Musik-Therapie: Holding

„Bist du nicht müde
Nach so vielen Jahren?
Weißt deine Fragen nicht mehr
Kriegst keinen klaren Satz zusammen
Redest wirres Zeug
Erstickst an den Worten
Setzt deine Träume aus
An trostlosen Orten…
Gib mir das, ich kann es halten
Gib mir das, ich kann es halten.“

Wir sind Helden: Bist Du nicht müde

 

Das psychotherapeutische Konzept des Holding (Halten, Halt-Geben) geht auf den englischen Kinderpsychiater Donald W. Winnicott zurück, der es aus der Beobachtung von Müttern entwickelte, die ihre kleinen Kinder beruhigen, indem sie sich ihnen aufmerksam zuwenden, sie halten, auf den Arm nehmen und ruhig und melodisch mit ihnen sprechen.

In ähnlicher Weise können Therapeut*innen ihren Patient*innen dabei helfen, starke unangenehme Gefühle auszuhalten und zu bewältigen, indem sie sich ihnen mit einer Haltung von Ruhe, Akzeptanz, Interesse und Nicht-Bewertung zuwenden und diese auch bei starken Gefühlen und schwierigem Verhalten konsequent und verlässlich aufrecht erhalten. So entsteht zunächst die Erfahrung, dass selbst diese Gefühle grundsätzlich aushaltbar und bewältigbar sind und letztlich, dass auch ich dazu in der Lage bin.

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Safe (ZDF): Resilienz und Selbstwirksamkeit

Foto: ZDF/Julia Vietinghoff

Es ist ein Geschenk, dass mich fast jeden Wochentag mit Freude und Dankbarkeit erfüllt, meinen Lebensunterhalt mit etwas verdienen zu können, was derart erfüllend, sinnvoll, interessant, abwechslungsreich und spannend ist, wie Psychotherapie. Ich fühle mich da oft, wie Ernest Lash, der Protagonist aus Irvin D. Yaloms großem Psychotherapieroman Lying on the Couch (Die rote Couch):

Ernest liebte es, Psychotherapeut zu sein. Tag für Tag ließen ihn seine Patienten in den verborgensten Winkeln ihres Lebens stöbern, Tag für Tag tröstete er sie, teilte ihre Sorgen und linderte ihre Verzweiflung. Wofür er seinerseits bewundert und gehätschelt wurde. Und auch bezahlt, obwohl er auch ohne Honorar als Therapeut gearbeitet hätte, wenn er auf das Geld nicht angewiesen gewesen wäre.

Glücklich der, der seine Arbeit liebt. Und Ernest schätzte sich tatsächlich glücklich. Mehr als glücklich. Gesegnet. Er war ein Mann, der seine Berufung gefunden hatte – ein Mann, der sagen konnte, ich bin genau da, wo ich hingehöre, im Auge des Sturms, wo meine Talente, meine Interessen, meine Passionen gebündelt sind.

Ernest war kein religiöser Mensch. Aber wenn er morgens seinen Terminkalender aufschlug und die Namen der acht oder neun Lieben sah, mit denen er den Tag verbringen würde, wurde er von einem Gefühl überwältigt, das er nur als religiös bezeichnen konnte. In diesen Momenten verspürte er ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit allem gegenüber, das ihn zu seiner Berufung geführt hatte.“

Kein Wunder, dass unser Beruf, der sich sowohl um die alltäglichen als auch um die fast unglaublichen wahren Geschichten im Leben von Menschen dreht, immer auch schon interessant als Schablone für spannende fiktionale Geschichten war.

In Filmen des zwanzigsten Jahrhunderts war das Bild von psychotherapeutischen und psychiatrisch Tätigen dabei noch meist von Ängsten und Befürchtungen geprägt, die mit der Vorstellung eines so tiefen und exklusiven Vertrauensverhältnisses, wie es Psychotherapien erfordern, verbunden sein können: Psychiater und Psychotherapeuten waren meist nicht nur weiß, männlich und alt, sondern überdies in der Regel selbst mehr oder weniger verrückt. Von vertrottelten Neurotikern bis zu manipulativen Serienmördern und Menschenfressern (hier ein Review dazu: www.psychiatrictimes.com/articles/stigma-continues-hollywood).

In den moderneren Filmen und Serien des 21. Jahrhunderts hat sich die fiktionale Kolleg*innenschaft diversifiziert und ist realistischer geworden: Meist sind die Psychotherapeut*innen einigermaßen kompetent und wohlwollend, häufig haben sie eher „normale“ Probleme im Privatleben, die mit der gruseligen Mysthifizierung des Berufsstandes brechen und die Psychotherapeut*innen menschlich und relateable machen.

Eine besonders realitätsnahe Darstellung psychotherapeutischer Arbeit und auch der dazugehörigen Reflexionsprozesse ist dem ZDF mit Safe geglückt. Zudem zeigt die Serie Kinder- und Jugendlichentherapien, was recht selten ist, meist sind in Serien Erwachsene die Patient*innen. Die Darstellung der psychoanalytisch ausgerichteten Therapien in der Serie ist sogar so realistisch, dass Kolleg*innen sie zum Teil empfunden haben, als würde man sich selbst bei der Arbeit zusehen. Ein bisschen ging es mir auch so.

Ganz besonders hat mich natürlich die Szene gefreut, in welcher der Therapeut Tom einen Film nutzt, um seinem jugendlichen Patienten Sam etwas zu vermitteln: „Nichts steht geschrieben!“ sagt Lawrence von Arabien in dem gleichnamigen Filmklassiker von 1962 und widerspricht damit seinen fatalistischen Gefährten, die es für aussichtslos halten, den in der unbarmherzigen Wüste verschollenen Kameraden noch retten zu wollen. „Es (das Schicksal) steht geschrieben“ sagen sie. „Nichts steht geschrieben“ entgegnet Lawrence.

Dieses Zitat soll Sam veranschaulichen, dass auch sein Schicksal nicht vorherbestimmt und festgelegt ist. Ja, eine Vulnerabilität, d.h. ein gewisses Risiko bestimmte, auch psychische, Krankheiten zu entwickeln, ist genetisch determiniert und wird somit vererbt. Aber eben nur im Sinne einer erhöhten statistischen Wahrscheinlichkeit. Ebenso sind Temperament und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, wie Sams Impulsivität, in der Tendenz angeboren.

Welche Persönlichkeit ein Mensch jedoch letztendlich ausbildet und ob eine bestimmte Krankheit, in Sams Fall vielleicht eine Depression oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, tatsächlich ausbricht, hängt auch noch von anderen, biographisch-sozialen Faktoren, wie z.B. den frühen Bindungserfahrungen ab. Man spricht daher vom bio-psycho-sozialen Modell von Krankheit bzw. Gesundheit. (bio = vererbte genetische Anlagen, psycho = angeborene Temperaments-/Persönlichkeitseigenschaften, sozial = prägende biographische Ereignisse und Lebensumstände).

Wenn ein Kind bspw. seine frühe soziale Umwelt als sicher und verlässlich erlebt, entwickelt es Urvertrauen in sich selbst und andere, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert und wird dadurch resilienter, d.h. widerstandsfähiger, auch gegen psychische Erkrankungen. Und letztlich spielen auch die Lebensumstände in der späteren Entwicklung eine Rolle: Chronischer Stress, Armut, Gewalterfahrungen und andere traumatische Erlebnisse wirken sich ungünstig auf die Gesundheit im Allgemeinen aus und können den Ausbruch von Krankheiten triggern.

Nun scheint es für Sam auf allen Ebenen – Genetik, frühe Bindungen und spätere Lebensereignisse – nicht gerade günstig auszusehen: Seine Eltern waren offenbar beide psychisch krank, die Mutter verlor er durch Suizid und er hat viel Ablehnung und Kritik aufgrund seiner Impulsivität und Regelverstöße erfahren. Genau darum ist das Filmbeispiel, das Sams Therapeut in Safe wählt, so passend: Auch für Lawrence von Arabien stehen die Chancen nicht gut. Und dennoch steht das Schicksal nicht geschrieben! Lawrence kann hier und jetzt seine persönlichen Ressourcen – Mut, Entschlossenheit, Reitkunst… – in die Waagschale werfen, um das Unwahrscheinliche möglich zu machen. Ebenso kann auch Sam sich entscheiden, kein Schläger oder Dieb zu sein und sich bei aller Frustration und Verzweiflung nicht umzubringen. Er kann die Hilfe seines Therapeuten und seiner Pflegeeltern annehmen und mit Mut, Entschlossenheit und Offenheit auf das Mädchen zugehen, das er mag. Er kann, um es mit Sensei Johnny Lawrence aus Cobra Kai zu sagen, „das Drehbuch umschreiben (flip the script)“, oder, in den Worten eines der lebensweisesten Philosophen aller Zeiten, des Stoikers Epiktet: „Vergegenwärtige dir einen Charakter, ein Musterbild, wonach du zu leben dir vornimmst, sowohl im privaten, als im öffentlichen Leben“ und sich somit selbst das Drehbuch, die Leitlinie seines eigenen Lebens – auch angesichts widriger Umstände – kreieren.

Der amerikanische Psychotherapeut Stanton Samenow, auf dessen Buch über Psychotherapie mit Straftäter*innen sich sogar Dr. Melfi in den Sopranos bezieht, hält auf seinem Blog selbst für dieses sicher sehr schwierige Patient*innenklientel fest: Es gibt immer Hoffnung auf Veränderung (hier der Link zum Post: www.psychologytoday.com/intl/blog/inside-the-criminal-mind/202102/does-psychotherapy-make-criminals-worse)

Fazit: Nicht nur wegen dieser sehr gelungenen Therapiesequenz ist Safe absolut sehenswert. Das zumindest steht geschrieben!

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Momo: Depression und Achtsamkeit

„Sparen Sie Zeit“ – wie zeitlos aktuell klingt dieser Imperativ der grauen Herren aus Michael Endes bereits 1973 erschienenen Roman Momo. Von Beschleunigung, Effizienzsteigerung, Prozess- und Selbstoptimierung können wie ein Lied singen. Die allgegenwärtige Begleitmusik spielen Consultants, Coaches und Influencende. Wie auch bei den Bewohnern von Momos Heimatstadt bleibt zu unserer beständigen Überraschung von der so effizient eingesparten Zeit überhaupt nichts übrig. Vielmehr haben wir doch nie genug (Zeit).
Dass ein Leben unter chronischem Zeitstress krank macht, wusste Michael Ende und weiß die psychologisch Forschung seit langem (nachzulesen u.a. in dem Ergebnisbericht des Forschungsprojektes zur Untersuchung arbeitsbedingter Ursachen von Depressionen, in dem ich seinerzeit promoviert habe).
In Momo beschreibt Meister Hora es so: 
 
Man hat eines Tages keine Lust mehr, irgendetwas zu tun. Nichts interessiert einen. Man ödet sich. Aber diese Unlust verschwindet nicht wieder, sondern sie bleibt und nimmt langsam immer mehr zu. Sie wird schlimmer von Tag zu Tag, von Woche zu Woche. Man fühlt sich immer missmutiger, immer leerer im Inneren, immer unzufriedener mit sich und der Welt. Dann hört nach und nach sogar dieses Gefühl auf und man fühlt gar nichts mehr. Man wird ganz gleichgültig und grau. Die ganze Welt kommt einem fremd vor und geht einen nichts mehr an. Es gibt keinen Zorn mehr und keine Begeisterung. Man kann sich nicht mehr freuen und nicht mehr trauern. Man verlernt das Lachen und das Weinen. Dann ist es kalt geworden in einem und man kann nichts und niemanden mehr liebhaben.

Die Kernsymptome einer depressiven Störung nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F32):  

  • Negative Gestimmtheit
  • Freud-/ und Interessensverlust
  • verringerter Antrieb 
werden hier klar benannt. 
Außerdem häufige Begleitsymptome wie innere Leere, das Gefühl von Gefühllosigkeit oder emotionaler Taubheit, Entfremdung, sozialer Rückzug und Selbstwertverlust.
 
Anders als Meister Hora es Momo sagt, ist die „tödliche Langeweile“ jedoch nicht unheilbar. Depressionen sind behandelbar! Psychotherapie wirkt. Auch Sport und Meditation können positive Effekte haben. Bei schweren Verläufen können Medikamente ergänzend zur Psychotherapie hilfreich sein. 
 
Momo selbst ist eine gute Zuhörerin und ist, wie wir im Roman erfahren eine ziemlich gute Psychotherapeutin, wenngleich sie sich so selbst nicht nennen würde:  
 
Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zuhören. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!
 
 
Auch die Kunst des Innehaltens und der Achtsamkeit, die Basis der meisten wirksamen Meditations- und Entspannungstechniken, und quasi das Gegenmittel gegen Zeitsparen und Entfernung (sofern wir von einer fundierten und ernsthaft verinnerlichten Haltung und Praxisund nicht von Selbstoptimierungsposen reden) finden wir im Roman veranschaulicht, wenn Beppo Straßenkehrer seiner täglichen Arbeit nachgeht:
Beppo liebte diese Stunden vor Tagesanbruch, wenn die Stadt noch schlief. Und er tat seine Arbeit gern und gründlich. Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig, Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich. Schritt, Atemzug, Besenstrich. Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin.
Momo ist ein zeitloses und hervorragendes Buch über das moderne Leben. Über Freundschaft, Gesellschaft, Arbeit, Zeit und Gesundheit. 
Ein besseres Lehrbuch für Psychotherapeut*innen, als so manche Fachpublikation. 
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13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 4

Während ich mir die ersten acht Folgen der vierten Staffel von 13 Reasons Why anschaute, fragte ich mich, ob es im Writers Room diesen Moment gab, wo eine der Autor*innen einen Witz machen wollte und sagte: „Hey, ich hab eine Idee: Wie wär’s, wenn wir einfach mal billigsten Teenage-Slasher-Trash machen und am Ende kommt raus, dass der Protagonist die ganze Zeit eine dissoziative Persönlichkeitsstörung hatte?“ Dann fanden alle, dass das eine super originelle Idee sei und sie hat sich nicht mehr getraut zu sagen, dass es nur ein schlechter Witz war. Zumindest kann ich mir anders dieses Ergebnis nicht erklären. 
Daher möchte ich auch auf die dissoziative Persönlichkeitsstörung, die hier in der denkbar unoriginellsten Weise erzählt wird, nicht weiter eingehen. Mehr über dieses Störungsbild – das, anders als uns in 13 Reasons Why weisgemacht werden soll, in der Regel Folge schwerster früher Traumatisierungen ist, worauf es bei Clay sonst keinerlei Hinweise gibt – kann in den Posts über Mr. Robot und Fight Club gelesen und im Podcast zu Mr. Robot gehört werden. Wer noch tiefer in die Materie eintauchen möchte, dem sei der Podcast Vielzimmerwohnung empfohlen.
Zurück zu 13 Reasons Why. Immerhin, die letzten beiden Folgen knüpfen an das Konzept der Staffeln zwei und drei an: Harte Wahrheiten über persönliche Probleme und die gesellschaftlichen Missstände, die sie mitverursachen, und dazu eine gute Portion Empowerment. Das wird am Ende bisweilen etwas kitschig, aber allemal erträglicher, als die ersten 80%. 
Positiv hervorzuheben ist jedoch über die gesamte Staffel die Darstellung von Clays Psychotherapie. Nach den dilletantischen Versuchen eines Mr. Porter, wird hier endlich ein Therapeut gezeigt, der seinen Job beherrscht. Dr. Ellman respektiert, dass Clay lange Zeit nicht bereit ist, sich ihm wirklich zu öffnen, erinnert ihn aber dennoch beständig daran, dass er bereit sein wird zuzuhören, wenn Clay bereit ist, zu reden. In Folge 4 erklärt er Clay, dass dessen Ängste nicht davon weggehen werden, dass er sie zu unterdrücken versucht, sondern dass es die Konfrontation mit den Ängsten ist, die diese letztlich weniger bedrohlich und bestimmend werden lässt. Immer wieder lässt sich Dr. Ellman darauf ein, Clay die Kontrolle über den Prozess zu überlassen, z.B. wenn dieser die Plätze tauschen will, oder ihm persönliche Fragen stellt. Er zeigt Clay damit, dass er nicht irgendein pauschales Therapieprogramm mit ihn durchziehen will, sondern glaubhaft danach strebt, Clay dabei zu unterstützen, seinen ganz eigenen Weg im Umgang mit sei en Problemen und zu einem Leben, in dem er seinen Überzeugungen und seinen eigenen Bedürfnissen gerecht werden kann, zu finden. 
Gegen Ende spürt Dr. Ellman, dass Clay sich ihm endlich anvertrauen möchte, aber weiterhin von seinen Misstrauen gegenüber erwachsenen Autoritätspersonen daran gehindert wird. Er nutzt die Technik der therapeutischen Selbstoffenbarung, indem er Clay von seinen eigenen Problemen als Jugendlicher erzählt, um sich selbst für Clay als echte Person greifbarer zu machen und ihm zu vermitteln, dass Clays Gefühle nicht so abnorm sind, wie dieser denkt. Dadurch wird Clay von seiner Scham und dem Gefühl, so anders zu sein, dass ihn ohnehin niemand verstehen können wird, ein wenig entlastet – genau das nötige Bisschen, um endlich den letzten Schritt zu gehen und seine ganze Geschichte mit Dr. Ellman zu teilen. 
Wichtig bei der therapeutischen Selbstoffenbarung ist, dass sie immer nach dem Grundsatz der therapeutischen Nützlichkeit erfolgen muss, d.h. so viel, oder so wenig, wie die jeweilige Patient*in in diesem Moment benötigt, um einerseits die Therapeut*in authentisch und als fühlendes menschliches Wesen wahrnehmen zu können, und andererseits keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass es immer und ausschließlich die Gefühle und Bedürfnisse der Patient*in und niemals die der Therapeut*in sind, denen die Aufmerksamkeit in der Therapie zusteht. Dr. Ellman erzählt Clay von sich selbst, damit dieser sich sicher und verstanden fühlt und dadurch besser über sich selbst sprechen kann, und nicht um mit einem Schwank aus seiner wilden Jugend zu prahlen. Das ist gute therapeutische Arbeit und es sind gute Szenen, in einer mehr als durchwachsenen letzten Staffel einer aufsehenerregenden und innovativen Serie. Goodbye, 13 Reasons Why!
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The Handmaid´s Tale: Trauma und Dissoziation

TRIGGERWARNUNG: Im folgenden Post geht es um sexuelle Traumatisierung & Dissoziation 
 
In der Serie The Handmaid´s Tale werden ritualisierte Vergewaltigungen durch eine christlich-fundamentalistische Sekte gezeigt, die – leider Gottes – die Herrschaft in einer dystopischen Zukunftsvision der USA übernommen hat. Unzählige Frauen werden Opfer dieser menschenverachtenden Praxis, auch unsere Protagonistin June, die in einem eindrucksvollen Monolog (S2E10) schildert, wie sich das anfühlt:
„Du siehst es wie eine Arbeit. Eine unangenehme Arbeit, die man so schnell wie möglich hinter sich bringt. Küssen ist verboten, das macht es erträglich. Man trennt sich ab. Man beschreibt. Ein Akt der Kopulation, evtl. der Befruchtung. Es bedeutet Dir nicht mehr als einer Blume die Biene. Du stählst dich, du gibst vor, nicht anwesend zu sein, nicht im Fleisch. Du verlässt Deinen Körper.“ 
Was June hier beschreibt, ist eine häufige psychische Reaktion von Opfern traumatischer Gewalterfahrungen und wird Dissoziation genannt. Grundsätzlich, d.h. im Normalzustand, sind die verschiedenen Funktionen unserer Psyche – z.B. Denken, Erinnern, Sinneswahrnehmung (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen) und Identitätsgefühl – integriert, d.h. sie passen zusammen: Ich sitze im Sessel meines Büros, fühle das Polster an Armen, Beinen und Gesäß, höre den Regen an das Fenster prasseln, rieche den bekannten Geruch. Ich sehe den Raum, den ich kenne. Ich weiß wo und wann ich mich befinde, weiß, dass ich schon oft hier war und weiß auch, wer ich bin und warum ich immer wieder hierherkomme, usw
In traumatischen Situationen kann es jedoch sein, dass unsere Psyche überfordert wird. Was wir erleben ist mehr, als wir verkraften können: Todesangst, Scham, Ekel, Verzweiflung, Hilflosigkeit, körperlicher Schmerz… 
Die Dissoziation, bei der einzelne psychische Funktionen abgespalten werden („Man trennt sich ab“), z.B. das Bewusstsein von der Wahrnehmung des eigenen Körpererlebens („Du verlässt Deinen Körper“) ist ein sogenannter Abwehrmechanismus, ein Selbstschutz der Psyche vor Überflutung mit Unerträglichem. In der Akutsituation kann dies die letzte und einzige Rettung sein, die ein Weiterleben – psychisch und physisch – ermöglicht. 
Auf Dauer jedoch können die abgespaltenen Gefühle zu unerträglicher Anspannung führen und diese wiederum zu einer Vielzahl von Folgesymptomen, wie Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit, Depressivität, Aggressivität, emotionaler Taubheit, Selbstbetäubung durch Suchtmittel, Selbstverletzung zur Anspannungsreduktion oder auch Suizidalität mit dem Ziel, den unerträglichen Anspannungszustand und die immer wieder – z.B. durch Flashbacks oder Alpträume – ins Bewusstsein drängenden Erinnerungen oder Gefühle zu beenden. 
In einer Traumatherapie würden diese Symptome in drei Phasen bearbeitet: 
  1. Stabilisierung: In der ersten Therapiephase wird eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeut*in aufgebaut und es werden Strategien im Umgang mit der akuten Symptomatik erarbeitet, die der Patient*in helfen, sich im Alltag und v.a. in akuten psychischen Krisen, selbst effektiver zu stabilisieren, z.B. Entspannungsmethoden, effektives Einfordern sozialer Unterstützung, oder andere Skills. 
  2. Exposition: In der zweiten Therapiephase, können, sofern die Patient*in sich dazu in der Lage fühlt, die traumatischen Erlebnisse, mit allen dazugehörigen psychischen Eindrücken (Erinnerungen, Gedanken, Sinneswahrnehmungen etc.) konkret besprochen und aus der schützenden Distanz der therapeutischen Situation bearbeitet werden. Dadurch soll die Dissoziation aufgelöst und das Erlebte psychisch integriert werden. Jetzt, wo die Patient*in gelernt hat, mit den Erinnerungen und Gefühlen selbstwirksam umzugehen, und Unterstützung und Halt durch die Therapie erfährt, kann das möglich sein, wovor die Dissoziation in der Situation des Traumas noch notwendigerweise geschützt hat. 
  3. Integration/Neuorientierung: In dieser letzten Phase der Traumatherapie geht es darum, über die konkrete Symptomatik hinaus, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden. Was bedeutet es, der Mensch zu sein, dem diese schrecklichen Dinge widerfahren sind? Wie kann mein Leben von diesem Punkt an weitergehen? Was gibt meinem Leben auch und gerade jetzt noch Sinn? Usw. 
Wir können nur hoffen, dass am Ende von The Handmaid´s Tale Gilead fällt und die Mägde eine Chance auf angemessene therapeutische Unterstützung bekommen. Bis dahin können wir uns ja schonmal um unsere eigene, echte Welt kümmern.
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Einer flog über das Kuckucksnest: Psychiatrie damals und heute

Vortrag am 22. September 2019 im Odeon, Göppingen
Für mich war „Einer flog über das Kuckucksnest“ aus dem Jahr 1975 schon historisch, als ich ihn als Jugendlicher zum ersten Mal gesehen habe. Als ich sechzehn war, wurde in den USA die erste Staffel der Serie ausgestrahlt, die für Viele den Beginn des Goldenen Zeitalters hochqualitativer, horizontal erzählter, charakterzentrierter TV-Serien markierte und deren berühmt gewordene erste Szene in der Praxis einer modernen, freundlichen und hochkompetenten Psychotherapeutin spielt: Die Sopranos (1999-2007). 

Dr. Jennifer Melfi zählt zu den guten fiktionalen Psychotherapeut*innen (auf die Unterscheidung der Berufsgruppen Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen verzichte ich in diesem Vortrag, da sie in den meisten fiktionalen Darstellung nicht, oder nicht korrekt getroffen wird) des 21. Jahrhunderts, die ihren Patient*innen nach Kräften helfen. Andere sind Sean Maguire aus Good Will Hunting (1997), Paul Weston aus In Treatment (2007-2010) – einer Serie, die fast ausschließlich in Pauls Behandlungszimmer spielt –, die Therapeuten aus aktuellen Netflix-Produktionen, wie To The Bone, Atypical und Lucifer sowie im deutschen Sprachraum Bloch (Dieter Pfaff, 2002-2013), die Psychologin Dr. Jung aus dem Kieler Tatort, oder der von Christian Ulmen verkörperte Dr. Psycho (2007-2008). Teilweise sind diese Psychotherapeut*innen schrullig, neurotisch, ein wenig narzisstisch und mit den ethischen Grenzen des Berufsstandes nehmen sie es nicht immer so genau – dennoch sind sie nicht zu vergleichen mit der kalten, autoritären, ja grausamen Oberschwester Ratched aus Einer Flog über das Kuckucksnest.

Schwester Ratched steht damit in der Tradition der Psycho-Protagonisten ihrer Zeit. Neben Einer Flog über das Kuckucksnest steht Alfred Hitchcocks Meisterwerk Spellbound mit Ingrid Bergmann und Gregory Peck für böse Psychiater mit gruseligen Fähigkeiten der Manipulation und Beeinflussung. Ganz zu schweigen von unzähligen Horror-B-Movies in denen durchgeknallte Psychiater und schaurige psychiatrische Anstalten zu sehen sind.
Noch 1991 erblickt einer der bekanntesten und schrecklichsten Kollegen meiner Zunft das Licht der Filmleinwand: Der hochintelligente Kannibale und Meister der Manipulation Hannibal Lecter (Das Schweigen der Lämmer).
Im selben Jahr wird Sarah Connor in Terminator II in einer gefängnisartigen Psychiatrie mit Gitterstäben und pervers-sadistischen Wärtern eingesperrt – und das obwohl sie nicht einmal krank ist: Der Terminator, Zeitreisen und die nahende Apokalypse sind ja real.
Überhaupt ist der Topos der/s zu Unrecht in der Psychiatrie zwangsuntergebrachten Gesunden, welche/r lediglich an den unhinterfragten, aber in ihrer Rigidität und Unmenschlichkeit letztlich eigentlich verrückten Gesellschaft, oder der Psychiatrie selbst, kaputt geht, beliebt. In Stieg Larssons Millennium-Trilogie wird die unliebsame Lisbeth Salander pathologisiert und zeitweise weggesperrt und auch McMurphy, in Einer flog über das Kuckucksnest, ist zwar ein Gauner – wirklich krank macht ihn jedoch erst die Psychiatrie.
Es gibt wohl eine Wechselwirkung zwischen Fiktion und Realität. Wir wissen aus der Forschung, dass fiktionale Stoffe die Wahrnehmung der Realität beeinflussen können. So fand eine österreichische Studie (Till et al., 2006) heraus, dass in Österreich lebende Personen, die viel fernsehen eher glauben, dass es dort noch die Todesstrafe gebe (die tatsächlich 1968 abgeschafft wurde), also quasi mit dem durch das Fernsehen gezeigten US-Justizsystem besser vertraut sind, als mit den Gesetzen ihres eigenen Heimatlandes.
Gleichzeitig können wir wohl mit C.G. Jung, der 1950 schrieb, dass Goethes Faust nicht nur die innerpsychischen Konflikte seines Verfassers widerspiegle, sondern die Bewusstseinslage einer ganzen Generation, davon ausgehen, dass fiktionale Stoffe v.a. dann zu Popularität gelangen, wenn sie Themen und Gefühle der sie rezipierenden Gesellschaft in eine anschauliche Form gießen.
Der Psychoanalytiker und Medienpsychologe Dirk Blothner (1999, S. 220) stellt fest, dass im Film „noch unausgeformte und revoltierende Strömungen in Bilder gefasst werden. Daher lässt sich an den wirksamsten Filmen oft auch ablesen, auf welche neue Ordnung die Gesellschaft zusteuert“.
Vor diesem Hintergrund passt, wie wir schon gehört haben, Einer flog über das Kuckucksnest perfekt in seine Zeit. Zwei Jahre zuvor, 1973, war die spektakuläre und schockierende Studie des Psychologen David Rosenhan mit dem Titel „being sane in insane places“ erschienen. In diesem klassisch gewordenen Experiment wurden acht gesunde Menschen, überwiegend Studierende, in verschiedenen psychiatrischen Kliniken vorstellig und berichteten beim Erstgespräch, Stimmen zu hören. Alle acht Pseudopatienten wurden stationär aufgenommen – soweit kein Problem. Allerdings wurden sie durchschnittlich neunzehn Tage lang „behandelt“, obwohl sie sich vom Zeitpunkt der Aufnahme an normal verhielten und nie mehr von akustischen Halluzinationen berichteten – McMurphy lässt grüßen!
Natürlich lässt sich die Rosenhan-Studie in vielfacher Hinsicht kritisieren: Mutmaßlich wohlmeinende Behandler, wurden über ein ernsthaftes psychiatrisches Symptom (akustische Halluzinationen) belogen und somit in eine Falle gelockt. Zudem wurden Behandlungskapazitäten gebunden, die eigentlich tatsächlich kranken und leidenden Patient*innen vorbehalten sein sollten. Gerade aus heutiger Sicht, wo dringend behandlungsbedürftige und behandlungswillige Menschen zum Teil Monate lang auf eine Therapie warten müssen, weil deutlich zu wenig stationäre und ambulante Behandlungsplätze zur Verfügung stehen, ist dies fragwürdig.
Tatsächlich ist die institutionalisierte Macht der Psychiatrie heute geringer, als früher. Gesetze und berufsethische Standards sollen die Menschen vor Übergriffen durch die Psychiatrie schützen – und tun dies überwiegend auch effektiv. Das Selbstbild ist – hier schneller, dort langsamer – dabei, sich vom Halbgott in weiß zum Mental-Health-Experten auf Augenhöhe zu wandeln. Auf informeller Ebenen jedoch, ist die Macht von Psychiatrie und Psychotherapie ungebrochen. Wir verfügen über die Macht der Definitionshoheit! Oft geht es um nichts weniger, als die Entscheidung, was bzw. wer normal ist, also einen legitimen Platz in der Gesellschaft zugestanden bekommt und wer bzw. was außerhalb steht. Wer heute zur/m Psychiater*in kommt, tut dies vielleicht seltener mit der Angst, „in der Psychiatrie zu landen“, wohl aber mit der Angst davor, als zu schwach, zu sensibel, zu empfindlich oder auch „zu dumm“ etikettiert zu werden, um in unserer Gesellschaft, auf dem hart umkämpften Markt der Performance als Selbstdarsteller, bestehen zu können.
Die Psychiatrie war immer und ist weiterhin in der Gefahr, sich zur Erfüllungsgehilfin gesellschaftlicher Abwehr- und Ausstoßungsprozesse zu machen. Es ist bequemer, wenn ein Attentäter, Terrorist oder Massenmörder für psychisch krank befunden wird, weil Krankheit etwas ist, wofür die umgebende Gesellschaft scheinbar nicht verantwortlich gemacht werden kann – ein Trugschluss, sicher, aber ein hartnäckiger. Genauso wie es uns allen scheinbar angenehmer wäre, das Problem Donald Trump auf eine narzisstische Persönlichkeitsstörung zu reduzieren, als der Tatsache ins Auge zu sehen, dass fast die Hälfte der Amerikaner einen rassistischen, chauvinistischen Lügner zum „Führer der freien Welt“ gewählt hat. Die Tatsache übrigens, dass sich an dieser Ferndiagnostik auch Psychiater*innen beteiligt haben, ist – unabhängig von der persönlichen und politischen Bewertung Donald Trumps – ein Kunstfehler. Psychiatrie ist eine Heilkunst und darf niemals – als Deutscher will ich hinzufügen: Niemals mehr! – zur Waffe in der politischen Auseinandersetzung werden.
Ein vergleichbarer Abwehrmechanismus erklärt aus psychologischer Sicht auch die aktuell deutlich werdende Tendenz zur Verharmlosung und Relativierung von Rechtsterrorismus ausgerechnet in Deutschland.
Große Teile der deutschen Bevölkerung empfinden, aus gutem historischem Grund, bewusst oder unbewusst, eine Verantwortung dafür, dass sich Nationalsozialismus und Holocaust niemals wiederholen dürfen. Sie fühlen sich als Staat und Gesellschaft daran gemessen und bewertet. Diese Verantwortung wiegt schwer. Man kann sie bewusst wahr- und annehmen und sich als Individuum und Teil der Gesellschaft dem Antifaschismus, Antirassismus und einer offenen Gesellschaft verpflichten. Jedoch geht mit großer Verantwortung auch eine große Versuchung einher, diese zu vermeiden, sich vor ihr zu drücken. Eine bewusste Vermeidung ist die Forderung nach Schlussstrichen. Eine unbewusste Art der Vermeidung, des Wegduckens, kann die Verleugnung des Problems, für welches man bei dessen Anerkennung Verantwortung übernehmen müsste, sein. Die Ängste, Aggressionen, Xenophobie, die man vielleicht trotz allem in sich und um sich herum spürt, lassen sich leichter projizieren als sich damit zu konfrontieren und auseinanderzusetzen. Als Projektionsfläche eignen sich die, mit denen man augenscheinlich nichts zu tun hat, für die man scheinbar nicht in Mitverantwortung genommen werden kann. Linksradikale und Islamisten zum Beispiel, mit denen ich als Durchschnittsdeutscher kaum assoziiert werde. Oder eben vermeintlich psychisch Kranke.
Michel Foucault hat diesen Abwehrmechanismus in Wahnsinn und Gesellschaft (1961) beschrieben: Bis in die Renaissance waren die sogenannten Wahnsinnigen oder Irren als „normaler“ Bestandteil in die Gesellschaft integriert. Im besten Fall als Orakel, Hellseher oder spirituelles Medium, im schlechteren Fall als Dorftrottel, Hofnarr oder gruselige Sensation. Mit der Aufklärung wurde dann das Postulat des Menschen als vernünftiges Wesen zum Mainstream, welches von Beginn an den Geburtsfehler der Verdrängung aller irrationalen, triebhaften, emotionsgesteuerten beinhaltete. Der „Wahnsinn“ als intensivste Manifestation dieser menschlichen Anteile, passt als allgemein menschliches Phänomen nicht in dieses Narrativ. Nach Christian Morgenstern: „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ So entstand ein Motiv für die Auslagerung des Wahnsinns und die Tilgung der „Verrückten“ aus dem alltäglichen Leben. Die ersten Anstalten entstanden, zunächst allerdings mit dem Ziel, die Menschen, die durch ihre Krankheit zu sehr von der Norm abwichen, wegzusperren. Mit Emile Durkheim könnte man sagen: Es muss immer Menschen geben, die als „verrückt“ gelabelt werden, damit die Mehrheit sich als „normal“ empfinden darf.
Der einseitige Rationalismus der Aufklärung wurde bereits von Schopenhauer und Nietzsche kritisiert, auf die sich nicht nur Foucault bezieht, sondern auch Sigmund Freud. Mit ihm vollzog die Beschäftigung mit dem Psychopathologischen einen Paradigmenwechsel. Nicht, dass es nicht schon zuvor Ärzte gegeben hätte, die psychisch Kranke nicht nur wegsperren, sondern ihr Leiden durch – zugegebenermaßen aus heutiger Sicht oft recht krude – medizinische Behandlung lindern wollten. Doch erst Freud hob die soziologisch konstruierte Trennung zwischen Verrücktheit und Normalität auf, indem er der Menschheit die sog. dritte große Kränkung zufügte: Kopernikus hatte die Erde und damit den Menschen vom Mittelpunkt des Universums auf den Platz eines seinerseits um die Sonne kreisenden Planeten unter vielen verwiesen. Charles Darwin hatte den Menschen von der Krone der Schöpfung zu einem Tier unter vielen degradiert. Sigmund Freud schließlich konfrontierte den Menschen damit, dass er noch nicht einmal „Herr im eigenen Haus“ sei, sich also des Großteils seiner Handlungsmotive kaum bewusst. Psychopathologie wird dadurch zu einer Normvariante, zu lediglich sehr stark oder sehr schwach ausgeprägten, aber universellen, gleichsam archetypischen Erlebens- und Verhaltensweise.
In dieser Tradition stehen wir als heutige Psychiater*innen und Psychotherapeut*innen. Jedem psychisch kranken Menschen zuvorderst als Mensch und erst dann als psychisch Krankem zu begegnen. Und auch – z.B. an einem Abend wie heute – gegen die Stigmatisierung psychischer Krankheit und damit die Exklusion des Abweichenden aus der gesellschaftlichen Selbstdefinition aufzustehen und anzureden.
McMurphy ist archetypisch gesehen eine Trickster-Figur. Sein Verhalten wirkt im Kontext, in dem er agiert, irrational oder sogar verrückt. Doch seine Verrücktheit ist – das wird in Einer flog über das Kuckucksnest deutlich – nicht objektiv, sondern durch den Kontext selbst zugeschrieben. Damit entlarvt er die Irrationalität und Verrücktheit des Systems selbst, fordert es heraus, zwingt es zur Selbstreflektion – und verliert nur scheinbar. Denn auch wenn der Trickster selbst noch vom System bestraft wird, hat er doch dessen Grenzen aufgezeigt und es damit hinterfragbar gemacht. McMurphys finden sich heutzutage immernoch in großer Zahl – nach einer Schwester Ratched müsste man in einer modernen Psychiatrie – und darauf können wir, denke ich, bei aller gebotenen Selbstkritik, doch stolz sein – schon länger suchen.

Den Audiomitschnitt des Vortrags zum Nachhören gibt es hier.

Literatur

Blothner, Dirk (1999): Erlebniswelt Kino. Über die unbewußte Wirkung des Films. Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe.

Foucault, M. (1961). Histoire de la folie à l’âge classique: Folie et déraison. Plon, Paris. Deutsch: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Jung, C.G. (1950). Gestaltungen des Unbewussten. Zürich: Rascher
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Babylon Berlin: Gereon und die Hypnose

Um es gleich klarzustellen, ich fand Babylon Berlin großartig. Stimmt schon, am Anfang wähnt man sich kurz in einer dieser ungelenken Schauspielszenen einer ZDF-Historiendokumentation, aber ich glaube, dass ist nur eine Frage der Gewohnheit, denn bereits nach ein, zwei Folgen, entwickelt die spannende Geschichte mit ihren vielen interessanten und zum Teil psychologisch komplexen Figuren ihren Reiz und ließ zumindest mich nicht mehr los. Den Kritikpunkt, dass nicht alles historisch korrekt ist, finde ich irrelevant, da es sich ja nunmal nicht um eine Dokumentation handelt – und inwieweit die Darstellungen in House of Cards, Vikings oder Mindhuntervollständig mit der Realität korrespondieren, interessiert ja auch die wenigsten. Zudem scheint einiges doch auch recht realitätsnah dargestellt zu sein, zumindest wenn man dem sehr interessanten Podcast von Radio Eins 1929 -Das Jahr Babylon glauben darf.

Alles beginnt – wie damals bei den Sopranos – mit einer Psychotherapieszene. Gereon Rath lässt sich hypnotisieren – eine damals gängige Behandlungstechnik bei nervösen Leiden. Hypnotische Trance bezeichnet – entgegen mystifizierenden populärwissenschaftlichen Klischees – einfach einen Zustand der entspannten Fokussierung, das heißt, durch die Konzentration auf bestimmte Reize (Körperwahrnehmungen, die Stimme des Hypnotisieurs, einen sich bewegenden Finger oder ein Pendel etc.) findet eine zunehmende Ausblendung der Vielzahl anderer Reize und Gedanken statt, wodurch innere Ruhe und eine gelassene und dafür umso konzentriertere Fokussierung auf bestimmte Themen, Gedanken, Erinnerungen etc. möglich wird. Für die heutige Psychotherapie hat die Hypnose besondere Bedeutung, nicht weil sie heute noch breit angewendet würde – sie führt eher ein Nischendasein im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie – sondern weil sie sozusagen den historischen Vorläufer der uns heute bekannten Psychotherapie darstellt. 
Im späten neunzehnten Jahrhundert, als es noch keine Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, gab, wurde die damals im Bürgertum vermehrt auftretende Hysterie (eine damals noch unscharf definierte Bezeichnung für eine Vielzahl psychopathologischer Symptome, wie z.B. emotionale Instabilität, psychogene Krampfanfälle, Dissoziation, Panik usw.) von einigen, als progressiv geltenden, Ärzten durch Hypnose zu behandeln versucht. Ein populärer und international angesehener Protagonist dieser Bewegung war der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot (Wikipedia), dessen eindrückliche Behandlungserfolge, oft vor Medizinstudenten und internationalen Kollegen, zwar ebenso wie heutige Showhypnosen einen erheblichen Anteil an Charisma, Showtalent und Suggestibilität der Proband*innen/Patient*innen enthielten, aber dennoch die Hoffnung auf Behandlungsmöglichkeiten psychischer Leidenszustände jenseits von Kältebädern, Lobotomien und anderen mehr oder weniger grausamen Therapien nährten. 
Zwei Bewunderer Charcots in dieser Zeit waren der Wiener Arzt Josef Breuer und sein junger, wissbegieriger Kollege Sigmund Freud. Letzterer reiste gar nach Paris und zeigte sich beeindruckt von Charcots Fallvorführungen. Breuer und Freud begannen ihrerseits die – vor allem, aber nicht nur – Damen der besseren Wiener Gesellschaft im Falle von Hysterie und anderer seelischer Leiden mit Hypnose zu behandeln und hatten damit nicht selten Erfolg, was den Glauben an die Methode zunächst stärkte. Bis schließlich Dr. Breuer die Entdeckung machte, die den Grundstein für die moderne Psychotherapie legen sollte. Er stellte fest, dass auch ohne einer zuvor induzierte hypnotische Trance ein zugewandtes, vertrautes, einfühlsames Gespräch mit der Patientin über Inhalte welche diese als belastend oder beschämend erlebte, zur Reduktion der Symptomatik führte und dass sich dieser Effekt durch wiederholte Gespräche ausbauen und stabilisieren ließ. Heureka! – Die sogenannte „Redekur“ war geboren. Josef Breuer und Sigmund Freud gaben die „Studien über Hysterie“ heraus und begründeten damit die sprechende Psychotherapie. Der Rest ist Geschichte und die Psychotherapie gut hundert Jahre später eine unverzichtbare, vielfältige, evidenzbasierte und noch wie am ersten Tag faszinierende Behandlungsmethode. 
Der Wirkmechanismus der Psychotherapie erschöpft sich allerdings nicht in der beschriebenen zugewandten, offenen, haltgebenden und wertschätzenden Haltung – dem sog. Primärprozess. Sonst wäre Psychotherapie nichts anderes, als eine gute Freundschaft oder Elternbeziehung. Um Psychotherapie wirksam zu machen, bedarf es zusätzlich, gleichsam auf der Basis eines stabilen Primärprozesses, der aktiven Spiegelung, wohlwollenden Konfrontation und Aufforderung zur kritischen Reflektion des Erlebten – des sog. Sekundärprozesses. Seriöse, wissenschaftlich fundierte Psychotherapien zeichnen sich gerade durch die Kombination, das gegenseitige Sich-Bedingen von Primär- und Sekundärprozess aus. Die Unzulänglichkeit von Methoden, die nur auf einen der beiden Prozesse abzielen, liegt auf der Hand. 
Ein Primärprozess ohne Sekundärprozess, also eine perfekt positive Beziehung ohne kritische Reflektion, kann zwar dazu führen, dass sich die Patient*in aufgehoben und verstanden und dadurch zunächst besser fühlt. Es unterbleibt jedoch die notwendige persönliche Weiterentwicklung und auch die Reflektion der therapeutischen Beziehung selbst, so dass es nicht die durch die Therapie angestoßene Entwicklung, sondern die regelmäßigen therapeutischen Gespräche selbst sind, die so gut tun. So kann es zur Idealisierung der Therapeut*in kommen und die Patient*in in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Die eigenen Entwicklungspotentiale und auch die oft notwendige Arbeit an wichtigen Beziehungen außerhalb der Therapie können dadurch blockiert werden, was die Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Ende der Therapie verstärkt und im Bereich der pseudowissenschaftlichen Psychotherapieszene mitunter zu jahrelangen, letztlich ausbeuterischen „Therapien“ auf Selbstzahlerbasis führt. 
Im umgekehrten Fall, also der rein kognitiv-rationalen Reflektion und Erarbeitung von Lösungsansätzen (Sekundärprozess), ohne den Aufbau und die sorgfältige Pflege einer empathischen, die authentische, tiefgehende Selbstöffnung fördernden Beziehung (Primärprozess), lassen sich durchaus Probleme lösen, z.B. das eigene Zeitmanagement verbessern, oder eine Strategie für Verhandlungen planen usw.. Die tiefen, oft unbewussten inneren Konflikte, welche die Umsetzung der vermeintlich einfachen oder klaren Lösungen im Alltag eben oft verhindern, werden jedoch nicht erreicht und die für die Lösung wirklich komplexer, widersprüchlicher, tief scham- und schuldbehafteter Probleme Weiterentwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Darin besteht der Unterschied zwischen Angeboten aus dem Coaching- und Beratungsspektrum und der Psychotherapie als Heilbehandlung.
Auch im Hinblick auf die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, ausgehend von Freuds Arbeit, in den letzten hundert Jahren viel vorangegangen, auch wenn nach wie vor viel zu tun bleibt (Hierzu lohnt immer wieder ein Blick auf das Betroffenenforum themighty.com). Davor, und eben auch noch in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, um damit wieder zum eigentlichen Thema Babylon Berlin zurückzukehren, hatten es psychisch Kranke oft noch viel schwerer, als dieser Tage – zumindest in Deutschland (was es übrigens derzeit wieder zu verteidigen gilt!).
Deshalb muss Gereon Rath heimlich zur Hypnose gehen und setzt zunächst alles daran, seine Krankheit, die damals als Kriegszittern bezeichnet wurde, geheim zu halten, um in der rauen Welt der Berliner Polizei nicht als schwach oder feige wahrgenommen zu werden. Bei den sogenannten Kriegszitterern, oder auch Schüttelneurotikern, oder Flattermännern, wie es Kollege Wolter wenig einfühlsam ausdrückt, handelte es sich überwiegend um vom ersten Weltkrieg traumatisierte Heimkehrer mit dem Krankheitsbild, das wir heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen (Eine auführliche Beschreibung dieses Krankheitsbildes findet sich im Beitrag über Rambo). Wirklich anerkannt wurde diese gravierende mögliche Folge von Kriegseinsätzen erst nach dem Vietnamkrieg. 
Heute stehen zum Glück elaborierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung, während Gereon sich noch mit Hypnose und Morphin, welches durch die sedierende Wirkung das Zittern und die Panik reduziert, aber eben auch ein hohes Suchtpotenzial hat, behelfen musste. Das Zittern ist letztlich eine körperliche Manifestation der panischen Angst, welche die Betroffenen infolge von auslösenden, an die traumatische Situation erinnernden Reizen, sog. Triggern (z.B. einen Pistolenschuss), erleben. Physiologisch werden bei Angst unter anderem Herzfrequenz, Atemgeschwindigkeit und Muskelspannung erhöht, um Energie zum Kämpfen oder Fliehen (das sog. Fight-or-Flight-Syndrom) zur Verfügung zu stellen. Da diese Energie in der Lebenswelt des modernen Menschen selten in der dafür vorgesehenen Weise abgebaut werden kann (bzw. es Gereon ja überraschend gut zu gehen scheint, wenn er tatsächlich kämpfen oder fliehen muss), kommt es zur physischen Übererregung und dem Abbau der Anspannung in Form des unwillkürlichen Zitterns.
Mir würde zu Babylon Berlin noch mehr einfallen, aber da ich heute offenbar Probleme habe, bei der Sache zu bleiben, soll es das erstmal gewesen sein.

Mehr zu Babylon Berlin gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!

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Gypsy: Jean

Die Netflix-Serie Gypsy gehört zum Unheimlichsten, was ich seit langem gesehen habe. Das mag überraschen, liegt aber daran, dass das Unheimliche dann am unheimlichsten ist, wenn es realistisch daherkommt und uns selbst betrifft.

Die Psychotherapeutin Jean ist eigentlich ganz nett. Sie bemüht sich, eine gute Mutter zu sein und kämpft dabei, ebenso wie in ihrer Ehe, darum, zwischen Alltagsstress und Midlifecrisis der Individualität und den Bedürfnissen der geliebten Menschen in ihrem Leben gerecht zu werden. Unter anderem das macht sie eben so realistisch und zunächst auch anschlussfähig.
Ebenso ihre Arbeit: Ihre Tätigkeit als Teilzeitpsychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis, die wöchentliche Supervision im Team, die ausführliche Dokumentation der Sitzungen – alles wie im echten Leben.

In diesem Setting, das Psychotherapeuten wie ich so oder ähnlich tagtäglich mit Jean teilen, entspinnt sich nun zunächst langsam, dann immer rasanter und letztlich unaufhaltsam, die Katastrophe: Eine Psychotherapeutin, die ihre Position, das Vertrauen ihrer Patient*innen und ihre Kenntnisse in Psychologie und Gesprächsführung ausnutzt, um eigene Bedürfnisse nach Unterhaltung, Zuwendung, Macht und Kontrolle zu befriedigen.

Jean verstößt dabei gleich gegen alle vier Grundsätze der Medizinethik:
  1. Autonomie: Patient*innen müssen über Sinn, Nutzen und Risiken jeder therapeutischen Intervention informiert werden, um sich autonom dafür oder dagegen entscheiden zu können. Jean jedoch beeinflusst und manipuliert ihre Patient*innen zunehmend im Sinne ihrer eigenen Ziele, der Verschleierung ihrer Absichten und der Vertuschung ihrer Lügen.
  2. Nicht-Schädigung: Nach dem auf Hippokrates zurückgehenden Prinzip „primum non nocere, secundum cavere, tertium sanare“ (lat.: erstens nicht schaden, zweitens vorsichtig sein, drittens heilen) steht an erster Stelle jeder medizinischen Entscheidung der Schutz des Patienten vor unerwünschten schädlichen Wirkungen der Behandlung. Jean jedoch nimmt Schäden an der psychischen Stabilität und den sozialen Beziehungen ihrer Patient*innen in Kauf, ohne dass dies durch einen therapeutischen Nutzen für diese auch nur entfernt zu rechtfertigen wäre.
  3. Fürsorge: Unter Berücksichtigung der ersten beiden Prinzipien sind medizinische Behandler*innen verpflichtet, aktiv zum Wohle ihrer Patient*innen tätig zu sein, alle Möglichkeiten der Therapiemethode auszuschöpfen um ihre Genesung zu fördern. Jean jedoch vernachlässigt ihre Patient*innen zunehmend. Sie hört nicht mehr aufmerksam zu, denkt nicht mehr aktiv über deren Probleme und mögliche therapeutische Lösungsansätze nach, sondern ist gedanklich mit den für sie wichtigen und interessanten Themen beschäftigt und schenkt ihren Patient*innen ihre Aufmerksamkeit nur noch selektiv, wenn diese Themen berührt werden.
  4. Gerechtigkeit: Patient*innen sind nach allen Regeln der Kunst bestmöglich zu behandeln, unabhängig davon, ob die Therapeutin oder der Therapeut sie mag, sie interessant oder angenehm oder langweilig findet. Gerade hierfür ist eine gewisse therapeutische Abstinenz notwendig: Die privaten Leben von Therapeut*innen und Patient*innen sollten sich nicht überschneiden, da hieraus Konflikte zwischen dem Wohl von Patient*innen und den privaten Bedürfnissen von Therapeut*innen entstehen können – was in Gypsy eindrucksvoll aufgezeigt wird und zu massiver Ungerechtigkeit von Jean gegenüber einigen ihrer Patientinnen und Patienten führt.
Insofern ist Jean, gerade weil ihre Lebenswelt realistisch und ihre Bedürfnisse und Motive grundsätzlich nachvollziehbar sind, die Horrorvision einer Psychotherapeutin – schlimmer als die vielen kriminellen oder schwer gestörten Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten in Filmen und Serien, die wir leicht in den Bereich der Fiktion und Fantasie verbannen können, wie z.B. in Dexter (Dr. Meridian, Dr. Vogel), Hannibal/Schweigen der Lämmer (Dr. Hannibal Lecter), Hide and Seek (David Callaway) oder Skins (Dr. Foster).
Übrigens, es gibt auch sehr gute Psychotherapeut*innen in Filmen und Serien. Mehr dazu ist im Charakterneurosen Podcast – Folge 18 zu erfahren!

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To the Bone: Ellen

Und wieder widmet sich ein Netflix-Original ganz direkt einer psychischen Störung. Nach den Serien 13 Reasons Why (Depression/Suizidalität) und Atypical (Autismus) behandelt der Spielfilm To the Bone das Thema Essstörungen, genauer Anorexia nervosa.

Unter dieser Störung leidet die jugendliche Protagonistin Ellen offenbar schon seit Jahren, als sie sich in die Spezialklinik von Dr. Beckham, die eher einer therapeutischen Wohngemeinschaft ähnelt, in Behandlung begibt.

Alle Symptome der Anorexia nervosa (ICD-10: F50.0) werden relativ realistisch gezeigt und thematisiert:
  • Ellens Körpergewicht liegt deutlich sichtbar unter einem Body-Mass-Index (BMI) von 17,5
  • Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung
  • Ellen hat eine Körperschemastörung, nimmt ihren viel zu dünnen Körper weiterhin als „zu fett“ wahr
  • Ellens Periode bleibt schon lange aus, als Folge der durch Nährstoffmangel entstandenen endokrinen Störung. Dieses Symptom nennt man Amenorrhoe.
 
Neben diesen für die Diagnosestellung erforderlichen Kriterien, zeigen sich weitere typische Krankheitsmerkmale. So wird zum Beispiel Ellens verstärkter Haarwuchs auf Armen und Rücken, die sog. Lanugo-Behaarung, thematisiert und erklärt, dass diese ein Schutzmechanismus des Körpers gegen Kälte ist. Lanugo-Behaarung tritt eigentlich bei Neugeborenen auf, bei Erwachsenen schützt normalerweise die Fettschicht unter der Haut ausreichend vor Kälte, was jedoch bei chronischem starkem Untergewicht nicht mehr gegeben ist.
 
Ebenso sind Ellens intensive gedankliche Beschäftigung mit Essen und Kalorienzählen („Kalorien-Asperger“ wie es ihre Schwester nennt) und das exzessive heimliche Sporttreiben (Sit-ups, Treppensteigen) häufige Merkmale der Anorexia nervosa.
 
Ein weiterer authentischer Punkt, der nicht schlecht, wenn vielleicht auch ein wenig klischeehaft, dargestellt wird, ist die enge Verknüpfung zwischen Ellens Krankheit und ihrem Familiensystem. Essstörungen werden häufig als systemische, also eng mit familiären Konflikten im Zusammenhang stehende, Störungen betrachtet, was natürlich nicht immer der Fall sein muss, aber sich doch häufig bestätigt.
 
Auf ihre jeweils eigene Art gelingt es beiden Eltern nicht, Ellen Aufmerksamkeit, Interesse und Wertschätzung entgegenzubringen. Wir können mutmaßen, dass der Vater schon vor Ellens Krankheit oft abwesend, die Mutter emotional instabil gewesen sind. Im Film wirkt es so, als hätte sich dies möglicherweise noch verschärft, weil beide Eltern vor der Verantwortung und Überforderung mit Ellens Krankheit fliehen – der Vater in die Arbeit, die Mutter in einen esoterisch-egozentrierten Lebensentwurf, der die eigene Schonungsbedürftigkeit zur Maxime macht. Bleibt die Stiefmutter, die für Ellen aber nur ein bitterer Trostpreis ist, der ihr ständig vor Augen führt, dass ihre Eltern nicht für sie da sind.
 
Dr. Beckhams Behandlungskonzept, eine kleine vollstationäre Gruppe von jugendlichen Patient*innen, die viel Verantwortung für ihre eigene Therapie und füreinander übernehmen müssen, ist überzeugend. Gute Kliniken hierzulande arbeiten ähnlich – wenngleich die wenigsten ein eigenes Wohnhaus dafür zur Verfügung stellen. Richtig und wichtig ist auch die Regel, dass nicht über Essen, Gewicht und Kalorien gesprochen werden soll, denn wie wir an Ellens Beispiel sehen, sind viele Menschen die unter Essstörungen leiden, davon ohnehin schon über die Maßen eingenommen und – wie wir ebenfalls bei Ellen sehen können – ist das Essen selbst nicht das Problem sondern nur das Symptom. In Ellens Fall von sehr unbefriedigenden sozialen Beziehungen und einem schwachen Selbstwertgefühl, das nie ausreichend elterlichen Zuspruch bekommen hat, um wachsen zu können.
 
Soweit so gut. Was mir indes an To the Bone nicht gefällt, ist das Ende. Dieses vermittelt mal wieder die beliebte, aber unrealistische Vorstellung, dass ein einziger Moment der Einsicht und Klarheit die entscheidende Wende in einer Psychotherapie bringt. So etwas mag es im Einzelfall geben – die Regel ist es aber ganz sicher nicht. Immerhin kehrt Ellen ganz am Ende des Films in die Klinik zurück. Es wirkt, als sei sie jetzt bereit, sich wirklich auf die Therapie einzulassen. Es wäre schön gewesen, wenn auch dieser eigentlich entscheidende Teil der Geschichte gezeigt würde.
 
 
 

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Good Will Hunting: Will

Der gute Will Hunting hat viele Talente: Er hat ein fotografisches Gedächtnis, eine scheinbar lückenlose Allgemeinbildung und die Fähigkeit, schwierigste mathematische Aufgaben zu lösen. Er ist zweifellos weit überdurchschnittlich intelligent oder, in der Terminologie der akademischen Psychologie, hochbegabt.
Als hochbegabt gilt eine Person, wenn sie in einem Intelligenztest mindestens 130 Punkte erreichen würde, wobei der Bevölkerungsdurchschnitt auf 100 Punkte festgelegt ist. Hingegen gilt jemand ab einem Testwert von unter 70 als geistig behindert. Gängige Intelligenztests erfassen Fähigkeiten wie logisch-schlussfolgerndes Denken, kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit, Merkfähigkeit, verbales Verständnis usw. Ob Will jemals einen Intelligenztest absolviert hat, wissen wir nicht, aber angesichts seiner Fähigkeiten können wir davon ausgehen dass sein Intelligenzquotient sogar deutlich über 130 liegt.

Der außergewöhnlichen intellektuellen Begabung steht nun ein, nach den gängigen gesellschaftlichen Maßstäben, geradezu demonstrativ erfolglos wirkendes Leben gegenüber.
Damit ist Will das was die pädagogische Psychologie einen Underachiever nennt: Eine Person, die hinsichtlich Leistung und Erfolg weit unter ihren Möglichkeiten bleibt. Nun muss es nicht jedermanns höchstes Ziel sein, Geld und gesellschaftliches Ansehen zu maximieren (wenngleich dies eine weit verbreitete Erfolgsdefinition ist, welche im Film u. a. durch Professor Lambeau vertreten wird).

Aber Will fehlt es nicht nur daran. Er hatte auch noch nie eine Freundin, kann sich kein Auto leisten und steht immer wieder wegen Gewaltdelikten vor Gericht, was ihn schließlich sogar ins Gefängnis bringt. Die Frustration über sein Leben lässt er immer wieder in aggressiver Form an anderen aus, die er erniedrigt (wie den Studenten in der Bar), lächerlich macht (wie die Psychotherapeuten, deren Meinung über ihn feststand bevor er zur Tür herein kam) oder zusammenschlägt (wie den jungen Mann, der ihn als Kind drangsaliert hat). 
Viele Underachiever halten sich selbst, aufgrund von entsprechenden Zuschreibungen und/oder wiederholten Erfahrungen des Scheiterns, für durchschnittlich oder sogar eher gering begabt. Nicht so Will. Er weiß um seine Fähigkeiten. Vielmehr scheint er sich bewusst und aktiv allen Regeln und Konventionen der Leistungsgesellschaft zu verweigern.
Er demonstriert damit seine Unabhängigkeit von und seine Verachtung für Autoritäten jeder Art. Angesichts seiner Vorgeschichte ist das nicht verwunderlich. Will hat seine Eltern verloren und ist in der Folge von Behörden und Pflegeeltern immer wieder im Stich gelassen und sogar massiv misshandelt worden.
Die Konsequenz, die er daraus zieht, ist, sich in jeder (vor allem aber emotionaler) Hinsicht möglichst unabhängig zu machen um sich vor Enttäuschung und Verletzung zu schützen. Oder, wie Will aus einem psychologischen Gutachten über sich selbst zitiert: „Will leidet unter Bindungsproblemen, Angst im Stich gelassen zu werden…“ 
Will Huntings Verhalten ist damit exemplarisch für den so genannten unsicher-vermeidenden Bindungsstil der psychologischen Bindungstheorie. Die Bindungstheorie beschreibt die folgenden vier (idealtypischen) Bindungsstile, welche durch die Beziehungserfahrungen der Kindheit geprägt werden: 

  • Sichere Bindung resultiert aus der Erfahrung dass die wichtigen Bezugspersonen zuverlässig da sind, wenn man sie braucht. Menschen mit diesem Bindungsstil fühlen sich sicher genug, um selbstständig und frei zu agieren, in dem Vertrauen darauf, Hilfe und Zuspruch zu erfahren, wenn sie derer benötigen. Entsprechend gelingt es ihnen, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und zu pflegen, in welchen beide Partner einerseits füreinander da sind und sich andererseits selbst verwirklichen können. 
  • Unsicher-vermeidende Bindung resultiert aus der konsistenten Erfahrung, von anderen nichts oder nur schlechtes erwarten zu können. Die Konsequenzen sind Einzelgängertum oder oberflächliche Beziehungen ohne emotionalen Tiefgang. Der Schutz vor Verletzung hat Priorität und wird mit Einsamkeit bezahlt.
  • Unsicher-ambivalente Bindung entsteht, wenn Bezugspersonen sich inkonsistent verhalten, also situativ unterschiedlich und unvorhersehbar intensive Zuwendung, Desinteresse oder Aggression zeigen. Dies kann zum Beispiel bei psychisch kranken oder suchtmittelabhängigen Eltern der Fall sein. Die Nähe zu anderen Menschen wird folglich ambivalent besetzt: Einerseits schmerzlich vermisst und dringend ersehnt, andererseits mit dem ständigen Risiko von Enttäuschung und Verletzung behaftet. Menschen mit diesem Bindungsstil sind ständig hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Nähe und dem Bedürfnis nach Abgrenzung, zwischen dem Versuch den Anderen mit allen Mitteln an sich zu binden und dem Impuls ihn radikal von sich zu stoßen. 
  • Der desorganisierte Bindungsstil stellt eine Art Restkategorie dar und beschreibt ein Bindungsverhalten, welches hoch inkonsistent ist und sich keiner der drei Hauptkategorien zuordnen lässt. Mögliche Ursachen können schwere Misshandlungen und andere Traumata sein. 


Vor dem Hintergrund der Bindungstheorie können wir Wills innere Isolation als nachvollziehbaren und teils durchaus sinnvollen Schutzmechanismus verstehen. So schützt ihn sein Misstrauen und sein scheinbares Desinteresse an der Anerkennung anderer zum Beispiel davor, sich von Professor Lambeau und den anderen Karrieristen für ihre Zwecke ausnutzen zu lassen. 
Allerdings ist Wills Beziehungsangst so groß, dass er sich auch auf Menschen, welche es gut mit ihm meinen, nicht wirklich einlassen kann. Er lässt in seinem Leben keine Ansprechpartner auf Augenhöhe zu, sondern gibt sich mit Freunden ab, die zwar nette Menschen sind, aber intellektuell nicht mit ihm mithalten können, weshalb er sich ihnen auch nicht wirklich anvertraut. Daneben pflegt er Scheinbeziehungen zu den großen Denkern und Literaten (beziehungsweise zu deren Ideen), wodurch er das Risiko menschlich enttäuscht zu werden vermeidet, aber in der realen Welt umso einsamer bleibt.
Sein Wissen über die Welt ist ein theoretisches und Menschen, die sich entsprechend der Theorie, bzw. des Klischees, logisch-vorhersehbar verhalten, kann er mit der ganzen Schärfe seines Verstandes analysieren und kontrollieren. Sein Wissen gibt ihm die Macht, sich gegen die ebenfalls (aber weniger perfekt) schablonenhaft-theoretisch denkenden und agierenden Psychotherapeuten, den schnöseligen Elitestudenten in der Bar, die arrogante akademische Elite und die opportunistischen Personaler der großen Wirtschaftsunternehmen zu behaupten und sie mit ihren eigenen Waffen vernichtend zu schlagen. Will lebt in einer Welt der zwischenmenschlichen Demütigung und hat nach Jahren des Leidens seine Waffen perfektioniert um nie wieder Opfer zu werden. 
Umso verunsicherter und überforderter reagiert Will auf Menschen, die sich entgegen seiner klischeehaften Erwartungen verhalten. Da ist Skylar, die obwohl Frau und Elitestudentin, weder arrogant noch zimperlich ist, die sich nicht für Wills Lebensstil schämt oder vor seiner traumatischen Vergangenheit zurückschreckt. Und da ist Sean, der obwohl Elterngeneration und Psychotherapeut, weder überheblich noch heuchlerisch auftritt, der eigene Gefühle zeigt, anstatt Wills zu kategorisieren. Beide mögen Will um seiner selbst willen, was für diesen so ungewohnt ist, dass er es lange nicht glauben kann und immer wieder auf die Probe stellen muss.
So führt er Skylar zum ersten Date in einen billigen Burgerladen und zum Hunderennen aus – und ist sichtlich beeindruckt, als sie nicht nur nicht wegläuft, sondern später im Pub vor seinen Freunden obszöne Witze erzählt. Auch versucht er Sean ein ums andere Mal zu provozieren (was ihm in der gewohnten Treffsicherheit für die wunden Punkte anderer auch gelingt), in der Erwartung, dass dessen Freundlichkeit nur professionelle Fassade ist und er ihn, wie Will es gewohnt ist, letztlich doch zurückweist, wenn es unbequem wird. Sean jedoch gelingt es, seine Kränkung und Verletztheit weder hinter einer pseudoprofessionellen psychotherapeutischen Maske zu verstecken, noch sich dafür durch eigene Gemeinheiten an Will zu rächen. Stattdessen lässt er ihn an seinen Gefühlen teilhaben, zeigt Will Grenzen auf und ist dennoch weiterhin für ihn da (große psychotherapeutische Kunstfertigkeit!). So wird Sean für Will schließlich zum väterlichen Vorbild, zum Beispiel eines Mannes, der, aus ähnlichen Verhältnissen stammend, sein Potential verwirklicht hat, ohne sich zu verkaufen. Der Verluste in Kauf genommen hat, um ein Leben in Verbundenheit zu Leben – und der dies nun, da die Verluste eingetreten sind, nicht bereut. 
Skylar und Sean widerlegen die Allgemeingültigkeit von Wills Theorien über die Menschen und damit auch über sich selbst. Sie zeigen ihm auf, dass es jenseits des Grauens der Vergangenheit und der Festungsmauern seines Wissens noch Unbekanntes zu entdecken gibt. Wie alles Unbekannte ist es mit Risiken verbunden, aber Will beginnt wieder an ein Leben zu glauben, das diese Risiken wert ist.
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