Tigermilch: Nini

Am 17. August 2017 kommt Tigermilch (Trailer) in die Kinos, die Verfilmung des gleichnamigen großartigen Jugendromans von Stefanie de Velasco (Wikipedia). Dass die Autorin am Film mitgearbeitet hat, lässt hoffen, dass die emotionale Intensität, die einzigartig authentische Sprache und das tiefe psychologische Gespür des Romans in den Film gerettet werden konnten.
So oder so: Leseempfehlung!
Die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen von Tigermilch, Nini und Jameelah, schlagen sich mit Mut, Kreativität, Humor und der Kraft ihrer Freundschaft durch ein Leben voller sozialer Probleme: Armut, Gewalt, Migration, Angst vor Abschiebung, soziale Stigmata, Sexismus, Sucht und Depressionen. Das bleibt nicht folgenlos: Sie selbst klauen, rauchen, trinken, schwänzen und lassen sich leichtfertig auf sexuelle Experimente ein, ohne die emotionalen Folgen abzusehen.
Tigermilch (benannt nach Ninis und Jameelahs Lieblingsdrink: Milch, Maracujasaft und Mariacron) versteht und beschreibt diesen Zusammenhang einfühlsam und klug. Für das Verständnis (und ggf. die Therapie) von Kindern und Jugendlichen, die normabweichendes Verhalten zeigen, ist kaum eine Erkenntnis so zentral, wie diese, die der Psychoanalytiker Alfred Adler (Wikipedia) prägnant so formuliert hat:
Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht, hat es welche.
Ninis Schwierigkeiten beginnen mit denen ihrer Eltern. An einer der berührendsten Stellen des Romans beschreibt sie ihre schwer depressive Mutter:
Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüsste schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.
Ninis Vater ist weg (ob tot oder abgehauen weiß ich nicht mehr). Was ihr bleibt ist die Erinnerung und die Sehnsucht nach jemandem, der sie hält und beschützt. Auf ihrer Suche danach, orientiert sie sich an dem, was sie kennt und wo sie vor langer Zeit einmal eine Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit hatte, das sich seither nicht mehr einstellen will:
Komisch, irgendwie riechen alle Männer, die ich mag, nach Alkohol und Zigaretten. Papa hat auch immer so gerochen.
Kinder psychisch erkrankter Eltern haben, je nachdem welche Erkrankungen vorliegen und ob ein oder beide Elternteile erkrankt sind, ein mehr oder weniger stark erhöhtes Risiko selbst psychische Störungen zu entwickeln (Mattejat, 2012).
Zentrale Belastungsfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern, die keinen konstruktiven Umgang mit der gemeinsamen Stresssituation finden sind Desorientierung („Was ist mit Mama/Papa los?“), Schuldgefühle („Ist Mama/Papa so traurig/wütend, weil ich böse war“), Tabuisierung („Über Familienangelegenheiten spricht man nicht mit Außenstehenden“) und schließlich Isolierung: Die Kinder werden zu Geheimnisträgern, schämen sich für ihre Familie und ziehen sich daher zunehmend aus dem Kontakt mit Außenstehenden zurück um nicht ständig lügen und bagatellisieren zu müssen oder sich als Verräter zu fühlen. Häufig übernehmen die Kinder in solchen Fällen Verantwortung und Aufgaben der Erwachsenen, um das Funktionieren der Familie und den äußeren Schein aufrecht zu erhalten, womit sie jedoch langfristig überfordert sind. Eindrücklich wird dieser Prozess in dem Kurzfilm Lilli von Jan Buttler gezeigt.

Nini ist noch nicht psychisch krank. Gefährdet ist sie aber durchaus. Sie balanciert ihren Alkoholkonsum, dissoziale Verhaltensweisen (Klauen, Lügen, Schule schwänzen) und ein erhöhtes Risiko durch ihren Umgang und ihre unbeschwert offensive Sexualität traumatische Erfahrungen zu machen am Rande eines Abgrunds, den sie ahnt, aber nicht wirklich sieht. Wie auch? – Sie kennt kein anderes Leben.
Dass sie sich bislang so gut durchgeschlagen hat, liegt an wesentlichen Ressourcen, die ihr, bei allen Risiken, gegeben sind. Fähigkeiten, Kenntnisse, Begabungen und soziale Beziehungen, die bei der Bewältigung von emotionalen Belastungen hilfreich sind und damit die Gesundheit schützen, nennt man Resilienzfaktoren.
Ninis wichtigste Resilienzfaktoren sind:
  • Intelligenz, die ihr hilft, zumindest manche Situationen richtig zu verstehen und einzuordnen und immer wieder kreative Problemlösungen zu finden.
  • Humor, der ihr hilft, viele der belastenden, aber durch sie selbst nicht veränderbaren Lebensumstände besser auszuhalten.
  • Freundschaft: Mindestens eine stabile, positiv empfundene Bindung an eine Bezugsperson stellt einen der wichtigsten Resilienzfaktoren dar. Für Nini ist das ihre Freundin Jameelah. Zumindest solange diese nicht abgeschoben wird…
Wenn jetzt noch ein aufmerksamer Lehrer, ein wohlwollender Nachbar, ein engagierter Jugendamtsmitarbeiter oder – natürlich – ein vernünftiger Psychotherapeut ins Spiel käme, wäre die Prognose für Ninis weitere emotionale und soziale Entwicklung gar nicht so schlecht.

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Shameless: Frank & Carl



In Shameless wird nicht nur die schwere Alkoholabhängigkeit von Frank Gallagher dargestellt, sondern auch die weitreichenden und gravierenden Auswirkungen, die seine Erkrankung auf alle Mitglieder seiner Familie hat.

Um eine Alkoholabhängigkeit diagnostizieren zu können, müssen laut internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F10.2) mindestens drei der folgenden sechs Diagnosekriterien über einen längeren Zeitraum hinweg erfüllt sein:
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Frank Gallagher erfüllt deutlich mehr als die drei für die Diagnose notwendigen Kriterien einer Alkoholabhängigkeit.
Sein starkes, geradezu zwanghaftes Verlangen, Alkohol zu trinken, wird immer wieder eindrücklich dargestellt. Es gibt kaum ein Hindernis, eine Regel oder eine moralische Grenze, die Frank nicht mit aller verfügbaren Energie zu überwinden versuchen würde, um an Alkohol oder an Geld für Alkohol zu kommen.
Der für die Sucht typische Kontrollverlust über den Alkoholkonsum lässt Frank kompromisslos solange trinken, wie Nachschub verfügbar oder aufzutreiben ist – stets bis zur Bewusstlosigkeit.
Die seltenen Versuche Franks, abstinent zu bleiben, sind von körperlichen Entzugserscheinungen begleitet (Psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen, aggressive Impulsivität, Erektionsstörungen), wenngleich diese für einen Alkoholiker von Franks Kaliber eher harmlos dargestellt werden.
Eine Toleranzentwicklung ließe sich bei Frank nur eindeutig nachweisen, wenn bekannt wäre, wie sein Konsum zu Beginn der Suchterkrankung ausgesehen hat. Angesichts der großen Mengen, die er, nach Möglichkeit ununterbrochen, trinkt, können wir jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer deutlichen Toleranzsteigerung im Laufe der Jahre ausgehen.
Deutlich erkennbar ist hingegen Franks vollständige gedankliche Einengung auf den Alkoholkonsum. Es scheint in seinem Leben nichts mehr zu geben, was ihn interessiert oder was er auch nur wahrnimmt, außer den Alkohol und die Mittel und Wege, an diesen heranzukommen. Insbesondere für die Bedürfnisse seiner Kinder bringt er keinerlei Einfühlungsvermögen auf, sondern manipuliert auch diese immer wieder schamlos, um Geld für Alkohol aufzutreiben.
Ebenso offensichtlich sind die eindeutig schädlichen Folgen, die Frank für seine Trinkerei in Kauf nimmt. Nicht nur, dass er sich selbst körperlich und sozial völlig zugrunde richtet. Auch die psychische Gesundheit, das soziale Ansehen und die materielle Existenzgrundlage seiner Kinder opfert er ohne mit der Wimper zu zucken.


Was Shameless neben der überzeugenden Darstellung von Franks Alkoholsucht interessant macht, ist aber vor allem die erstaunliche Fähigkeit seiner Kinder, mit ihrer außerordentlich schwierigen Lebenssituation umzugehen. In einem Armutsviertel aufgewachsen, von ihrer Mutter verlassen und von ihrem alkoholkranken Vater immer wieder enttäuscht und ausgenutzt, meistern sie ihr Leben doch mit bewundernswertem Optimismus und Erfolg.
Die Fähigkeit, unter erschwerten äußeren Bedingungen zurecht zu kommen und Krisen durch den Einsatz der eigenen Fähigkeiten zu bewältigen, ohne dabei psychisch krank zu werden, nennt die Psychologie Resilienz. Verschiedene Faktoren können als Ressourcen fungieren, die die Resilienz einer Person steigern. Franks Kinder weisen viele dieser Faktoren auf:
So gelten stabile inner- und außerfamiliäre Beziehungen als wichtige Resilienzfaktoren. Auch wenn ihre Eltern sie völlig im Stich lassen, so halten die Gallagher-Kinder frag- und kompromisslos zusammen und haben sich zudem ein verlässliches außerfamiliäres Netzwerk von treuen Freunden geschaffen, von denen sie in Notlagen konkrete Unterstützung erwarten können.
Auch Intelligenz gilt als wichtiger Faktor für eine hohe Resilienz. Alle Gallagher-Kinder wirken recht intelligent, was auch bedeutet, dass sie die Schwangerschaften ihrer ebenfalls suchtkranken Mutter unbeschadet überstanden haben. Lip ist sogar überdurchschnittlich intelligent und trägt dadurch häufig entscheidend zum Gelingen der Pläne der Gallagher-Kinder bei.
Ein weiterer wichtiger Resilienzfaktor kann das Eingebundensein in soziale Verpflichtungen sein, das auch in Zeiten großer Schwierigkeiten das Gefühl, gebraucht zu werden und einem höheren Sinn zu dienen, sicherstellen kann. Die Verpflichtung gegenüber ihren jüngeren Geschwistern scheint zum Beispiel Fiona immer wieder die nötige Kraft und den Mut zu verleihen, um für diese Übermenschliches zu leisten.
Das einzige Kind, das in den ersten Staffeln weniger hochfunktional wirkt, ist Carl, der vermutlich eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) hat, also ein ADHS (Unaufmerksamkeit + Hyperaktivität + Impulsivität) mit der Tendenz zu normverletzendem Verhalten (Wutausbrüche, Regeln brechen, unüberlegtes Handeln, Tiere quälen, Eigentum anderer beschädigen, etc.). Während Carl sich in den späteren Staffeln zunehmend fängt, ergeben sich phasenweise immer wieder auch gravierende Probleme bei den anderen Kindern: Lip wird, wie sein Vater, Alkoholiker, scheint seine Sucht aber mithilfe einer Selbsthilfegruppe wieder in den Griff zu bekommen. Auch Fiona trinkt zeitweise viel zuviel. Bei ihr scheint eher ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) als eine vollwertige Abhänigkeit vorzuliegen, so dass sie auch ohne Selbsthilfegruppe und Entzugsbehandlung den Absprung schafft. Ian erkrankt, wie seine Mutter, an einer bioplaren Störung (ICD-10: F31), wodurch er auf eine dauerhafte Medikamentöse Behandlung angewiesen ist.
Dennoch meistern die Gallaghers ihr an Belastungen und Hürden reiches Leben mit letztlich doch unverbrüchlichem Optimismus, Einfallsreichtum und Humor. Letzterer, ebenfalls ein wichtiger Resilienzfaktor, scheint allen Gallagher-Kindern eigen zu sein – vielleicht das einzige, das sie von Frank geerbt haben.
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