Wachsamkeit
  • Traurigkeit
  • Mangel an emotionaler Ansprechbarkeit
  • Mangel an (positiven) emotionalen Reaktionen
 
Typisch für die reaktive Bindungsstörung ist jedoch auch, dass ihre Symptome sich (im Vergleich zu anderen psychiatrischen Symptomen) relativ schnell wieder zurückbilden können, wenn das Kind dauerhaft in ein günstigeres soziales Umfeld, mit schützenden, wertschätzenden und verlässlichen Bezugspersonen kommt.

 
So wird für Elfi Mikes Freundschaft, sein Vertrauen und seine Bereitschaft, immer wieder auf sie zuzugehen, selbst wenn sie sich eigenartig und bedrohlich verhält, zur wirksamsten Therapie.

 
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The Big Bang Theory: Raj



Der Astrophysiker Dr. Rajesh „Raj“ Koothrappali kann nur mit Frauen sprechen, wenn er betrunken ist, oder denkt, es zu sein. Ausnahmen sind enge Verwandte, wie seine Mutter und seine Schwester. 

Eine selektive Sprachhemmung in bestimmten Situationen wird im ICD-10 als elektiver Mutismus (F94.0) bezeichnet und ist durch folgende Kriterien definiert: 
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Dauer des elektiven Mutismus länger als vier Wochen
  • Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor
  • Sprachausdruck und Sprachverständnis liegen im altersentsprechenden Normalbereich.
  • Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in den sozialen Situationen erwartet wird
Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen, nämlich gegenüber Frauen, zu sprechen, als Kernmerkmal der Störung, ist bereits genannt. Die Symptomatik dauert bereits deutlich länger als vier Wochen an, wahrscheinlich schon immer. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die ebenfalls die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigen kann, liegt nicht vor. Als solche gilt unter anderem das Asperger-Syndrom (F84.5) unter dem Sheldon Cooperleidet.
Rajs sensorische und motorische Sprachfähigkeit ist altersgemäß, nämlich vollständig, ausgebildet und obwohl er einen indischen Akzent hat, spricht er gut genug Englisch, um sich in angstfreien Situationen adäquat zu verständigen. Die dem Mutismus zugrunde liegende Störung ist in Rajs Fall eine soziale Phobie (F40.1):
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten oder Zittern etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Die gefürchtete Situation ist für Raj eben das Sprechen mit Frauen, insbesondere dann, wenn diese, zumindest theoretisch, als Sexual- und Beziehungspartnerinnen in Frage kommen.
Die Gestaltung sozialer Beziehungen wird grundlegend geprägt durch die ersten wichtigen Beziehungspersonen. Dies sind in der Regel zunächst die Eltern. Rajs Eltern sind in Indien erfolgreich und hoch angesehen und offenbar legen sie großen Wert auf Etikette und Tradition. Mit Rajs Beruf als Astrophysiker und vor allem mit seinem Gehalt, sind die Eltern unzufrieden, vermutlich hätten sie sich gewünscht, dass er in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters tritt und Gynäkologe wird. Die Mutter ist überaus bestimmend, drängt Raj, sich baldmöglichst zu verheiraten, wobei sie klare Vorstellungen von einer standesgemäßen Ehefrau hat und amerikanische Frauen pauschal ablehnt.
Wir sehen: Raj kann es seinen Eltern kaum recht machen. Da familieninterne Beziehungsdynamiken häufig sehr stabil sind, liegt es nahe, dass Raj bereits mit hohen Erwartungen und unverhohlener Enttäuschung seiner Eltern aufgewachsen ist.
Es scheint als habe er sich vor den überhöhten Anforderungen immer wieder geflüchtet: Zunächst in die Fantasiewelt von Comics und Science Fiction, später, im Studium, in die Betrachtung der unendlichen Weiten des Weltraums und schließlich, als sich die Gelegenheit bot, in die USA.
Doch auch am anderen Ende der Welt (und auch wenn seine Eltern nicht regelmäßig per Videochat Kritik an ihm üben und ihn mit seiner finanziellen Abhängigkeit zu beeinflussen versuchen würden) kann Raj dem Selbstbild, welches seine Eltern ihm über Jahre hinweg vermittelt haben, nicht entfliehen: Ständig zweifelt er daran, liebenswert zu sein und wird von der Angst heimgesucht, auf ewig einsam bleiben zu müssen.
Da eine solche Angst nur schwer auszuhalten ist, muss sie immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden, damit Raj überhaupt in der Lage ist, sich auf die Bewältigung seines alltäglichen Lebens zu fokussieren und nicht in Verzweiflung zu versinken. Den psychischen Mechanismus, durch den schwierige emotionale oder kognitive Inhalte ins Unbewusste verdrängt werden, nennt man Abwehr. Der spezifische Abwehrmechanismus, der in Rajs Fall zum Tragen kommt, heißt Verschiebung. Die globalen Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle werden auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt verschoben, um in anderen Situationen freier und sicherer agieren zu können. Allerdings geht damit eine potenzierte phobische Angst vor der Situation bzw. dem Objekt einher, auf welches all die Ängste und Befürchtungen verschoben worden sind.
Hierfür findet die Psyche oft Objekte, welche bereits mit einer gewissen Angst besetzt sind, z.B. Spinnen oder Schlangen, welchen gegenüber der Mensch, aufgrund ihrer potentiellen Giftigkeit, eine evolutionär determinierte Prädisposition zur Angst aufweist (welche man Preparednessnennt).

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rajs Ängste sich auf Frauen und die Beziehungsaufnahme mit ihnen konzentrieren: Rajs erste und bisher wichtigste weibliche Bezugsperson war seine Mutter, welche ihn im Laufe seines Lebens immer wieder kritisiert, beschämt und gekränkt hat und ihn sich ständig unzureichend fühlen lässt.
Ähnlich verhält sich sein Vater. Dieser ist außerdem Gynäkologe, also ein wahrer Frauenkenner, gegen den Rajs erste, unbeholfene Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen, diesem besonders unbeholfen und beschämend erschienen sein müssen.
Somit bezieht sich Rajs phobische Angst vor Frauen gar nicht auf diese selbst, sondern stellt vielmehr einen neurotischen Kompromiss dar, welcher es ihm ermöglicht, trotz großer Selbstzweifel, Schamgefühle und Versagensängste ein weitgehend unbeeinträchtigtes und in einigen Bereichen sogar recht erfolgreiches Leben zu führen.
Folglich überrascht es nicht, dass er seine Phobie schnell überwindet, nachdem er zum ersten Mal eine fremde Frau (Lucy) wirklich persönlich kennengelernt hat. Die Konfrontation mit deren Ängsten, welche Rajs ähnlich sind, lässt sie für Raj als echten Menschen und die Begegnung mit ihr auf Augenhöhe erscheinen. Und davor muss er keine Angst haben – oder zumindest nur so viel, wie jeder andere Mann auch.
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