Bates Motel & Psycho: Norman

SPOILERWARNUNG: Wer Psycho oder die zweite Staffel von Bates Motel noch nicht gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen. Außerdem empfiehlt es sich in diesem Fall, zuerst den Film und dann die serielle Vorgeschichte anzusehen.

Bates Motel zeigt die in unsere Gegenwart verlegte Vorgeschichte zu Alfred Hitchcocks Psycho und damit die Entwicklung des jungen Norman Bates zu einem der bekanntesten Psychokiller der Filmgeschichte.

Wie wir am Ende von Psycho erfahren, leidet Norman unter einer Multiplen Persönlichkeitsstörung, im allgemeinen Sprachgebrauch auch Persönlichkeitsspaltung oder gespaltene Persönlichkeit. Diese seltene Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (IDC-10: F44.81) durch die folgenden Symptome beschrieben:
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Amnesien (Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern)
  • Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Die multiple Persönlichkeitsstörung gehört zu den sogenannten Dissoziativen Störungen, wobei Dissoziation sinngemäß mit Abspaltung übersetzt werden kann und meint, dass eine Funktion, welche normalerweise in die psychische Gesamtstruktur integriert ist (z.B. Erinnerung, Wahrnehmung, Bewegung), sich plötzlich der psychischen Kontrolle entzieht, gleichsam von dieser abgespalten wird. Im Falle der multiplen Persönlichkeitsstörung sind ganze Persönlichkeitsanteile (mit jeweils eigenen psychischen Funktionen) von dieser Abspaltung betroffen.
Normans Persönlichkeitsstörung ist besonders interessant, da der zweite, abgespaltene Persönlichkeitsanteil ganz offensichtlich die Persönlichkeit seiner eigenen Mutter Norma repräsentiert.
In Bates Motel können wir mitverfolgen, wie sich Norman Störung nach und nach manifestiert. Norma Bates, die unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leidet, ist eine extrem kontrollierende und besitzergreifende Mutter, die ihren Sohn mit Schuldgefühlen, Tränen, Wutausbrüchen und Lügen manipuliert, um ihre eigene Angst vor Verlassenwerden und Einsamkeit zu bewältigen.
Zunächst kann sich Norman damit noch ganz gut arrangieren: Als eher kindlicher Junge und vermeintliches Einzelkind genießt er die enge und vertraute Beziehung zu seiner Mutter, lässt sich gerne von ihr verwöhnen und hat sichtlich Gefallen daran, auch für seine Mutter da zu sein, was ihm ein Gefühl von Stärke und Kompetenz verschafft, das er als schüchterner und eher schwächlich wirkender Junge unter Gleichaltrigen zunächst kaum findet. Häufig nimmt Norman gegenüber seiner emotional instabilen Mutter eher die Rolle eines Partners oder sogar eines Elternteils ein, fühlt sich für sie verantwortlich und stellt ihr Wohl über sein eigenes. Eine solche Umkehr der Eltern-Kind-Beziehung nennt man Parentifizierung. Dass die emotionale und körperliche Beziehung der beiden dabei näher und tabuloser ist, als es für siebzehnjährige Jungen und ihre Mütter üblich ist, empfindet er noch nicht als beunruhigend, wahrscheinlich ist es ihm zunächst gar nicht bewusst, hat er doch keine Vergleichsmöglichkeiten durch Geschwister oder Freunde (Normans späteres – und für ihn extrem verstörendes – Begehren seiner Lehrerin ist ein Hinweis auf seine Verwirrung hinsichtlich natürlicher Generationsgrenzen).
Nach und nach hält jedoch auch bei dem siebzehnjährigen Norman die Pubertät Einzug. Er beginnt sich für Mädchen zu interessieren und stellt erstaunt fest, dass diese auch Gefallen an ihm finden. Doch dies bleibt auch Norma nicht verborgen, die, von Verlustängsten getrieben, ihren Sohn subtil manipuliert und ihm Schuldgefühle einimpft, sobald er liebevolle Gefühle für andere Frauen entwickelt.
So wird Normans Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät von zwei extrem Starken inneren Kräften geprägt: Dem Abhängigkeitsgefühl gegenüber seiner Mutter, die jahrelang seine einzige Vertraute war und die er als so kränkbar und verletzlich empfindet, und dem biopsychologisch angelegten Bedürfnis nach Eigenständigkeit, Individualität, Freiheit und Sexualität.

In einer gesünderen psychischen Entwicklung hätte Norman sich von seiner Mutter zunächst stärker ablösen und dafür in Kauf nehmen müssen, dass diese sich davon auch einmal gekränkt und verletzt fühlt. Hierzu hätte allerdings Norma ihre eigenen Kränkungen und Ängste besser selbst bewältigen können müssen, um ihrem Sohn nicht das Gefühl zu vermitteln, allein für ihr Wohl und Wehe verantwortlich zu sein. Wäre die pubertäre Ablösung gelungen, hätte Norman ohne Schuldgefühle eine eigene Identität entwickeln können und wäre dennoch frei gewesen, einige Überzeugungen und Werte seiner Mutter als seine eigenen zu übernehmen. Die Beziehung zu ihre wäre zwar weniger eng, dafür aber freier von Schuldgefühlen und Vereinnahmungsängsten und damit für Norman weniger konflikthaft geworden.

All dies ist aber nicht der Fall und so bleibt Norman, der weder seine Mutter enttäuschen, noch all seine individuellen Triebe dauerhaft unterdrücken kann, nur die Möglichkeit, den Zustand der ständigen inneren Zerrissenheit durch Persönlichkeitsspaltung aufzulösen. Als Norman lebt er das Leben eines relativ normalen Teenagers, der auch schonmal seine Mutter belügt um sich mit einem Mädchen zum Schäferstündchen im Baumhaus zu treffen. Der zweite Persönlichkeitsanteil übernimmt ungefiltert und unhinterfragt die (vermeintlichen) Ängste und Motive seiner Mutter und geht buchstäblich über Leichen, um die symbiotisch-enge Mutter-Sohn-Beziehung gegen die Außenwelt (und vor allem deren sexuelle Reize) zu verteidigen.
Ganz nach Normans Feststellung in Psycho: „Der beste Freund eines Mannes ist seine Mutter.“
Weiterlesen

The Sixth Sense: Cole

Der kleine Cole sieht tote Menschen – und fürchtet sich vor ihnen.
Dass ein Kind Angst vor Geistern hat, ist per se nicht unnormal, allerdings sind Coles Ängste ausgesprochen heftig und beeinträchtigen sein Leben massiv. Außerdem zeigt er eine, für einen Neunjährigen, auffallend gering ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. 
Die von dem Kinderpsychologen Dr. Crowe anfänglich geäußerte Verdachtsdiagnose einer emotionalen Störung ist demnach zutreffend. Cole leidet unter einer phobischen Störung des Kindesalters, die nach ICD-10 (F93.1) definiert ist als: Anhaltende oder wiederkehrende Angst (Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist (oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist.

Warum sieht Cole tote Menschen? Oder anders gefragt: Warum hat Cole seine Angst vor Geistern noch nicht überwinden können, wie die meisten anderen Neunjährigen? 
Angst vor Geistern (Hexen, Monstern, Krokodilen…) ist Angst vor dem alleine sein. Wenn die Eltern im Zimmer sind, oder hineinkommen, ist die Angst meist schnell wieder weg. So geht es auch Cole: Selbst wenn er die toten Menschen weiterhin sieht, machen sie ihm keine Angst mehr, sobald seine Mutter oder Dr. Crowe im Raum sind.
In dieser Angst vor dem alleine sein spiegelt sich die reale Erfahrung jedes Neugeborenen und Kleinkindes wider, von der Mutter und später auch anderen Erwachsenen existenziell abhängig zu sein. Wenn das Kind dann die Erfahrung macht, von den Erwachsenen verlässlich beschützt und versorgt zu werden, entsteht das sogenannte Urvertrauen. Damit ist eine tendenziell optimistische Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und sich selbst gemeint, welche die Grundlage für das Gefühl der Selbstwirksamkeitdarstellt, also die Erwartung, Situationen und auch eigene Emotionen erfolgreich beeinflussen und bewältigen zu können. Ist diese grundlegende Fähigkeit vorhanden, können sich Kinder immer neuen altersspezifischen Ängsten (Entwicklungsaufgaben) stellen und durch deren Bewältigung ein weiteres Stück unabhängiger von den Eltern werden.
Coles Entwicklung aber ist ins Stocken geraten. Er kann die Angst vor dem alleine sein erst im Verlauf des Films überwinden. Bis zu einem gewissen Punkt scheint seine Entwicklung ganz passabel verlaufen zu sein, was dafür spricht, dass er zunächst Gelegenheit hatte, ein grundlegendes Urvertrauen auszubilden, welches dann aber erschüttert wurde.
Vieles spricht für Dr. Crowes Hypothese, dass die ausschlaggebende Situation die Trennung von Coles Eltern war. Sein Vater hat die Familie verlassen und da Cole nicht weiß warum, kann er nicht ausschließen, dass er als Sohn versagt und den Vater enttäuscht hat. Die Mutter wurde daraufhin psychisch krank (wahrscheinlich depressiv), die Behandlung blieb erfolglos. Cole behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, ob er bereits vor der Trennung der Eltern tote Menschen gesehen habe. Am wahrscheinlichsten ist, dass er als Kleinkind schonmal Angst vor Geistern oder ähnlichem hatte, diese dann überwunden hat und auf das Trennungstrauma mit Regression, das heißt mit dem Rückfall auf eine frühere emotionale Entwicklungsstufe, reagiert.
Dafür spricht auch, dass Coles kindliche Angst vor Geistern, und seine Hilflosigkeit im Umgang damit, in auffallendem Widerspruch zu seiner Gesamtpersönlichkeit stehen. Wenn er nicht gerade in Panik verfällt, wirkt er ausgesprochen intelligent, eloquent, rational und reflektiert. Kurz: Er wirkt wie ein kleiner Erwachsener.

Das hat einen Grund: Cole ist parentifiziert. Das bedeutet, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung zwischen Cole und seiner Mutter umgekehrt hat.
Nach der Trennung der Eltern steht er alleine da, mit einer Mutter, die nicht nur traurig, sondern auch impulsiv, orientierungslos und affektlabil ist – wie ein kleines Kind. Sie schafft es nicht, trotz ihrer eigenen Trauer noch für ihren Sohn da zu sein, sondern erwartet von diesem (zumindest unbewusst), dass er nun statt des treulosen Ehemannes (und des enttäuschenden Psychotherapeuten) für sie da ist. In ihrer Aussage, ihre Gebete seien nie erhört worden und daher müssten Cole und sie nun ihre Gebete gegenseitig erhören, kommt das direkt zum Ausdruck.
Auf die Ängste ihres Sohnes reagiert sie entweder wütend, weil sie sich belogen fühlt, oder selbst hochgradig panisch, was sein Vertrauen in die Bewältigbarkeit von Ängsten weiter schwinden lässt.

Das Muster der Parentifizierung bildet sich auch in der Beziehung zu Dr. Crowe ab. Wegen seiner eigenen Eheprobleme ist er immer wieder versucht, Coles Fall abzugeben. Doch Cole schafft es, Dr. Crowe an sich zu binden, indem er auch diesen dazu bringt, ihm gegenüber die eigenen Probleme offenzulegen, was Dr. Crowe eigentlich als Kunstfehler betrachtet. Dies gelingt Cole durch ebenjene erwachsen wirkende Art, weil sie Dr. Crowe, in seiner eigenen Bedürftigkeit, die Tatsache verdrängen lässt, dass hier ein krankes Kind seine Hilfe braucht, und nicht umgekehrt.

Cole ist kein „Psycho“ (wie ihn die anderen Kinder nennen) weil er Angst vor Geistern hat, sondern weil ihm eine Aufgabe zugemutet wird, die völlig unangemessen und maximal überfodernd ist.
Er bemüht sich nach Kräften, erwachsen und vernünftig zu sein, was bei den Gleichaltrigen naturgemäß nicht gut ankommt. Dass er Mitschüler bezahlt, um der Mutter vorzumachen, er sei integriert, damit diese sich besser fühlt, lässt ihn vor jenen noch verrückter dastehen. 

Weil er lernen musste, die Gefühle von Erwachsenen zu deuten um darauf reagieren zu können, ist er in der Lage, seinen Lehrer so zu verletzen, dass sogar dieser ihn schließlich vor der Klasse als „Psycho“ beschimpft.
Dass Cole für das ständige Zurückstellen seiner altersgemäßen Bedürfnisse mit kompensatorischen infantilen Ängsten bezahlt, macht ihn noch zusätzlich zum Gespött der Gleichaltrigen, welche den pathologischen Kontrast zwischen der altklugen Ernsthaftigkeit und der bis zur Ohnmacht führenden Panik intuitiv erkennen.

Im Film bewältigt Cole die übergroßen Aufgaben zu guter Letzt: Er erkennt, dass auch die Geister (Wie könnte es anders sein!) nur seine Hilfe wollen, und beginnt damit, sich erfolgreich um sie zu kümmern. Er löst Dr. Crowes Eheprobleme, indem er ihm hilft die Wahrheit zu erkennen. Und er heilt zumindest eine der Wunden seiner Mutter, indem er ihr berichten kann, dass ihre eigene Mutter damals doch bei ihrer wichtigen Schulaufführung gewesen ist.
In Wahrheit wäre es wohl besser gewesen, die Mutter hätte einen zweiten psychotherapeutischen Behandlungsversuch unternommen und so vielleicht die Kraft gefunden, zu Coles Schulaufführung zu kommen.

Weiterlesen