Podcast Folge 02 – The Big Bang Theory

In der zweiten Folge des Charakterneurosen-Podcasts besprechen Dr. Gebele und Herr Andreas die Serie The Big Bang Theory. Wir lernen etwas über Autismus, das Asperger-Syndrom, soziale Phobien, Mutismus, Mutter-Kind-Symbiosen und selbstunsichere Persönlichkeiten. Außerdem geht es um grüne Psychopharmakologie, weiße Cuokolade, rote Inder und blasse Biere

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Mr. Robot: Elliot

SPOILERWARNUNG: Wer die erste Staffel von Mr. Robot noch nicht bis zum Ende gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen, da der Text überraschende Wendungen zum Ende der Staffel vorwegnimmt.

Elliot Alderson aus Mr. Robot hat zunächst eine recht typische soziale Phobie, das heißt er hat Angst vor sozialen Situationen, also Essenseinladungen, Small-Talk usw. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F40.1) ist diese durch die folgenden Symptome definiert: 
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten, Zittern, Schwitzen etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Elliots Vermeidungsverhalten, also sein weitgehender sozialer Rückzug, macht ihn jedoch so einsam, dass er seine Gefühle mit Drogen dämpfen muss. Dadurch gerät er in einen Teufelskreis aus Angst, Vermeidung und Selbstvorwürfen. Elliot nimmt vor allem Morphin, ein stark wirksames Schmerz- und Betäubungsmittel aus der Gruppe der Opioide, ein, konsumiert aber auch Cannabis, Extasy und das ebenfalls opioidhaltige Entzugsmittel Suboxone. Während er die leichteren Drogen scheinbar eher unter Kontrolle hat, zeigt Elliot deutliche Anzeichen einer Opioidabhängigkeit (ICD-10: F11.2):
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung von Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Die erwünschte Wirkung der Drogen ist natürlich immer nur vorübergehend. Als zu dieser ohnehin sehr belastenden Situation auch noch immer mehr Stress hinzukommt, entwickelt Elliot eine multiple Persönlichkeitsstörung. Diese schwere und seltene Störung wird diagnostiziert, wenn die folgenden Kriterien vorliegen (ICD-10: 44.81):
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Elliot erfüllt diese Kriterien. Dass beide Persönlichkeiten gleichzeitig aktiv sind und auch noch so lebhafte Dialoge führen, wie das in Mr. Robot dargestellt wird, ist dagegen eher unrealistisch.  

Dass Elliots multiple Persönlichkeitsstörung ausbricht, hängt maßgeblich mit der Angst und dem Stress zusammen, die er aufgrund seiner sozialen Phobie hat. Auch der Drogenmissbrauch könnte hierzu beigetragen haben. Als er sich immer mehr einsam, verlassen und überfordert fühlt, spaltet er einen Teil seiner Persönlichkeit unbewusst innerlich ab. Dieser Persönlichkeitsanteil erhält die Gestalt seines Vaters, vor dem er zwar große Angst hat, den er aber auch als stark und mächtig erlebt hat. Ohne es zu wissen, erhofft er sich von seinem Vater, dass diese seine Probleme löst und die großen Herausforderungen bewältigt.

Dieser Mechanismus, der zwar hoch pathologisch ist, in sich aber dennoch eine gewisse Logik hat, ist ein gutes Beispiel dafür, dass psychiatrische Symptome, so eigenartig sie auch wirken mögen, sehr häufig auch eine bestimmte Funktion erfüllen. Man nennt dies Krankheitsgewinn. Nur ist es im echten Leben meist so, dass der psychische und/oder soziale Schaden, der für die betroffene Person dadurch entsteht, schnell den Nutzen überwiegt.
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Monk: Adrian Monk



Adrian Monks Biographie ist durch mehrere schwere Verlusterlebnisse gekennzeichnet, die in ihm eine tiefe Verunsicherung und Angst sowie ein überwertiges Bedürfnis nach Sicherheit und Verlässlichkeit ausgelöst haben. Psychopathologisch schlägt sich dies in der Kombination einer Phobischen Störung und einer Zwangsstörung nieder.

Monk hat eine Vielzahl spezifischer Phobien (ICD-10: F40.2). Diese Störungen zeichnen sich dadurch aus, dass in einer spezifischen Situation (z.B. Zahnarztbesuch) oder durch einen spezifischen Reiz (z.B. Schlangen) starke psychische Angst und vegetative Angstsymptome (z.B. Herzrasen, Schwindel, Schwitzen) ausgelöst werden. Zentral für die Diagnose ist auch, dass die Angst in diesem Maße nur durch den/die spezifischen Reiz/e ausgelöst wird und nicht in beliebigen Situationen oder ohne Auslöser auftritt. Die phobische Angst führt dazu, dass der/die angstbesetzte Reiz/Situation, wann immer möglich, und oft unter hohen Kosten, vermieden wird, wodurch Monk immer wieder in skurrile und gefährliche Situationen gerät.
Außerdem leidet Monk unter einer Zwangsstörung, bei der Zwangshandlungen, sogenannte Zwangsrituale, im Vordergrund stehen (ICD-10: F42.1). Das bedeutet, Monk muss bestimmte Rituale, z.B. das symmetrische Anordnen von Gegenständen oder das Trinken von nur einer bestimmten Sorte Sodawasser, streng einhalten und wiederholt durchführen. Dabei weiß Monk, dass dieser Zwang ein psychisches Symptom ist und nicht etwa eine reale Gefahr entsteht, wenn er z.B. ein anderes Wasser trinkt. Darin unterscheidet sich die Zwangsstörung von einer wahnhaften Störung, bei der die Realitätswahrnehmung beeinträchtigt wäre. Charakteristisch, wenn auch vielleicht etwas überzeichnet, ist, dass Monk immer wieder einen hohen Preis an alltäglicher Effizienz und sozialer Funktionalität zahlt, um seine Zwangsrituale einzuhalten.
 
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Orange Is the New Black: Mr. Caputo



In der dritten Staffel von Orange Is the New Black lernen wir Gefängnisdirektor Joe Caputo besser kennen und erfahren unter anderem – Achtung: Spoiler 😉 – dass er nicht in Gegenwart anderer Pinkeln kann. Dieses Phänomen – Paruresis genannt – ist gar nicht mal so selten. Schätzungen zufolge sind ca. sieben Prozent der Bevölkerung betroffen, neun von zehn Betroffenen sind Männer.

Die Paruresis zählt zu den Sozialen Phobien, welche nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F40.1) gekennzeichnet sind durch:
  • Furcht vor bestimmten sozialen Situationen, oft im Zusammenhang mit einer befürchteten sozialen Bewertung
  • Vermeidung der angstbesetzten Situation



So vermeidet es auch Mr. Caputo gleichzeitig mit anderen Männern am Urinal zu stehen und muss, falls es doch passiert, die Situation unter fadenscheinigen Ausreden und unverrichteter Dinge wieder verlassen.

Neben körperlichen Funktionsstörungen kommen eine Reihe psychischer Ursachen für Paruresis infrage, allerdings ist die Störung bisher nur wenig erforscht. Dass deutlich mehr Männer als Frauen betroffen sind, könnte mit der größeren Öffentlichkeit auf Herrentoiletten oder der hohen identitätsstiftenden Bedeutung eines voll funktionsfähigen Penis zu tun haben. Letzterer scheint ja auch für das Selbstbild von Joe „Anaconda“ Caputo eine große Rolle zu spielen.

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The Sixth Sense: Cole

Der kleine Cole sieht tote Menschen – und fürchtet sich vor ihnen.
Dass ein Kind Angst vor Geistern hat, ist per se nicht unnormal, allerdings sind Coles Ängste ausgesprochen heftig und beeinträchtigen sein Leben massiv. Außerdem zeigt er eine, für einen Neunjährigen, auffallend gering ausgeprägte Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen. 
Die von dem Kinderpsychologen Dr. Crowe anfänglich geäußerte Verdachtsdiagnose einer emotionalen Störung ist demnach zutreffend. Cole leidet unter einer phobischen Störung des Kindesalters, die nach ICD-10 (F93.1) definiert ist als: Anhaltende oder wiederkehrende Angst (Phobie), die zwar entwicklungsphasenspezifisch ist (oder zum Zeitpunkt des Beginns war), die aber übermäßig ausgeprägt und mit deutlichen sozialen Beeinträchtigungen verbunden ist.

Warum sieht Cole tote Menschen? Oder anders gefragt: Warum hat Cole seine Angst vor Geistern noch nicht überwinden können, wie die meisten anderen Neunjährigen? 
Angst vor Geistern (Hexen, Monstern, Krokodilen…) ist Angst vor dem alleine sein. Wenn die Eltern im Zimmer sind, oder hineinkommen, ist die Angst meist schnell wieder weg. So geht es auch Cole: Selbst wenn er die toten Menschen weiterhin sieht, machen sie ihm keine Angst mehr, sobald seine Mutter oder Dr. Crowe im Raum sind.
In dieser Angst vor dem alleine sein spiegelt sich die reale Erfahrung jedes Neugeborenen und Kleinkindes wider, von der Mutter und später auch anderen Erwachsenen existenziell abhängig zu sein. Wenn das Kind dann die Erfahrung macht, von den Erwachsenen verlässlich beschützt und versorgt zu werden, entsteht das sogenannte Urvertrauen. Damit ist eine tendenziell optimistische Haltung gegenüber der Welt, den Menschen und sich selbst gemeint, welche die Grundlage für das Gefühl der Selbstwirksamkeitdarstellt, also die Erwartung, Situationen und auch eigene Emotionen erfolgreich beeinflussen und bewältigen zu können. Ist diese grundlegende Fähigkeit vorhanden, können sich Kinder immer neuen altersspezifischen Ängsten (Entwicklungsaufgaben) stellen und durch deren Bewältigung ein weiteres Stück unabhängiger von den Eltern werden.
Coles Entwicklung aber ist ins Stocken geraten. Er kann die Angst vor dem alleine sein erst im Verlauf des Films überwinden. Bis zu einem gewissen Punkt scheint seine Entwicklung ganz passabel verlaufen zu sein, was dafür spricht, dass er zunächst Gelegenheit hatte, ein grundlegendes Urvertrauen auszubilden, welches dann aber erschüttert wurde.
Vieles spricht für Dr. Crowes Hypothese, dass die ausschlaggebende Situation die Trennung von Coles Eltern war. Sein Vater hat die Familie verlassen und da Cole nicht weiß warum, kann er nicht ausschließen, dass er als Sohn versagt und den Vater enttäuscht hat. Die Mutter wurde daraufhin psychisch krank (wahrscheinlich depressiv), die Behandlung blieb erfolglos. Cole behauptet, sich nicht daran erinnern zu können, ob er bereits vor der Trennung der Eltern tote Menschen gesehen habe. Am wahrscheinlichsten ist, dass er als Kleinkind schonmal Angst vor Geistern oder ähnlichem hatte, diese dann überwunden hat und auf das Trennungstrauma mit Regression, das heißt mit dem Rückfall auf eine frühere emotionale Entwicklungsstufe, reagiert.
Dafür spricht auch, dass Coles kindliche Angst vor Geistern, und seine Hilflosigkeit im Umgang damit, in auffallendem Widerspruch zu seiner Gesamtpersönlichkeit stehen. Wenn er nicht gerade in Panik verfällt, wirkt er ausgesprochen intelligent, eloquent, rational und reflektiert. Kurz: Er wirkt wie ein kleiner Erwachsener.

Das hat einen Grund: Cole ist parentifiziert. Das bedeutet, dass sich die Eltern-Kind-Beziehung zwischen Cole und seiner Mutter umgekehrt hat.
Nach der Trennung der Eltern steht er alleine da, mit einer Mutter, die nicht nur traurig, sondern auch impulsiv, orientierungslos und affektlabil ist – wie ein kleines Kind. Sie schafft es nicht, trotz ihrer eigenen Trauer noch für ihren Sohn da zu sein, sondern erwartet von diesem (zumindest unbewusst), dass er nun statt des treulosen Ehemannes (und des enttäuschenden Psychotherapeuten) für sie da ist. In ihrer Aussage, ihre Gebete seien nie erhört worden und daher müssten Cole und sie nun ihre Gebete gegenseitig erhören, kommt das direkt zum Ausdruck.
Auf die Ängste ihres Sohnes reagiert sie entweder wütend, weil sie sich belogen fühlt, oder selbst hochgradig panisch, was sein Vertrauen in die Bewältigbarkeit von Ängsten weiter schwinden lässt.

Das Muster der Parentifizierung bildet sich auch in der Beziehung zu Dr. Crowe ab. Wegen seiner eigenen Eheprobleme ist er immer wieder versucht, Coles Fall abzugeben. Doch Cole schafft es, Dr. Crowe an sich zu binden, indem er auch diesen dazu bringt, ihm gegenüber die eigenen Probleme offenzulegen, was Dr. Crowe eigentlich als Kunstfehler betrachtet. Dies gelingt Cole durch ebenjene erwachsen wirkende Art, weil sie Dr. Crowe, in seiner eigenen Bedürftigkeit, die Tatsache verdrängen lässt, dass hier ein krankes Kind seine Hilfe braucht, und nicht umgekehrt.

Cole ist kein „Psycho“ (wie ihn die anderen Kinder nennen) weil er Angst vor Geistern hat, sondern weil ihm eine Aufgabe zugemutet wird, die völlig unangemessen und maximal überfodernd ist.
Er bemüht sich nach Kräften, erwachsen und vernünftig zu sein, was bei den Gleichaltrigen naturgemäß nicht gut ankommt. Dass er Mitschüler bezahlt, um der Mutter vorzumachen, er sei integriert, damit diese sich besser fühlt, lässt ihn vor jenen noch verrückter dastehen. 

Weil er lernen musste, die Gefühle von Erwachsenen zu deuten um darauf reagieren zu können, ist er in der Lage, seinen Lehrer so zu verletzen, dass sogar dieser ihn schließlich vor der Klasse als „Psycho“ beschimpft.
Dass Cole für das ständige Zurückstellen seiner altersgemäßen Bedürfnisse mit kompensatorischen infantilen Ängsten bezahlt, macht ihn noch zusätzlich zum Gespött der Gleichaltrigen, welche den pathologischen Kontrast zwischen der altklugen Ernsthaftigkeit und der bis zur Ohnmacht führenden Panik intuitiv erkennen.

Im Film bewältigt Cole die übergroßen Aufgaben zu guter Letzt: Er erkennt, dass auch die Geister (Wie könnte es anders sein!) nur seine Hilfe wollen, und beginnt damit, sich erfolgreich um sie zu kümmern. Er löst Dr. Crowes Eheprobleme, indem er ihm hilft die Wahrheit zu erkennen. Und er heilt zumindest eine der Wunden seiner Mutter, indem er ihr berichten kann, dass ihre eigene Mutter damals doch bei ihrer wichtigen Schulaufführung gewesen ist.
In Wahrheit wäre es wohl besser gewesen, die Mutter hätte einen zweiten psychotherapeutischen Behandlungsversuch unternommen und so vielleicht die Kraft gefunden, zu Coles Schulaufführung zu kommen.

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The Big Bang Theory: Raj



Der Astrophysiker Dr. Rajesh „Raj“ Koothrappali kann nur mit Frauen sprechen, wenn er betrunken ist, oder denkt, es zu sein. Ausnahmen sind enge Verwandte, wie seine Mutter und seine Schwester. 

Eine selektive Sprachhemmung in bestimmten Situationen wird im ICD-10 als elektiver Mutismus (F94.0) bezeichnet und ist durch folgende Kriterien definiert: 
  • Nachweisbare beständige Unfähigkeit, in bestimmten sozialen Situationen, in denen dies erwartet wird, zu sprechen. In anderen Situationen ist das Sprechen möglich
  • Dauer des elektiven Mutismus länger als vier Wochen
  • Es liegt keine tiefgreifende Entwicklungsstörung vor
  • Sprachausdruck und Sprachverständnis liegen im altersentsprechenden Normalbereich.
  • Die Störung beruht nicht auf fehlenden Kenntnissen der gesprochenen Sprache, die in den sozialen Situationen erwartet wird
Die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen, nämlich gegenüber Frauen, zu sprechen, als Kernmerkmal der Störung, ist bereits genannt. Die Symptomatik dauert bereits deutlich länger als vier Wochen an, wahrscheinlich schon immer. Eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die ebenfalls die sprachliche Kommunikation stark beeinträchtigen kann, liegt nicht vor. Als solche gilt unter anderem das Asperger-Syndrom (F84.5) unter dem Sheldon Cooperleidet.
Rajs sensorische und motorische Sprachfähigkeit ist altersgemäß, nämlich vollständig, ausgebildet und obwohl er einen indischen Akzent hat, spricht er gut genug Englisch, um sich in angstfreien Situationen adäquat zu verständigen. Die dem Mutismus zugrunde liegende Störung ist in Rajs Fall eine soziale Phobie (F40.1):
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten oder Zittern etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Die gefürchtete Situation ist für Raj eben das Sprechen mit Frauen, insbesondere dann, wenn diese, zumindest theoretisch, als Sexual- und Beziehungspartnerinnen in Frage kommen.
Die Gestaltung sozialer Beziehungen wird grundlegend geprägt durch die ersten wichtigen Beziehungspersonen. Dies sind in der Regel zunächst die Eltern. Rajs Eltern sind in Indien erfolgreich und hoch angesehen und offenbar legen sie großen Wert auf Etikette und Tradition. Mit Rajs Beruf als Astrophysiker und vor allem mit seinem Gehalt, sind die Eltern unzufrieden, vermutlich hätten sie sich gewünscht, dass er in die beruflichen Fußstapfen seines Vaters tritt und Gynäkologe wird. Die Mutter ist überaus bestimmend, drängt Raj, sich baldmöglichst zu verheiraten, wobei sie klare Vorstellungen von einer standesgemäßen Ehefrau hat und amerikanische Frauen pauschal ablehnt.
Wir sehen: Raj kann es seinen Eltern kaum recht machen. Da familieninterne Beziehungsdynamiken häufig sehr stabil sind, liegt es nahe, dass Raj bereits mit hohen Erwartungen und unverhohlener Enttäuschung seiner Eltern aufgewachsen ist.
Es scheint als habe er sich vor den überhöhten Anforderungen immer wieder geflüchtet: Zunächst in die Fantasiewelt von Comics und Science Fiction, später, im Studium, in die Betrachtung der unendlichen Weiten des Weltraums und schließlich, als sich die Gelegenheit bot, in die USA.
Doch auch am anderen Ende der Welt (und auch wenn seine Eltern nicht regelmäßig per Videochat Kritik an ihm üben und ihn mit seiner finanziellen Abhängigkeit zu beeinflussen versuchen würden) kann Raj dem Selbstbild, welches seine Eltern ihm über Jahre hinweg vermittelt haben, nicht entfliehen: Ständig zweifelt er daran, liebenswert zu sein und wird von der Angst heimgesucht, auf ewig einsam bleiben zu müssen.
Da eine solche Angst nur schwer auszuhalten ist, muss sie immer wieder aus dem Bewusstsein verdrängt werden, damit Raj überhaupt in der Lage ist, sich auf die Bewältigung seines alltäglichen Lebens zu fokussieren und nicht in Verzweiflung zu versinken. Den psychischen Mechanismus, durch den schwierige emotionale oder kognitive Inhalte ins Unbewusste verdrängt werden, nennt man Abwehr. Der spezifische Abwehrmechanismus, der in Rajs Fall zum Tragen kommt, heißt Verschiebung. Die globalen Ängste, Minderwertigkeits- und Schamgefühle werden auf eine spezifische Situation oder ein spezifisches Objekt verschoben, um in anderen Situationen freier und sicherer agieren zu können. Allerdings geht damit eine potenzierte phobische Angst vor der Situation bzw. dem Objekt einher, auf welches all die Ängste und Befürchtungen verschoben worden sind.
Hierfür findet die Psyche oft Objekte, welche bereits mit einer gewissen Angst besetzt sind, z.B. Spinnen oder Schlangen, welchen gegenüber der Mensch, aufgrund ihrer potentiellen Giftigkeit, eine evolutionär determinierte Prädisposition zur Angst aufweist (welche man Preparednessnennt).

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Rajs Ängste sich auf Frauen und die Beziehungsaufnahme mit ihnen konzentrieren: Rajs erste und bisher wichtigste weibliche Bezugsperson war seine Mutter, welche ihn im Laufe seines Lebens immer wieder kritisiert, beschämt und gekränkt hat und ihn sich ständig unzureichend fühlen lässt.
Ähnlich verhält sich sein Vater. Dieser ist außerdem Gynäkologe, also ein wahrer Frauenkenner, gegen den Rajs erste, unbeholfene Versuche, mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen, diesem besonders unbeholfen und beschämend erschienen sein müssen.
Somit bezieht sich Rajs phobische Angst vor Frauen gar nicht auf diese selbst, sondern stellt vielmehr einen neurotischen Kompromiss dar, welcher es ihm ermöglicht, trotz großer Selbstzweifel, Schamgefühle und Versagensängste ein weitgehend unbeeinträchtigtes und in einigen Bereichen sogar recht erfolgreiches Leben zu führen.
Folglich überrascht es nicht, dass er seine Phobie schnell überwindet, nachdem er zum ersten Mal eine fremde Frau (Lucy) wirklich persönlich kennengelernt hat. Die Konfrontation mit deren Ängsten, welche Rajs ähnlich sind, lässt sie für Raj als echten Menschen und die Begegnung mit ihr auf Augenhöhe erscheinen. Und davor muss er keine Angst haben – oder zumindest nur so viel, wie jeder andere Mann auch.
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