The Equalizer: McCall



Robert McCall, der Equalizer, lebt nach strengen Regeln und Ritualen. Wahrscheinlich hat er in seinem früheren Leben als Geheimagent gelernt, dass nur eiserne Disziplin und akribische Planung ihn gegen das Grauen schützen können, dem er ausgesetzt war. Dennoch muss er viel Schlimmes erlebt haben, denn auch Jahre nachdem er sich zur Ruhe gesetzt hat, findet er keinen ruhigen Schlaf und hält weiterhin an einem Leben voller Regeln, Routinen und Ritualen fest. Wahrscheinlich kann er sich nur auf diese Weise sicher und annähernd beruhigt fühlen. Der Ex-Agent weist deutliche Züge einer zwanghaften (oder auch anankastischen) Persönlichkeitsstörung auf. Für diese Diagnose müssen nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.5) mindestens vier der folgenden Symptome dauerhaft vorliegen:

  • Übermäßige Vorsicht
  • Ständige Beschäftigung mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation und Planungen
  • Perfektionismus
  • Überzogene Gewissenhaftigkeit
  • Unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit
  • Übermäßige Pedanterie und Befolgung von Konventionen
  • Rigidität und Eigensinn
  • Bestehen auf Unterordnung Anderer unter eigene Gewohnheiten
Robert achtet auf einen gesunden Lebensstil und scheint sich dabei keine Ausnahmen zu gönnen. Jeden Abend um die gleiche Zeit geht er in den immer gleichen Diner, setzt sich an den immer gleichen Platz, ordnet sein Besteck in der immer gleichen Weise an und trinkt den immer gleichen Tee. Als einzige Freizeitbeschäftigung liest er ein Buch nach dem anderen von der Bücherliste seiner Ehefrau. Beim Softball und bei der Vorbereitung seines Arbeitskollegen für die Wachmannprüfung ist er leistungsbezogen und perfektionistisch, kein Raum für Schwäche. Stets höflich, hilfsbereit und ordentlich – so ist er selbst und so erwartet er es von anderen.
Und wenn er mal die halbe russische Mafia auslöschen muss, dann bitteschön streng nach Zeitplan!
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Bates Motel: Norma oder die Wahrheit über Borderline



Endlich eine überzeugende Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer Fernsehserie! Der Störung, die fast jeder zu kennen glaubt und über die es doch so viele falsche Klischees, gefährliches Halbwissen und stigmatisierende Vorurteile gibt, wie über kaum eine andere.

Zeit, mit einigen dieser falschen Mythen aufzuräumen! Dabei hilft uns die beeindruckende (wenn auch im Dienste eines spektakulären Plots dramatisierte) Darstellung einer „Borderlinerin“ in Bates Motel. Die Rede ist natürlich von Norma Bates, der Mutter des späteren Psycho-Killers Norman Bates.
Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, wie die Störung offiziell in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.31) heißt, zeigt sich bei Norma anhand der folgenden, dauerhaft und situationsübergreifend vorliegenden Symptome:
  • Deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln (Impulsivität)
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Unbeständige und unberechenbare Stimmung
  • Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild und/oder Zielen und/oder Vorlieben
  • Neigung, sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
  • Angst davor, Verlassen zu werden und übertriebene Bemühungen, dies zu vermeiden
  • Anhaltende Gefühle von Leere und/oder Einsamkeit
Norma ist überaus impulsiv und beschwört durch ihre Impulsivität immer wieder Konflikte herauf. In diesen kämpft sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, so dass es im Affekt auch schonmal zum Mord kommt – immerhin geht es ja auch um das Prequel zu Psycho!
Ihre Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere, anhand einer einzelnen Äußerung oder Handlung ihres Gegenübers, radikal umschlagen, wobei das Spektrum von überschwänglicher Zuneigung über eiskalte Ablehnung bis hin zum Tobsuchtsanfall reicht.
Auch Normas Lebensplanung wirkt impulsiv und von tiefgreifender Unsicherheit bezüglich ihres Selbstbilds und ihrer Lebensziele geprägt. So geht sie immer wieder Beziehungen zu Männern ein, mit denen sie schon bald nicht mehr glücklich ist. Bei Problemen stellt sie schnell alles infrage und versucht ihr ganzes Leben radikal umzukrempeln indem sie irgendwo anders ein neues Leben beginnt.
Besonders auffallend – und für die Entwicklung ihres Sohnes Norman prägend – ist Normas panische Angst, von ihm verlassen zu werden. Sie scheint ihren Sohn weniger als eigenständige Person, sondern vielmehr als Teil ihrer selbst zu betrachten, ohne den sie sich leer und unerträglich einsam fühlen würde, was Norma unbewusst durch den Namen, den sie ihrem Sohn gegeben hat, zum Ausdruck bringt. Psychologen sprechen in einem solchen Fall von einem Selbstobjekt: Der andere wird nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern nur zur Sicherung des eigenen Selbstwertgefühls. Beim leisesten Anzeichen für eine mögliche Verselbstständigung ihres Sohnes, reagiert Norma extrem wütend, verzweifelt oder gekränkt und setzt alles daran, Norman durch Schuldgefühle und Angst an sich zu binden.
All diese Erlebens- und Verhaltensweisen sind typisch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Jedoch sind die einzelnen Verhaltensweisen für die Diagnosestellung nicht hinreichend. Erst das zeitstabile und situationsübergreifende Vorliegen des charakteristischen Symptommusters und ein dadurch erheblich beeinträchtigtes persönliches und soziales Funktionsniveau rechtfertigen die Diagnose.
Kommen wir nun zu einigen der vielen Mythen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung:
Borderliner sind Grenzgänger: Das mag in manchen Fällen so sein, die Bezeichnung Borderline-Störung impliziert jedoch nicht, dass Betroffene sich auf oder entlang irgendwelcher Grenzen (welcher denn auch?) bewegen. Der Begriff entstand vor dem Hintergrund der historischen Einteilung psychischer Erkrankungen in Neurosen (leichtere psychische Störungen aufgrund seelischer Konflikte, mit erhaltener Realitätswahrnehmung) und Psychosen (schwere psychische Störungen aufgrund organischer Ursachen, mit gestörter Realitätswahrnehmung). Da die frühen Beschreibungen der Borderline-Störung keiner der beiden Kategorien eindeutig zugeordnet werden konnten, wurden sie als „auf der Grenzlinie“ zwischen Neurose und Psychose liegend angesehen. In der modernen, viel differenzierten Psychopathologie spielen die Begriffe Neurose und Psychose eine weit weniger zentrale Rolle.
Fazit: Borderline ist ein historischer Begriff ohne inhaltlichen Bezug zum heutigen Störungsverständnis.
Borderliner verletzten sich selbst: Tatsächlich sind wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstverletzung (ICD-10) ein mögliches Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In der klinischen Praxis lässt sich selbstverletzendes Verhalten, meist in Form von Ritzen, z.B. mit Rasierklingen, bei vielen Borderline-Patienten beobachten. Häufig dient die Selbstverletzung dem Abbau innerer Spannungszustände oder der Selbstbestrafung bei Scham- und Schuldgefühlen. Dennoch ist selbstverletzendes Verhalten kein notwendiges Kriterium, es gibt durchaus Borderline-Patienten, die sich nicht ritzen (zum Beispiel Norma Bates). Und vor allem ist selbstverletzendes Verhalten kein hinreichendes Kriterium: Ritzen oder andere selbstverletzende Verhaltensweisen können ebenso Symptome anderer psychischer Störungen (zum Beispiel Depressionen) sein oder auch bei an sich völlig gesunden Menschen als vorübergehendes Phänomen in Lebenskrisen, Erregungszuständen oder während der Pubertät auftreten.
Fazit: Borderline ist nicht gleich Ritzen und Ritzen ist nicht gleich Borderline.
Borderliner manipulieren und spalten: Wenn wir Angst haben, geliebte Personen für immer zu verlieren, ergreifen wir alle zur Verfügung stehenden Mittel, um dies zu verhindern. Ein drohendes oder befürchtetes Verlassenwerden kann bestehende Zweifel an der eigenen Liebenswürdigkeit und existenzielle Ängste vor Einsamkeit und Endlichkeit wachrufen. Wenn der innere oder äußere Krieg um geliebt oder verlassen werden tobt, kommen mitunter auch manipulative Waffen wie Schuldvorwürfe, Drohungen und emotionale Erpressung zum Einsatz. Die Spaltung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Leben und Tod kann in solchen Ausnahmesituationen helfen, ein Mindestmaß an Orientierung und Sicherheit zu erhalten.
Fazit: Spaltung und Manipulation sind gängige psycho-soziale Bewältigungsstrategien bei existenzieller Verlassenheitsangst, allerdings geraten Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung tendenziell schneller und häufiger in diesen Zustand (siehe Norma Bates).
Eine Borderline-Störung ist die Folge eines Kindheitstraumas: Wie fast alle psychischen Störungen lässt sich auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung in den meisten Fällen nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Dennoch zeigt die klinische Beobachtung, dass sich in den Biographien von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen überzufällig häufig Gewalt- und Missbrauchserfahrungen finden lassen (wie auch bei Norma Bates), was nahe legt, dass diese einen Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben. Allerdings gibt es auch Borderline-Persönlichkeitsstörungen ohne nachweisbares schweres Trauma in der Vorgeschichte, ebenso wie es viele Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung gibt, die keine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln. Entscheidender als ein schweres Kindheitstrauma scheinen Bindungsstörungen zu sein, das heißt Störungen und negative Muster in der Eltern-Kind-Interaktion, wie emotionale Vernachlässigung, Entwertung oder inkonsistentes Elternverhalten zwischen Vereinnahmung und Zurückweisung. Allerdings treten schwere Traumatisierungen und Bindungsstörungen gehäuft in denselben Familiensystemen auf.
Fazit: Traumata stellen einen Risikofaktor für viele psychische Störungen dar, aber Borderline ist nicht gleich Trauma.
Die Borderline-Störung ist nicht therapierbar: Ob Persönlichkeitsstörungen generell vollständig heilbar sind, oder nicht, ist umstritten. Doch selbst wenn die zugrundeliegenden Erlebensweisen (wie im Falle der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Tendenz zu Impulsivität, emotionaler Instabilität und Angst vor dem Verlassenwerden) nicht vollständig wegtherapiert werden können, bedeutet das nicht, dass Psychotherapie nicht indiziert, sinnvoll und aussichtsreich wäre. Die Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung setzt an der Umsetzung des Erlebens in Verhalten an: Die eigenen Gefühle sollen früher und differenzierter wahrgenommen und analysiert werden können. Dadurch lässt sich das eigene Verhalten besser regulieren und zwischenmenschliche Interaktionen können befriedigender gestaltet werden. Langfristig werden dadurch positivere Beziehungserfahrungen gemacht und Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere können nachreifen. Allerdings fällt es Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen aufgrund ihrer früheren enttäuschenden Beziehungserfahrungen oft nicht leicht, zu Therapeuten Vertrauen zu fassen. Norma Bates gelingt es gar nicht.
Fazit: Es gibt gute und wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren zur erfolgreichen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die allerdings von Therapeut und Patient viel Geduld und Offenheit für neue Erfahrungen erfordern.
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Under the Dome: Big Jim

James „Big Jim“ Rennie aus Under The Dome ist das Paradebeispiel eines Menschen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80). Von den überdauernden Erlebens- und Verhaltensweisen, die dieser Störung zugeordnet werden, erfüllt er nicht nur die für die Diagnosestellung nötigen fünf Kriterien, sondern gleich alle Neune.

  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen 
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Allerdings weiß man bei Under The Dome ja nie so genau, welche der Überzeugungen, Visionen und Vorahnungen, die Psychologen in unserer Welt als Realitätsverzerrung oder sogar als Wahn klassifizieren würden, sich unter der Kuppel letztlich als wahr erweisen.
Vielleicht ist Big Jim ja doch der Auserwählte…

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Desperate Housewives: Bree

Bree Van de Kamp, die im Laufe von Desperate Housewives noch weitere Nachnamen hatte, ist die klischeehafteste der an klischeehaften Vorstadthausfrauen nicht armen Wisteria Lane. Ihr Haus, ihre Familie und auch sie selbst erstrahlen stets in hellstem Glanz. Alles ist sauber und rein – zumindest an der Oberfläche.
Für diese perfekte Fassade tut Bree einiges. Ständig hat sie alle Hände voll zu tun, um alles, was weniger perfekt erscheinen könnte, unter den Teppich zu kehren. Dies gilt auch für ihr Innenleben: Aggression, Neid, Faulheit, Impulsivität, alles was unkontrolliert oder unanständig wirken könnte, hält sie tief in ihrem Inneren verborgen. Meistens macht es den Eindruck, als würde sie nicht einmal selbst diese unerwünschten Emotionen wahrnehmen. Diesen Abwehrmechanismus, bei dem eigene unerträgliche Gefühle ins Unbewusste verdrängt und dort unter Verschluss gehalten werden, nennt man Affektisolierung.
Bree hatte schon früh in ihrem Leben gute Gründe, ihre Gefühle weit von sich weg zu halten. Als Kind verlor sie ihre Mutter bei einem schrecklichen Unfall. Um das Trauma nicht passiv ertragen und all ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung spüren zu müssen, tat sie, was sie fortan immer tun würde, sie spülte das Blut ihrer toten Mutter aus der Einfahrt, stellte Reinheit und Ordnung wieder her und ging zum Tagesgeschäft über. Später wuchs sie mit einer Stiefmutter auf, die höchste Ansprüche an Ordnung, Fleiß und Tugendhaftigkeit stellte und Bree stets wissen ließ, wenn sie an diesen scheiterte. Brees Vater, ein konfliktscheuer Ja-Sager, stand ihr vermutlich nicht bei, sondern erwartete von ihr, sich um der Harmonie willen an die überzogenen Standards seiner zweiten Frau anzupassen. So musste Bree, um in ihrer pseudo-heilen Welt überleben zu können, auch weiterhin ihre Trauer (über den Tod der Mutter), ihre Wut (auf die ungerechte Stiefmutter), ihre Enttäuschung (über den feigen Vater) und ihre Selbstzweifel hinter einer Fassade von Freundlichkeit und Perfektion verbergen.
Über die Jahre wurden die Affektisolierung und der Zwang zu äußerlicher Ordnung und Reinheit zu Brees dominierender Verhaltensstrategie und prägten ihren Charakter, so dass von möglichen anderen Erlebens- und Verhaltensweisen kaum etwas übrig blieb. Als Ergebnis dieses Prozesses, leidet Bree unter einer Zwanghaften Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.5, auch anankastische Persönlichkeitsstörung genannt). Diese zeigt sich bei Bree durch die folgenden Kriterien:
  • Exzessive Beschäftigung mit Details, Regeln, Ordnung, Organisation und Plänen
  • Extremer Perfektionismus
  • Unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit unter Vernachlässigung zwischenmenschlicher Beziehungen
  • Übertriebene Pedanterie und Befolgen sozialer Konventionen
  • Rigidität und Eigensinn
  • Bestehen darauf, dass andere sich exakt den eigenen Gewohnheiten unterordnen
  • Abneigung dagegen, andere etwas machen zu lassen
Brees Störung wird vermutlich auch dadurch aufrecht erhalten, dass zwanghafte Züge, in gewissem Ausmaß, durchaus gesellschaftlich anerkannt und geschätzt werden. Zumal in der Wisteria Lane, wo der schöne Schein alles bedeutet. So erhält Bree von den Nachbarn viel Wertschätzung für ihr sorgsam gepflegtes Anwesen, ihr makelloses Äußeres und ihre akkuraten Kochkünste, während ihre Familie hinter verschlossenen Türen unter ihrem Zwang zur Perfektion und ihrer gefühlskalten Unnahbarkeit leidet. 
Wenn dennoch zu viel in ihrem Leben zusammenkommt und die unerwünschten Gefühle immer stärker ins Bewusstsein drängen, greift Bree zum Alkohol, der zuverlässig dabei hilft, diese zu betäuben wieder in die Tiefen des Unbewussten zurückzudrängen.
Bree hat in zweifacher Hinsicht einen hohen Krankheitsgewinn: Erstens erspart ihr die konsequente Affektisolierung, die als Teil ihrer Persönlichkeitsstörung unbewusst, quasi automatisiert, abläuft, das Empfinden unangenehmer Gefühle, wie Trauer, Wut, Angst und Selbstzweifeln. Man spricht hier von primärem Krankheitsgewinn. Zweitens hat Bree, durch die gesellschaftliche Anerkennung für ihre Zwanghaftigkeit, einen über die Umwelt vermittelten, sogenannten sekundären Krankheitsgewinn.
Aufgrund dieses hohen Krankheitsgewinns sind zwanghafte Persönlichkeitsstörungen psychotherapeutisch oft schwierig zu behandeln, wie man in Brees Sitzungen mit dem Eheberater Dr. Goldfine anschaulich miterleben kann. Der subjektiv empfundene Leidensdruck liegt häufig eher beim sozialen und familiären Umfeld, welches unter der Zwanghaftigkeit und emotionalen Kälte leidet. Bree selbst ist hingegen mit ihrer Rationalität und Affektisolierung identifiziert und sieht die Notwendigkeit zur Veränderungen eher bei anderen, die in ihren Augen fehlerhaft oder gefühlsduselig sind.
Außerdem ist der psychotherapeutische Ansatz, sich den eigenen Emotionen ohne Bewertung anzunähern, für Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung häufig wenig nachvollziehbar, da sie ihre Gefühle so konsequent abgespalten haben, dass sie tatsächlich nicht wahrnehmen, dass da noch mehr sein könnte. So wählen zwanghafte Menschen häufig nicht die therapeutische Auseinandersetzung mit den Grundlagen ihres zwanghaften Erlebens und Verhaltens, sondern suchen sich ein soziales Umfeld, das zwanghafte Eigenschaften belohnt und wenig Wert auf emotionale Einlassung legt. Das oberflächlich heile Vorstadtidyll der Wisteria Lane scheint dafür nicht schlecht geeignet zu sein.
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Das Böse in House of Cards & The Shield

Francis „Frank“ Underwood aus House of Cards und Detective Vic Mackey aus The Shield – Gesetz der Gewalt verbindet auf den ersten Blick nicht viel. Hier der aalglatte Spitzenpolitiker, stets in Anzug und Krawatte, dort der raubeinige Cop, laut, aggressiv und respektlos. 

Bereits der zweite Blick offenbart jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Jeder der beiden ist in seiner Welt (der des politischen Establishments und der des Polizeiapparates und der Straßengangs) bewundert und gefürchtet zugleich. Sowohl Frank als auch Vic sind in höchstem Maße berechnend, kaltherzig, gierig und manipulativ. Nichts und Niemand scheint ihnen heilig zu sein. Prinzipien wie Personen verraten sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Das schlechte Gewissen, der innere Konflikt zwischen egoistischen Bedürfnissen und allgemeingültigen Moralvorstellungen, welcher viele Film- und Seriencharaktere stellvertretend für uns umtreibt, spielt für Frank und Vic keine Rolle. Sie lügen, drohen, erpressen und morden mit schockierender Gleichgültigkeit. Sie verfolgen ausschließlich ihre persönlichen Ziele und stellen diese ganz selbstverständlich über alles andere. Frank selbst formuliert es so: „Der Weg an die Macht ist mit Heuchelei gepflastert und Kollateralschäden. Kein Platz für Reue!“
Diese Kombination aus Narzissmus, Dissozialität, Aggression und Misstrauen gegenüber anderen wird als Maligner Narzissmus bezeichnet. Maligner Narzissmus ist eine spezielle und seltene Variante der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zwar deren Kriterien erfüllt, aber darüber hinaus noch die zusätzlichen Merkmale Dissozialität, Aggressivität und eine misstrauische Grundhaltung voraussetzt.
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe 
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung 
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung 
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Frank Underwood und Vic Mackey erfüllen den Großteil dieser Kriterien. Beide fühlen sich ihren Kollegen und Konkurrenten überlegen und leiten aus ihrer idealisierten Selbstwahrnehmung das Recht ab, die eigenen Interessen (Frank: Macht; Vic: Macht und Geld) ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen. Beide idealisieren ihre Ehen und sind blind dafür, dass sie ihre Frauen, genau wie alle anderen, manipulieren und verletzen. Die wenigen Freundschaften, die sie pflegen (Frank: Freddy, Doug; Vic: Shane, Lem, Ronnie), bestehen ausschließlich zu Menschen, die hinsichtlich Status und Hierarchie unterlegen sind. Dies dient der Sicherung der eigenen Überlegenheit und der Bewunderung durch die weniger Privilegierten. Doch selbst diese werden fallengelassen, sobald es der eigenen Sache dient. 
Alle, die höher in der Nahrungskette stehen (Frank: Präsident Walker; Vic: Captain Aceveda), werden als unfähig erlebt, um ihre Position beneidet und mit allen Mitteln und ohne Mitleid bekämpft.
Neben der ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, weisen Frank und Vic auch die weiteren Merkmale maligner Narzissten auf: Dissozialität, Aggressivität und Misstrauen. Erst diese Kombination macht ihren individuellen Narzissmus so maligne, so verheerend für ihre Feinde, Freunde, Kontrahenten und Familien.
Die ausgeprägte Dissozialität (d.h. Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Normen und Gefühlen anderer) bewirkt, dass es nicht bei Neid- und Hassgefühlen auf all jene, die die eigene Grandiosität nicht anerkennen oder den eigenen Zielen im Wege stehen, bleibt, sondern dass diese auch aktiv, unter Missachtung jeglicher gesellschaftlicher Regeln, bis aufs Blut bekämpft werden, wobei sich ein hohes Maß an Aggressivität zeigt: Jeder (vermeintliche) Angriff wird massiv vergolten, jede kleinste Provokation heftigst erwidert. Bei Kränkungen wird impulsiv und unverhältnismäßig zurückgeschossen, nichts wird je vergessen oder vergeben.
Die hohe Kränkbarkeit hängt auch mit der per se misstrauischen Grundhaltung zusammen. Aus der eigenen Bereitschaft, jeden jederzeit dem eigenen Vorteil zu opfern, leitet sich die Erwartung ab, dass auch andere letztlich illoyal und ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Daher müssen alle Beziehungen durch Macht oder Manipulation kontrolliert und das Gegenüber in Angst, blindem Gehorsam und Abhängigkeit gehalten werden.
Beunruhigend an den Darstellungen des malignen Narzissmus in House of Cards und The Shield ist allerdings weniger die Tatsache, dass es solche Menschen gibt, sondern vielmehr, dass diese (zumindest für lange Zeit und mit verheerenden Folgen) erfolgreich und prägend in zentralen gesellschaftlichen Institutionen tätig sind. Es sieht sogar so aus, als wären es gerade die pathologischen Persönlichkeitsaspekte, die den Aufstieg und die Triumphe von Frank und Vic in oft zunächst ausweglos erscheinenden Situationen erst ermöglichen. Der maligne Narzissmus scheint einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen darzustellen, die entweder durch Prinzipien, Anstand, Skrupel, Mitgefühl oder Gemeinsinn gebunden sind.
Die meisten von ihnen verzweifeln irgendwann an der Verdorbenheit des Systems, versuchen schließlich mit ebenso illegalen Mitteln zurückzuschlagen, scheitern aber an ihren auf diesem Gebiet überlegenen narzisstischen Kontrahenten und werden schließlich entweder von ihnen vernichtet oder stehen geschlagen und beschämt da. Dieses düstere Bild wird in House of Cards und The Shield bei weitem nicht nur von Politik und Polizei gezeichnet, sondern zeigt sich genauso in Medien, Gewerkschaften, Kirchen sowie sozialen und gemeinnützigen Organisationen.
Muss man also ein maligner Narzisst sein, um sich in den hierarchisch-bürokratischen Gesellschaftsstrukturen zu behaupten? Lässt der gesellschaftliche Leistungs- und Konkurrenzdruck die Menschen gar erst zu malignen Narzissten werden? (Immerhin wissen wir kaum etwas über Franks und Vics Vorgeschichten)
Oder ist es in echt gar nicht so schlimm, wie im Fernsehen…?
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Fight Club & Zwielicht

SPOILERWARNUNG: Die Filme Fight Club und Zwielicht weisen, neben der großartigen Darbietungen von Edward Norton, eine Reihe weiterer Parallelen auf. Eine davon ist die überraschende Wendung zum Schluss, weshalb an dieser Stelle besonders empfohlen sei, zunächst beide Filme anzuschauen und erst danach die folgenden Ausführungen zur Psychopathologie der Hauptrollen zu lesen.

Beide Filme behandeln, jeweils anhand der von Edward Norton dargestellten Charaktere, das Thema gespaltene Persönlichkeit, oder, im psychologischen Fachjargon Multiple Persönlichkeitsstörung, welche nach IDC-10 (F44.81) wie folgt beschrieben wird:

  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern (zu ausgeprägt für eine einfache Vergesslichkeit)
  • Nicht bedingt durch eine hirnorganische Störung oder durch psychotrope Substanzen
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen

Die multiple Persönlichkeitsstörung gehört zu den sogenannten Dissoziativen Störungen, wobei Dissoziation sinngemäß mit Abspaltung übersetzt werden kann und meint, dass eine Funktion, welche normalerweise in die psychische Gesamtstruktur integriert ist (z.B. Erinnerung, Wahrnehmung, Bewegung), sich plötzlich der psychischen Kontrolle entzieht, gleichsam von dieser abgespalten wird. Im Falle der multiplen Persönlichkeitsstörung sind ganze Persönlichkeitsanteile (mit jeweils eigenen psychischen Funktionen) von dieser Abspaltung betroffen.

In Fight Club spielt Edward Norton den namenlosen Protagonisten, der in der Rezeption häufig Jack genannt wird (im Bezug auf die Zeitschriftenartikel aus der Perspektive der inneren Organe einer Person namens Jack), und der wahrscheinlich die prämorbide Grundpersönlichkeit darstellt. Auf andauernde Gefühle von Sinnlosigkeit und Einsamkeit reagiert Jack zunächst mit heftigen Schlafstörungen (ICD-10: F51.0, Nichtorganische Insomnie), die ihn noch weiter an die psychische und physische Belastungsgrenze bringen. Die letzte Rettung für seine dem Zusammenbruch nahe Psyche ist die Dissoziation eines Persönlichkeitsanteils, den Jack bisher nicht ausleben konnte, wahrscheinlich aufgrund von Angst, Scham und einer Erziehung und Sozialisation, die Anpassung, Unterordnung und den Rückzug in eine materiell-private pseudoheile Welt propagiert haben. Dieser Persönlichkeitsanteil, gespielt von Brad Pitt, heißt Tyler Durden und verkörpert nach eigener Aussage „all das was du immer sein wolltest…„, was in erster Linie Autonomie, Impulsivität, aggressive und sexuelle Exzessivität und grenzenloses Selbstvertrauen bedeutet. Jack leidet, wie er in einer Szene berichtet, darunter, seinen Vater kaum gekannt zu haben und nur von Frauen erzogen worden zu sein. Mit Tyler lebt er sein idealisiertes männlich-kraftvolles Persönlichkeitsideal aus. Die Abspaltung dieses Persönlichkeitsanteils ist zunächst noch notwendig, weil Jack zu tief in seinen Ängsten und Unsicherheiten gefangen ist, um bewusst Veränderungsschritte einleiten zu können.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht im Film Zwielicht zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen Aaron und Roy (diesmal beide gespielt von Edward Norton), wenngleich sich zum Schluss herausstellt, dass, anders als es zunächst den Anschein hatte (und auch anders als in Fight Club), nicht der unsichere, ängstliche Aaron die prämorbide Grundpersönlichkeit verkörpert, sondern dass dieser eine bloße Erfindung des aggressiven und manipulativen Roy, der in Wahrheit doch nicht unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet, ist.

Zudem besteht ein Unterschied zwischen den beiden Filmen darin, dass Aaron und Roy nie gleichzeitig auftreten, was, wenngleich sich Roy als Simulant entpuppt, die realistischere Darstellung der multiplen Persönlichkeitsstörung ist, während die ausführlichen Dialoge zwischen Jack und Tyler eher an visuelle und akustische Halluzinationen erinnern, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) typisch sind und weniger bei multipler Persönlichkeitsstörung.

Ein anderes Störungsbild, welchem in beiden Filmen eine zentrale Rolle zukommt, ist die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Diese ist nach ICD-10 (F60.2) gekennzeichnet durch:

  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind

Sowohl Roy als auch Tyler erfüllen fraglos den Großteil der diagnostischen Kriterien, wobei in Fight Club, angesichts des massiven Zulaufs, welchen zunächst der Fight Club und später das Projekt Chaos haben, zusätzlich die Frage nach dem Ausmaß der unterschwellig vorhandenen, aber aufgrund gesellschaftlicher Normen unterdrückten, dissozialen Anteile in der (männlichen) Gesamtbevölkerung aufgeworfen wird.

Dies führt zu einer weiteren Gemeinsamkeit beider Filme: Die Darstellung (vermeintlich) dissoziativ gestörter Hauptcharaktere hat auch die Funktion des Hinweises auf dissoziative Elemente im gesamtgesellschaftlichen Geschehen.
In Zwielicht wird der simulierten Persönlichkeitsspaltung des wegen Mordes angeklagten Aaron/Roy die ihrerseits an Persönlichkeitsspaltung grenzende Bigotterie der herrschenden Klasse gegenübergestellt und die durchweg selbstsüchtigen, macht-, ruhm-, geldgierigen und perversen Motive der nach außen hin makellos anständigen Würdenträger aus Gesellschaft, Justiz und Kirche werden vorgeführt.
Fight Club thematisiert ausführlich die dissoziative Gefühlsabspaltung als Massenphänomen in einer Gesellschaft, die durch permanenten materiellen und medialen Passivkonsum und das axiomatische Gebot von Konformität und Selbstoptimierung in einem hypnotischen Zustand geduldeter Unterwerfung und Gefügigkeit gehalten werden soll, welcher wiederum (und hier schließt sich der Kreis) im eigensten Interesse der, in Zwielicht charakterisierten, herrschenden Minderheit sein soll.

Summa Summarum ist Roy ein kaltblütiger Mörder und Tyler ein Extremist und Terrorist. Einen Anstoß, dissoziative Phänomene im eigenen Alltagserleben wahrzunehmen und die Maximen der eigenen Lebensführung einer Überprüfung zu unterziehen, können uns die Filme dennoch liefern.

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Die Wand: Die Frau

In der österreichisch-deutschen Romanverfilmung „Die Wand“ von 2012 wird die namenlose Protagonistin durch eine unsichtbare Wand von der menschlichen Außenwelt abgetrennt. Diese ist zwar für sie sichtbar, allerdings wirken die Menschen jenseits der Wand wie eingefroren. Doch auch wenn sie das nicht wären, schiene eine Kommunikation durch die vollständig schalldichte Wand verunmöglicht.

Die unsichtbare Wand inmitten einer ansonsten realistisch anmutenden österreichischen Bergwelt kann metaphorisch verstanden werden, als unsichtbares, nicht rational greifbares Hemmnis der Kommunikation mit anderen Menschen. Ähnlich der zunächst gegen ihren Willen isolierten, sich dann aber zunehmend mit der Situation arrangierenden, Protagonistin, können wir uns das innere Erleben von Menschen mit einer schizoiden Persönlichkeitsstörungvorstellen.
Diese ist in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.1) beschrieben als überdauerndes Erlebens- und Verhaltensmuster, das gekennzeichnet ist durch:

  • Rückzug von affektiven, sozialen und anderen zwischenmenschlichen Kontakten
  • einzelgängerisches Verhalten und in sich gekehrte Zurückhaltung
  • übermäßige Vorliebe für Phantasien
  • begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben 

Diese zurückgezogene Isolation ist, auch das wird im Film deutlich, zunächst einmal nicht selbst gewählt. Die Protagonistin befindet sich eingangs in Gesellschaft eines Paares im Alter ihrer Elterngeneration. Wenngleich die vollständige Isolation hier noch nicht stattgefunden hat, ist bereits Kommunikation mit diesen Elternfiguren spärlich. Die Protagonistin wirkt still, in sich gekehrt und in ihre eigenen Gedanken versunken.
Ein Kind, welches von seinen Eltern keine (oder, was ebenfalls denkbar wäre, nur beängstigende) Ansprache erfährt, wird sich eventuell ebenso in eine innere Welt zurückziehen und diese, wie für die schizoide Persönlichkeitsstörung charakteristisch, fantasievoll ausgestalten, um dort Anregung, Ansprache und Emotionalität zu erleben.
Im Film wird dies vor allem durch die Haustiere veranschaulicht, die der Frau nach und nach zulaufen, was unter der abgeschlossenen Glasglocke recht unwahrscheinlich anmutet. Auch der weiße Rabe steht für die kreative Ausgestaltung der eigenen Erlebniswelt. Nach und nach werden den Tieren von der Frau immer menschlichere Eigenschaften zugeschrieben, was nur allzu verständlich ist und verdeutlicht, wie der fehlende emotionale Kontakt zu anderen Menschen in der Innenwelt zu ersetzen versucht wird.

Dass es sich bei diesem Rückzug nach innen, bzw. in ein zunächst friedvoll-beschauliches Naturidyll, nicht um eine selbstgenügsame, meditative Rückbesinnung auf das Wesentliche handelt, um eine letztlich willkommene Entschleunigung und Entsagung der ohnehin rauschhaft-oberflächlichen Menschenwelt oder ähnliches, lässt sich daran erkennen, dass die Frau, ebenso wie Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung, innerlich und äußerlich zusehends verhärtet, man könnte fast sagen: Versteinert. Der Tonfall ihrer Berichte (die sie im dritten Jahr der Isolation zu schreiben beginnt) ist monoton, emotionslos, unbeteiligt. Am Schreiben selbst hat sie keine Freude, empfindet es, wie fast alles in ihrem täglichen Überlebenskampf, als schiere Notwendigkeit.

Wenngleich also die äußere Isolation und der innere Rückzug der Frau nicht selbst gewählt sind und sie emotional zunehmend verkümmert, arrangiert sie sich resignativ und relativ klaglos mit der nicht zu ändernden Situation und entfremdet sich dabei zwangsläufig immer weiter von der Welt der anderen Menschen.
Die Entfremdung ist dabei eine gegenseitige: Der schizoide Mensch wirkt auf die Außenwelt eigenartig, skurril und an allem zwischenmenschlichen desinteressiert. Gleichzeitig erscheinen deren Konventionen, Werte und Maßstäbe für ihn, den Ausgeschlossenen, unverständlich, willkürlich und mit hoher Wahrscheinlichkeit zunehmend überfordernd und potentiell bedrohlich.
Für diese letztlich vollendete Entfremdung von der Menschenwelt, steht im Film das Aufeinandertreffen mit dem Mann: Für die Frau wirkt er chaotisch brutal, maximal bedrohlich, ohne Sinn für die Erhabenheit ihrer Natur- und Tierwelt. Nach den Jahren der erzwungenen Isolation, erscheint ihr der erste Mensch, mit dem sie in Kontakt kommt, als fremd und gefährlich – und damit die Sicherheit ihrer Einsamkeit als die erträglichere Alternative.
Indes kann der Mann auch anders gesehen werden. Möglicherweise hat er sich im Wald verirrt und tötet den Stier aus verzweifeltem Hunger und den Hund aus Notwehr. In seiner Welt könnte ein Rind vielmehr ein Nahrungsmittel als ein Freund sein, von der besonderen Beziehung der Frau zu ihren Tieren kann er nichts wissen – und würde sie womöglich auch nicht verstehen können.
So endet der erste menschliche Kontakt seit Jahren in einer Tragödie, da die Frau den Menschen so fremd geworden ist, dass einer kommunikativen Verständigung und gegenseitigem Verstehen inzwischen jede Basis fehlt.

Der Film „Die Wand“ bietet hierfür keine Lösung an und tut daran gut, denn auch in der Psychotherapie gilt die schizoide Persönlichkeitsstörung als schwer behandelbar. Dies liegt jedoch nicht daran, dass die Störung (und die nicht selten auftretenden komorbiden Folgestörungen wie Ängste oder Depressionen) nicht behandelbar wäre, sondern vielmehr daran, dass für die Inanspruchnahme von psychotherapeutischer Unterstützung ein Mindestmaß an Hoffnung darauf, von anderen Menschen doch noch Hilfe und Zuspruch erfahren zu können, erhalten sein muss.
Falls dieses gegeben ist (oder geweckt werden kann), kann eine vorsichtige Wiederannäherung im Rahmen der therapeutischen Beziehung erfolgen, sofern es dem Therapeuten, anders als dem Mann im Film, gelingt, Respekt für die Leistung des schizoiden Menschen aufzubringen, sich über Jahre hinweg mit einer für die meisten Menschen als unaushaltbar erlebten Situation bestmöglich arrangiert zu haben.

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The Dark Knight: Joker

Der von Heath Ledger gespielte Joker im Film The Dark Knight, dem zweiten Teil der Dark Knight Trilogie, ist mit Sicherheit einer der faszinierendsten Bad Guys der Filmgeschichte. Seine Unberechenbarkeit, sein unbändiger Drang und scheinbar unerschöpflicher Antrieb zu Chaos und Zerstörung werden durch die Wucht ihrer Darstellung geradezu physisch spürbar.

Fast scheint der Joker kein Mensch mehr zu sein, sondern vielmehr die personifizierte Destruktivität, Murphys menschgewordendes Gesetz. Aber eben nur fast. Letztlich bleibt er doch ein Mensch, allerdings ein psychopathologisch höchst auffälliger.
In der Figur des Jokers manifestiert sich in extremer Weise das Bild einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2). Hierunter versteht sich ein zeitlich und situativ stabiles Persönlichkeitsmuster, welches durch mindestens drei der folgenden Erlebens- und Verhaltensweisen geprägt ist:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Wir finden beim Joker nicht nur die für die Diagnosestellung notwendigen drei, sondern gleich alle sechs Merkmale in ausgesprochen starker Ausprägung erfüllt: Mitgefühl scheint ihm fremd, er stiehlt und mordet mit schockierender Gleichgültigkeit. Die Missachtung sozialer Normen und Gesetze ist sein erklärtes und handlungsleitendes Ziel. Trotz seiner auffallenden Gleichgültigkeit gegenüber anderen, gelingt es ihm problemlos, immer wieder Menschen für sich und seine Zwecke zu gewinnen und auszunutzen. Seine scheinbare Gelassenheit entpuppt sich schnell als Fassade, wenn etwas nicht nach Plan verläuft (z.B. als der Fernzünder für die Krankenhausbombe nicht gleich funktioniert). Dann reagiert er überaus impulsiv und aggressiv. Indem der Joker sich selbst zum quasi übermenschlichen Chaosprinzip erklärt, erhebt er sich über jegliche Schuld. Bestrafungen nimmt er bereitwillig in Kauf, als Gelegenheit, anhand seiner Gleichgültigkeit die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Die Rationalisierung des eigenen Verhaltens ist eine wahre Königsdisziplin des Jokers, der es immer wieder schafft, sich selbst als letztlich unausweichliche Konsequenz latenter gesellschaftlich-moralischer Missstände zu stilisieren und damit selbst den vormals so rechtschaffenen Staatsanwalt Harvey Dent für sich einzunehmen.

Wenn der Joker nun, trotz seiner Persönlichkeitsstörung, auch nur ein Mensch ist, stellt sich unweigerlich die (bei weitem nicht nur) psychologisch höchstinteressante und –relevante Frage: Bad or mad? Wirkt im Verhalten des Jokers ein ursächlich Böses als primäre Antriebskraft, oder ist es trotz allem als pathologisch-paradoxer Versuch zur Erfüllung basaler menschlicher Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Annahme zu verstehen?

Vieles spricht für Letzteres. Während die obengenannten Grundbedürfnisse evolutionsbiologisch nach wie vor essenziell bedeutsam sind, hat ein primärer, nicht der Selbstverteidigung (und damit wieder der eigenen Sicherheit) dienender, Aggressionstrieb keinerlei Nutzen, ist folglich nicht sinnvoll erklärbar. Dagegen liefert die Psychologie mindestens zwei plausible Erklärungen für zunächst völlig irrational und paradox anmutendes destruktiv-aggressives Verhalten: 

  • Als direkte Reaktion auf eigene Kränkung und Frustration, insofern als die Aggression dazu dient, die eigenen negativen Gefühle im Außen bzw. im Gegenüber unterzubringen um sie nicht selbst aushalten zu müssen
  • Als Versuch, in einer als chaotisch und undurchschaubar erlebten Welt, durch Verletzung von Regeln und Normen, Resonanz und Grenzen zu erfahren, in der Hoffnung, dadurch doch noch Orientierung, Halt und somit letztlich Sicherheit zu erleben
Beide Sichtweisen können helfen, das Verhalten des Jokers zu verstehen. Wenngleich wir wenig über seine Vorgeschichte wissen, steht fest, dass er Schreckliches erlebt haben muss.  Zwar ist mindestens eine der beiden Geschichten über seine Verstümmelung gelogen, diese selbst bleibt dennoch real. Selbst wenn die konkreten Geschichten beide faktisch unwahr sind, handelt es sich dabei doch um Abwandlungen eines real erlebten Traumas. Möglicherweise ist die Erinnerung daran sogar gänzlich verdrängt und die wechselnden Geschichten sind weniger bewusste Lügen, als vielmehr sogenannte Deckerinnerungen, welche vor der Erinnerung des tatsächlich Erlebten schützen.
Wie dem auch sei, der Joker war einst Opfer und die Opferrolle ist ihm buchstäblich und unwiderruflich ins Gesicht geschrieben. Das erlebte lässt sich nicht verbergen, sondern ist für jedermann jederzeit sichtbar. Worauf er hoffen kann ist allenfalls Mitleid, wahrscheinlicher sind jedoch Ekel und Abscheu. Die Möglichkeit, seine Selbstdarstellung und Position in der Gesellschaft frei zu variieren und selbst zu gestalten ist ihm genommen.
Gut möglich, dass die innere Welt eines so Versehrten sich schließlich aufspaltet in Opfer und (aktiv misshandelnde oder zumindest herablassende und ausgrenzende) Täter. In diesem Fall bleibt die Wahl zwischen dem Ertragen von Schmerz, Scham und Angst oder der Selbstdefinition als Täter, der diese Gefühle anderen zufügt um sie nicht selbst aushalten zu müssen. Diesen Mechanismus, bei dem Gewaltopfer selbst zu Tätern werden, nennt man Identifikation mit dem Aggressor. Der Joker wählt diesen Weg und stilisiert sein eigenes Leid zum Schrecken der Anderen.

Obwohl der Joker damit seine eigene Ausgrenzung aus der Gesellschaft zementiert, bleibt ein unterschwelliger Bindungswunsch doch wahrnehmbar. Deutlich zeigt er sich in der Beziehung zu Batman. Wir dürfen dem Joker glauben, dass er Batman nicht töten will. Tatsächlich findet er Erfüllung (vermutlich nur) im Katz-und-Maus-Spiel mit diesem. Durch sein eigenes abnormes Verhalten sichert er sich dessen volle Aufmerksamkeit und intensive Zuwendung.

Die Regeln und Autoritäten der Gesellschaft konnten den Joker damals nicht vor seinem schrecklichen Schicksal bewahren, weshalb er ihnen zutiefst misstraut, sie verachtet und ihnen ihre Unzulänglichkeit immer wieder beweisen muss. Doch dann ist da Batman, eine neue, größere, stärkere und unmittelbarere Autorität. In ihm bestätigt sich das Versagen der alten Ordnung. An ihn knüpfen sich die Hoffnungen derer, die von dieser enttäuscht wurden. Und so kann auch der Joker seine Faszination für Batman nicht verbergen. Seine Aufmerksamkeit zu erlangen treibt ihn an. Ihn verachtet er nicht, sondern sucht seine Augenhöhe. Von ihm will er gesehen werden, selbst wenn dies Bestrafung bedeutet. Ein Kampf auf Leben und Tod mit Batman ist ihm lieber, als jede erdenkliche Wohltat, als Reichtum und Macht sowieso.
Dahinter steht die Hoffnung, in Batman endlich jemanden gefunden zu haben, der stark genug ist, das Chaos, welches das Leben des Jokers vor langer Zeit so unfassbar grausam heimgesucht hat, in Ordnung zu bringen. 

Alfred mag recht haben: Manche Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen. Tatsächlich aber wünschen sie sich verzweifelt, dass spätestens dann endlich jemand auftaucht, der imstande ist, das Feuer zu löschen.

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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Sons of Anarchy: Gemma



Gemma Teller-Morrow ist die Matriarchin des Motorradclubs Sons of Anarchy aus der gleichnamigen TV-Serie. Sie ist die Witwe des verstorbenen Clubgründers John Teller und die Frau des Präsidenten Clay Morrow. Ihr Sohn Jax Teller, der im Mittelpunkt der Serie steht, ist Vizepräsident des Clubs.
Gemma ist eine eindrucksvolle Erscheinung, wirkt stark und selbstsicher und ist mit Anfang 50 außerordentlich attraktiv. Sie ist stets perfekt zurechtgemacht, mit Make-Up und Strähnchen, trägt enge Jeans und tiefe Ausschnitte. Sie ist die einzige Frau, vor der alle Männer des Clubs großen Respekt haben und sie zieht im Hintergrund die Fäden, um die ständig drohende Vernichtung des Clubs durch rivalisierende Gangs, die Polizei oder interne Intrigen, abzuwenden.

Die schillernde, bewunderte, verführerische, manipulativ kontrollierende Gemma zeigt dabei Züge einer histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4), d. h. eines überdauernden, durch Egozentrismus und Theatralik geprägten, Erlebens- und Verhaltensmusters. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 mindestens vier der folgenden Merkmale zeit- und situationsübergreifend vorliegen:

  • dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen 
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch andere oder durch Ereignisse/Umstände
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisches Erscheinen oder Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen

Der theatralische, übertrieben wirkende Gefühlsausdruck zeigt sich bei Gemma selten in heftigen Gefühlsausbrüchen. Allerdings können diese auch vorkommen, z.B. wenn sie einer jungen Konkurrentin aus Eifersucht mit einem Skateboard die Nase bricht. Häufiger jedoch wird Gemmas dramatisches Gefühlserleben in ihren eigenen Aussagen deutlich: Familie und Club seien ihr Leben, sie würde töten um sie zu schützen, lieber sterben als ihre Enkel nicht mehr zu sehen, etc.
Durch andere besonders beeinflussbar ist Gemma hingegen nicht, vielmehr manipuliert sie ihrerseits gekonnt und rücksichtslos alle möglichen anderen, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei zeigt sie ein breites Spektrum intensiver Gefühle, welche sich dem Zuschauer aber häufig als aufgesetzt und kalkuliert offenbaren.
Eine ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten (Sensation Seeking) können wir in Gemmas direktem Verhalten nicht grundsätzlich feststellen, eine zwischenzeitliche Phase von exzessivem Alkoholkonsum und ausschweifender Promiskuität erweist sich als nur vorübergehend.
Allerdings können wir wohl ein unbewusstes Sensation Seeking-Motiv darin erkennen, dass Gemma sich immer wieder an Männer bindet, die kriminellen und gewalttätigen Gangs vorstehen, und dass sie, im Gegensatz zu den anderen Frauen des Clubs, beim Spiel mit Gewalt, Drogen, Waffen, Prostitution, Betrug, Mord und Vertuschung kräftig aktiv mitmischt. Alltagsroutine droht da nicht.
Durch diese herausgehobene Position sichert sich Gemma auch die bewundernde, zum Teil regelrecht anhimmelnde, Aufmerksamkeit all der wilden und starken Männer, mit denen sie sich gern umgibt.
Gemmas zweifellos verführerisches Auftreten als unangemessen zu bezeichnen, wäre wohl ein wenig übertrieben. Dass sie aber äußersten Wert auf eine betont weibliche, erotische und jugendliche Erscheinung legt, davon können wir uns in jeder Episode überzeugen. 



Histrionischen Persönlichkeitszügen liegt häufig ein sogenannter ödipaler Konflikt zugrunde, also eine Störung der psychosexuellen Identität, die zu einer Unausgewogenheit in der Wahrnehmung und Verkörperung der eigenen Geschlechtsrolle führt.
Da die inneren Bilder der eigenen und der gegensätzlichen Geschlechtsrolle in der Regel vor allem durch die Beobachtung und Interaktion mit den eigenen Eltern geprägt werden, könnte uns Gemmas Beziehung zu ihren Eltern mehr über ihren inneren Konflikt verraten: Wir erfahren im Verlauf von Sons of Anarchy, dass Gemma kein gutes Verhältnis zu ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Rose hatte. Diese sei ein Kontrollfreak gewesen, habe stets versucht ihren Willen durchzusetzen und sei zu Gemma streng gewesen. Dadurch gab es zwischen Mutter und Tochter viel Streit, bis Gemma schließlich alt genug war, um ihr Elternhaus zu verlassen und sich so dem Einflussbereich ihrer Mutter zu entziehen. Dagegen hegt Gemma gegenüber ihrem Vater Nate starke liebevolle Gefühle. Es wird deutlich, wie sehr sie sich auch als erwachsene Frau noch seine Nähe und Zuneigung wünscht und wie sehr es sie verletzt, dass er sie, inzwischen durch eine Demenz schwer gezeichnet, zeitweise nicht erkennt.

Um eine reife Geschlechtsidentität zu entwickeln bedürfen Mädchen der Mutter zunächst als Vorbild und Identifikationsfigur, mit der sie in späteren Phasen der Entwicklung auch um die Anerkennung des Vaters wetteifern und konkurrieren können. Der „Glanz im Auge des Vaters“ dient dabei als Rückmeldung und Bestätigung.
So wie Gemma ihre Mutter erlebt hat, herrschsüchtig und kontrollierend, mochte sie sich kaum mit ihr identifizieren, auch können wir annehmen, dass Rose der kleinen Gemma wenig Raum für das Experimentieren und Entwickeln einer eigenen Persönlichkeit ließ.Auch Nate konnte sich offenbar gegen die dominante Rose nicht behaupten. Vielmehr unterwarf er sich ihr in passiver Verehrung und hatte daneben wenig Aufmerksamkeit für seine Tochter übrig. Vielleicht zog er sich unbewusst auch deshalb von Gemma zurück, weil er ahnte, dass da eine zweite Rose heranwuchs, wo er es ja mit einer schon schwer genug hatte. 
Und tatsächlich, wenngleich Gemma nach Kräften gegen ihre Mutter und das familiäre Machtgefüge anzukämpfen versuchte, unbewusst übernahm sie doch die Rollenbilder die ihr vorgelebt wurden: So wurde sie selbst zu einer alles kontrollierenden, manipulativen Über-Mutter und obwohl die Männer die sie als Partner wählt nach außen hin Stärke und Männlichkeit verkörpern, hält sie sie in ihrem Innern doch für so schwach und verletzlich, dass sie getrieben ist von der ständigen Sorge um sie und dem verzweifelten Wunsch, sie zu beschützen.

Gemmas betont weiblich-verführerisches Auftreten können wir demnach als Reinszenierung des Versuchs des kleinen Mädchens sehen, in der Rolle der Frau um den Stolz und die Anerkennung des Vaters zu werben. Tragisch dabei ist, dass Gemma, bei all der Resonanz, die sie von der Männerwelt erhält (vom offenen Stolz ihres Mannes Clay auf die Schönheit und Stärke seiner „Old Lady“, über den bewundernden Respekt der Clubmitglieder und deren heimliche ödipale MILF-Fantasien, bis hin zu der bedingungs- und anspruchslosen Verehrung des örtlichen Polizeichefs Wayne), von ihrem Vater, der zwischen dementer Umnachtung und dem Festklammern an der Erinnerung an seine verstorbene Frau gefangen scheint, noch immer kaum wahrgenommen wird.

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