Suits: Harvey Specter (Update S7)

Harvey Specter, der schicke Super-Anwalt aus Suits, zeichnet sich vor allem durch zwei Dinge aus:

  1. Er ist davon besessen zu gewinnen, wobei es ihm meist nicht primär um den Fall oder den Mandanten geht, sondern um den gegnerischen Anwalt, den er um alles in der Welt besiegen und übertrumpfen muss. 
  2. Harvey ist kompromisslos ehrlich (es sei denn, die Strategie in einem Fall verlangt es vorübergehend anders) und erwartet dies auch von allen, die mit ihm zusammenarbeiten und ihm nahe stehen. 
Während die konsequente Ehrlichkeit bewundernswert ist – verlangt sie doch große Charakterstärke – machen das zwanghafte Konkurrieren und die Brutalität, mit der er alle behandelt, die seinem Sieg im Wege stehen, Harvey nicht immer sympathisch. 
Wie Harvey so geworden ist, erfahren wir von ihm selbst und die Tatsache, dass er, der kaum einmal etwas Persönliches erzählt, Mike Ross gerade diese Schlüsselszene berichtet (wenn auch bekifft), zeigt, wie wichtig sie ist: 
Mit sechzehn Jahren fand Harvey heraus, dass seine Mutter seinen Vater, einen Musiker, betrog. Weil er den Vater nicht verletzen wollte, behielt er das Geheimnis zwei Jahre lang für sich, bis seine Mutter die Familie schließlich verließ und den Vater gebrochen und gedemütigt zurückließ. 
Der junge und verletzte Harvey zog aus seinem Schmerz, ohne sich dessen bewusst zu sein, zwei Lehren, die sein weiteres Leben bestimmen sollten.
  1. Wer sich emotional bindet und dadurch abhängig macht, wird verletzlich und kann, wenn es schlecht läuft, als geschlagener Verlierer zurückbleiben. 
  2. Lügen verletzen den Belogenen und verursachen schlimme Schuldgefühle bei demjenigen, der gelogen hat. 


Harveys Bemühen alles und jeden zu dominieren um stets Herr der Lage zu sein und sich niemals auf die Güte oder das Mitleid anderer verlassen zu müssen, sowie seine kompromisslose Ehrlichkeit, sind eine direkte (für Harvey unbewusste) Reaktion auf den Schmerz, die Schuldgefühle und die Angst, die er als Sechzehnjähriger durchlitt. 

Wenn, wie in diesem Fall, unbewusste Gefühle und Motive den Charakter eines Menschen in entscheidender Weise prägen, spricht die Psychologie von einer Reaktionsbildung
Doch auch wenn Harvey es nicht gerne zugibt, gelingt es immer wieder einzelnen Menschen, z.B. Mike und Donna, sich in sein Herz zu schleichen – auch weil sie intuitiv verstehen, dass Harvey, um sich sicher zu fühlen, in der Beziehung immer die Oberhand behalten muss. Dafür jedoch gewinnen sie einen stets loyalen Freund und Mentor, der für sie bis zum letzten zu kämpfen bereit ist. 

UPDATE – Staffel 5

Den Psychologen kann es nur freuen, dass der doch sehr glatte Harvey der ersten vier Staffeln, der so gut wie jede unerwünschte Gefühlsregung vermeiden zu können scheint, nun etwas differenziertere, weniger souveräne und damit menschlichere Züge bekommt. 
Es wird deutlich, dass Harvey, auch wenn er Gefühle wie Nähewünsche, Einsamkeit und Verlustangst sehr umfassend verdrängt, diese, wie jeder Mensch, dennoch hat. 

Nach tiefenpsychologischem Verständnis ist die menschliche Psyche bipolar aufgebaut, was uns antreibt ist nie eindimensional: Wir streben nach Selbstverwirklichung und nach Verbundenheit. Nach Kontrolle und nach Anleitung. Nach Unabhängigkeit und nach Versorgung durch andere. 

So auch Harvey: Durch Donnas kompromisslose Loyalität und Verehrung musste er sich, trotz der konsequenten Verleugnung seiner Bedürfnisse nach emotionaler Nähe, niemals wirklich alleine fühlen. Bewusst kultivierte er eine Eigen- und Fremdwahrnehmung als unabhängiger, grenzenlos selbstbewusster Draufgänger, der keinerlei sozialen Rückhalts bedarf, während unbewusst vor allem Donna ihm doch die Sicherheit vermitteln konnte, nicht alleine zu sein. 

Wie wichtig dieser andere Pol des Abhängigkeits-Unabhängigkeits-Kontinuums auch für Harvey ist, zeigt sich ihm und uns als Zuschauer erst, als die Beziehung zu Donna distanzierter wird, er sie vermutlich sogar ganz zu verlieren fürchtet.
Die lange verdrängten Gefühle von Abhängigkeit und Verlustangst werden durch den drohenden Verlust Donnas verstärkt, darüber hinaus wird vermutlich die Enttäuschung Harveys über den Vertrauensbruch seiner Mutter, welchen er ebenfalls als eine Art Verlassenwerden  erlebt hat, aktualisiert, nun, da er erneut fürchten muss, die wichtigste Frau in seinem Leben zu verlieren.

Die verdrängten Ängste drängen immer mehr ins Bewusstsein und manifestieren sich in Form von Panikattacken. Panikattacken sind  Anfälle plötzlicher, starker Angst, welche durch eine Vielzahl von Symptomen, beispielsweise Herzrasen, Brustschmerzen, Erstickungsgefühle, Schwitzen, Schwindel oder Entfremdungsgefühle gekennzeichnet sein kann. Treten diese Panikattacken ohne erkennbaren äußeren Auslöser auf, spricht man von einer sogenannten Panikstörung (ICD-10: F41.0). Da äußere Auslöser fehlen und die Betroffenen die inneren/psychischen Auslöser meist nicht direkt bewusst erkennen können, können sich nach den ersten Panikattacken sekundäre Ängste, wie z.B. einen Herzinfarkt zu erleiden, bewusstlos zu werden, oder auch verrückt zu werden, einstellen. So kann ein Teufelskreis der Angst entstehen, bei dem die „Angst vor der Angst“ zu ständiger Wachsamkeit und Schreckhaftigkeit bei kleinsten körperlichen Angstsignalen führt, was wiederum das Auftreten von Panikattacken begünstigt.

Panikstörungen werden entweder kognitiv-verhaltenstherapeutisch behandelt, wobei der Patient über die psychologischen und physiologischen Vorgänge vor und während der Panikattacken aufgeklärt wird und lernt, seine Gedanken und Wahrnehmungen bewusst zu beeinflussen. Atem– und Entspannungsübungen kommen unterstützend zum Einsatz.

 
Liegt, wie bei Harvey, ein deutlich erkennbarer innerer Konflikt als Auslöser der Panikstörung vor, bietet sich ein tiefenpsychologisches Vorgehen an, welches seine (ansonsten nicht allzu professionelle) Therapeutin Paula richtigerweise für Harvey wählt: Indem sie ihn mit seinen abgewehrten Gefühlen gegenüber Donna und seiner Mutter konfrontiert und seine Auseinandersetzung mit diesen vorantreibt, ermöglicht sie Harvey, seine aktuellen und früheren Ängste bewusster wahrzunehmen und als Teil seines Gefühlsspektrums zu aktzeptieren. Dadurch müssen sie nicht mehr verdrängt werden und in der Folge auch nicht mehr kompensatorisch in Form von Panikattacken ins Bewusstsein drängen. Dadurch erhält Harveys Eigen- und Fremdwahrnehmung zwar ein paar Kratzer in auf ihrer makellosen Oberfläche – seiner Persönlichkeit und seiner Fähigkeit, wichtige Beziehungen zu pflegen, tut dies jedoch eher gut. 
Und, ganz ehrlich, der alte Harvey war auf die Dauer doch auch zu langweilig. 
 
UPDATE – Staffel 7
 
Da ist er wieder, der alte Harvey. Die Panikattacken konnten erfolgreich behandelt werden – Paulas tiefenpsychologischer Therapieansatz war also erfolgreich. Leider bedient die Serie dann doch wieder das scheinbar unvermeidliche Klischee von der Affäre zwischen Patient und Therapeutin. Dass es, wie Harvey argumentiert, eine zeitliche Frist gibt, nach der sexuelle Beziehungen zwischen Therapeut*innen und Patient*innen unproblematisch seien, ist in Wahrheit Unsinn. Im Gegenteil: In Deutschland sind sexuelle Kontakte während einer Therapie nach § 174c StGB strafbar und auch nach Beendigung einer Psychotherapie verbieten sich sexuelle Beziehungen aus ethischer Sicht. Die therapeutsiche Beziehung ist durch und durch ungleich: Während sich die Patient*in maximal öffnet und gerade ihre schambesetzten, insuffizienten, verurteilten und bedürftigen Seiten zeigt, nimmt die Therapeut*in eine konsequent zugewandte, um Verständnis und Empathie bemühte Haltung ein, lässt aber ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Ängste, Zweifel, Nöte und Neurosen weitgehend außen vor, denn diese gehören in das Privatlegen und ggf. die eigene Selbsterfahrung oder Therapie der Therapeut*in. Dadurch entsteht eine Bezhiehung, die zur Behandlung von Krankheiten hoch funktional sein kann, aber im Bezug auf eine mögliche Liebesbeziehung völlig unrealistische Wünsche und Erwartungen fördert, die nur zu Enttäuschung und schlimmstenfalls Retraumatisierung führen können. 
Leider wird gerade durch die sexuelle Beziehung mit Paula auch der alte Harvey Sprecter etabliert: Die Rolle des Mannes, der doch auch Schwächen und Unsicherheiten hat und sich mit diesen sogar von jemandem helfen lassen muss, ist nur vorübergehend. Harvey, der immer gewinnt, erobert natürlich auch seine Therapeutin und stellt, indem er ihr schließlich das Herz bricht, das gewohnte Machtverhältnis zwischen sich und allen anderen, wieder her.
  
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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