Stephen King: Das Unheimliche

Vortrag beim 1. Göppinger Stephen-King-Abend am 29.6.2018 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Christophsbad, Göppingen
Stephen King gilt als Meister des Unheimlichen. Was ist das, dieses „Unheimliche“? Mit dieser Frage hat sich bereits der erste Psychotherapeut, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud befasst. 
Er nähert sich dem Begriff zunächst etymologisch, also von der Wortherkunft her. Heimlich kommt von heimelig, also vertraut, geborgen oder sicher. Somit wäre das Unheimliche etwas, das uns unsicher, möglicherweise bedrohlich erscheint. In der modernen Bedeutung bezeichnet heimlich etwas, das im Verborgenen, nicht offen sichtbar geschieht. Demzufolge wäre das Unheimliche also auch etwas, dass aus dem Verborgenen heraustritt und dadurch sichtbar wird.
Letztere Herleitung deutet bereits an, wie das Unheimliche tiefenpsychologisch verstanden werden kann. Im Film (und auch im echten Leben) ist nicht die offene Bedrohung oder der manifeste Terror, z.B. in einem Kriegsfilm oder Splattermovie unheimlich. Unheimlich ist die nicht wirklich sichtbare, im Verborgenen erahnbare Bedrohung. 
Dieses Erleben von Unheimlichkeit beruht, tiefenpsychologisch gesehen, auf einer von zwei möglichen Ursachen, welche zudem nicht selten miteinander einhergehen. Als unheimlich empfinden wir etwas, wenn verdrängte und/oder rational bereits überwunden geglaubte Ängste aktiviert werden.  
Darum kann beispielsweise ein Spaziergang über einen Friedhof bei Nacht unheimlich sein: Der Gedanke an den eigenen Tod macht vielen Menschen Angst, wird aber von den meisten Menschen die meiste Zeit des Lebens verdrängt. Das ist gut so, denn so können wir angstfreier ein erfülltes und erfolgreiches Leben leben. Durch den Friedhof jedoch wird die Thematik des Todes stark angesprochen und die damit unbewusst verbundenen Ängste können stärker wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass der Friedhof der Ort ist, an dem sich die Verstorbenen aufhalten. Rational haben die meisten Erwachsenen die Angst vor Geistern, Untoten etc. überwunden – nichts im Weltverständnis eines halbwegs gebildeten Erwachsenen spricht dafür, dass es so etwas geben könnte. Dennoch überfällt viele von uns ein unheimliches Gefühl, wenn wir nachts auf dem Friedhof ein Geräusch oder einen sich bewegenden Schatten wahrnehmen.
Das Unheimliche lauert also unter der Oberfläche des Vernünftigen, es liegt verdrängt unter dem, was gut, schön und wahr scheint. Bei Stephen King ist das meist die Kleinstadt, das Kleinbürgertum, die Angepasstheit – man könnte auch sagen: Das Erwachsene.  
Und es sind bei Stephen King meist die Kinder, die als erste erkennen, dass da etwas nicht stimmt, dass da etwas Schauriges, Schreckliches, Unheimliches unter der Oberfläche lauert.
Diese universelle Wahrheit macht Kings Geschichten anschlussfähig: Als Kind wissen wir noch um das Grauen der Welt und verzweifeln an den Erwachsenen, die uns weismachen wollen, es sei alles halb so schlimm. Genau wie das Kind im Märchen Des Kaisers neue Kleider, das als einziges ganz selbstverständlich und wider den absurden Rationalismus der Erwachsenen ausruft: „Er hat doch gar nichts an!“ 
Weil das alltägliche Grauen der menschlichen Abgründe (solange sie das Kind nicht unmittelbar betreffen) nicht greifbar, aber eben doch erahnbar ist, und selbst da wo es manifest wird, oft zu unaussprechlich ist, um es beim Namen zu nennen, wird es in Monstern, Geistern, Ungeheuern symbolisiert, so wie King es in seinen Geschichten in Untoten, Horrorclowns, mordenden Maschinen und Psychokillern symbolisiert. Der eigentliche Horror aber, und um diesen geht es Stephen King, findet alltäglich tatsächlich zwischen den ganz normalen Menschen statt: Tod, Verlust, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Mobbing – sie werden von den Erwachsenen verdrängt, bagatellisiert und rationalisiert, für die Kinder aber sind sie schmerzhaft real. Wir sind heute in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, der kennt diese Rationalisierungen: „Reiß Dich zusammen“, „Das verstehst Du nicht“, „Das ist halt die Pubertät“, „Das geht anderen auch so…“ und so weiter. Aber das sind unzulässige Rationalisierungen und Verharmlosungen: Grausamkeit ist grausam, Schmerz ist schmerzhaft, Gewalt ist brutal – sie zu etwas Normalem, Unvermeidlichem, Logischem zu erklären, ändert daran nichts.  
Stephen King erzählt von diesem alltäglichen Grauen meist beiläufig, sozusagen im Schatten des grandiosen, übernatürlichen Horrors. Für die düsteren Seiten der conditio humana gibt es bei King keine Erklärungen, keine einfachen Lösungen. Das macht ihn zu einem großen Erzähler. Wie Hannah Arendt sagt: „Geschichten zu erzählen offenbart Bedeutung, ohne den Fehler zu machen, sie zu definieren.“  
Vermutlich brauchte und braucht der Vielschreiber King seine eigenen Geschichten auch, um selbst mit dem Schrecklichen in der Welt zurecht zu kommen. Er scheint ein Mann der Extreme zu sein: Früher alkohol- und drogenabhängig, ergeht er sich heute in intensiven Schimpftiraden auf Twitter, bevorzugt gegen Donald Trump, der ihn – worauf King sehr stolz ist – blockiert hat.
Das Unheimliche, das Schreckliche unter der Oberfläche des als normal Definierten, scheint ihm keine Ruhe zu lassen. Dass die Kinder, denen die Bedrohungen in seinen Geschichten ebenso keine Ruhe lassen, die sie bekämpfen, oft auch gegen die Borniertheit und Bequemlichkeit der Erwachsenen, am Ende meist siegen, ist Stephen Kings Form der Bewältigung seiner eigenen realen Welt. Es ist nicht zu übersehen, dass in seinen Geschichten seine eigene Geschichte verarbeitet und neu geschrieben wird. Oft spielen Autoren wichtige Rollen, meist Kleinstädte in Maine, wie die, in der er selbst aufgewachsen ist. Eltern sind oft abwesend, so wie Kings Vater, der die Familie früh verlassen hat, und seine Mutter die mit finanziellen Sorgen belastet war. Als Kind musste er mit ansehen, wie sein Freund von einem Zug überfahren wurde – wir werden in der heutigen King-Verfilmung Stand By Me eine Szene sehen, die darauf Bezug nimmt.  
Sigmund Freud, der Entdecker des Unbewussten hat gesagt: „Jede Phantasie ist ein Wunsch, der realisiert wird, eine Phantasiekorrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“ Die Phantasien Stephen Kings, des Meisters des Unheimlichen, korrigieren auf schreckliche wie wunderbare Weise unsere manchmal ebenso schreckliche Wirklichkeit.  
Gerade dieser Tage fällt es uns wieder schwerer, zu verdrängen, dass, unter der noch recht glatten Oberfläche unserer Gesellschaft, Hass und Gemeinheit, Spaltung, Ausgrenzung und Erniedrigung lauern können. Weil sie an die Oberfläche drängen, wie der Clown in Es aus der Kanalisation.  
Es wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Geschichten des großen Erzählers Stephen King aktuell sowohl in Hollywood wie auch bei serienproduzierenden Streamingdiensten wie hoch im Kurs stehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Serienadaptation von Kings Opus Magnum Der dunkle Turm das neue Game Of Thrones werden könnte. Und das ist gut so, denn wir werden Geschichten brauchen, in denen mutige Kinder uns ein Beispiel geben, indem sie dem Schrecklichen, dem Unheimlichen ins Auge sehen und in denen es immer wieder auch bezwungen werden kann.

Den Audio-Mitschnitt vom Vortrag gibt es hier 

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True Detective: Rust


Der True Detective Rustin „Rust“ Cohle ist ein mürrischer Zeitgenosse. Seit dem Unfalltod seiner kleinen Tochter leidet er unter einer chronischen depressiven Störung, die als Dysthymia bezeichnet wird. Diese zeichnet sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F34.1) dadurch aus, dass die Symptomatik zwar weniger stark ausgeprägt ist, als bei einer akuten depressiven Episode (ICD-10: F32), dafür aber über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhält. In Rusts Fall äußert sich die depressive Symptomatik außerdem auf die für Männer typische Weise, in Form einer sogenannten male depression:
  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol-/Nikotin-/Drogenmissbrauch

Zum Zeitpunkt der beiden Handlungsebenen von True Detective ist Rusts Depression bereits chronifiziert und aus seinem Alkohol-, Nikotin-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hat sich eine Multiple Substanzabhängigkeit entwickelt. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F19.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen

Eine gravierende schädliche Folge von Rusts Drogen- und später Medikamentenkonsum (vor und während des frühen Handlungsstranges) sind die dadurch ausgelösten Halluzinationen. Da diese eindeutig im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen (später, als Rust nur noch trinkt, treten die Halluzinationen nicht mehr auf) und über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten, liegt eine halluzinatorische substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.52) vor, auch bekannt als Drogenpsychose.

Was Rust Cohle so charismatisch und interessant macht, ist, dass er, neben seinen vielfachen und schwerwiegenden psychopathologischen Beeinträchtigungen, ein überaus intelligenter und offenbar sehr gebildeter Mann ist, der den Zuschauer und, zu dessen Leidwesen, seinen Partner Martin Hart, an seiner depressiven Weltsicht teilhaben lässt.

Rust zeigt dabei ein für depressive Störungen typisches Denkmuster, welches die Kognitionspsychologie als Kognitive Triade bezeichnet. Diese ist durch eine negative und hoffnungslose Sichtweise auf drei zentrale Lebensbereiche gekennzeichnet:
  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft

Rust schreibt den Menschen im Allgemeinen überwiegend negative Eigenschaften, vor allem Selbstsucht, Eitelkeit und Ignoranz, zu. Sich selbst nimmt er davon nicht aus, sondern beansprucht für sich lediglich, die bittere Wahrheit im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Mitmenschen nicht zu verdrängen.

Sein, zuvor wahrscheinlich optimistischeres, Weltbild scheint durch den Tod seiner Tochter zerstört worden zu sein. Eine Welt in der unschuldige Kinder sterben und all die anderen Gräueltaten, die er in seinem Job erlebt möglich sind, kann nur schlecht sein. Um den Schmerz über den Verlust seiner Tochter besser aushalten zu können, findet der intelligente und eloquente Rust nachträglich viele gute Argumente für die Verkommenheit der Welt als Ganzes. Man nennt das Rationalisierung. So kommt er zu dem Schluss, dass es das Glück seiner kleinen Tochter war, in einer so durchweg schlechten Welt, nicht lange genug zu leben, um von ihr korrumpiert zu werden. Daran wird deutlich, dass Rust gar nicht mehr anders kann, als in der Welt nur das Schlechte zu sehen, da er sonst wieder ungeschützt seiner unverarbeiteten Trauer ausgesetzt wäre.

Das misanthropische Weltbild, das Rust sich selbst immer wieder dadurch bestätigt, dass er sich obsessiv mit Verbrechen, Leid und menschlichen Abgründen beschäftigt und alle einladenden Gesten wohlwollender Mitmenschen zurückweist, lässt ihn auch für die Zukunft nur Schlechtes erwarten: Habgier, Hass, religiöser Fanatismus und Umweltzerstörung werden, so Cohle, dazu führen, dass die Menschheit sich selbst vernichtet. Wenn es nach ihm geht, darf sie vorher noch erkennen, was ihm schon lange klar ist: Dass alles von Anfang an sinnlos war.

Psychologen nennen das Depression, Philosophen Melancholie, Nihilisten wahrscheinlich Realismus. Rusts Partner Martin versucht es mit Humor zu sehen: „Für einen Typen, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht, machst du dir ganz schön viele Gedanken darüber.“

Mehr zur ersten Staffel von True Detective gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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