True Detective: Rust


Der True Detective Rustin „Rust“ Cohle ist ein mürrischer Zeitgenosse. Seit dem Unfalltod seiner kleinen Tochter leidet er unter einer chronischen depressiven Störung, die als Dysthymia bezeichnet wird. Diese zeichnet sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F34.1) dadurch aus, dass die Symptomatik zwar weniger stark ausgeprägt ist, als bei einer akuten depressiven Episode (ICD-10: F32), dafür aber über einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren anhält. In Rusts Fall äußert sich die depressive Symptomatik außerdem auf die für Männer typische Weise, in Form einer sogenannten male depression:
  • Dysphorie/Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggression/Impulsivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten, Extremsport
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Alkohol-/Nikotin-/Drogenmissbrauch

Zum Zeitpunkt der beiden Handlungsebenen von True Detective ist Rusts Depression bereits chronifiziert und aus seinem Alkohol-, Nikotin-, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hat sich eine Multiple Substanzabhängigkeit entwickelt. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F19.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen

Eine gravierende schädliche Folge von Rusts Drogen- und später Medikamentenkonsum (vor und während des frühen Handlungsstranges) sind die dadurch ausgelösten Halluzinationen. Da diese eindeutig im Zusammenhang mit dem Substanzkonsum stehen (später, als Rust nur noch trinkt, treten die Halluzinationen nicht mehr auf) und über einen längeren Zeitraum immer wieder auftreten, liegt eine halluzinatorische substanzinduzierte psychotische Störung (ICD-10: F19.52) vor, auch bekannt als Drogenpsychose.

Was Rust Cohle so charismatisch und interessant macht, ist, dass er, neben seinen vielfachen und schwerwiegenden psychopathologischen Beeinträchtigungen, ein überaus intelligenter und offenbar sehr gebildeter Mann ist, der den Zuschauer und, zu dessen Leidwesen, seinen Partner Martin Hart, an seiner depressiven Weltsicht teilhaben lässt.

Rust zeigt dabei ein für depressive Störungen typisches Denkmuster, welches die Kognitionspsychologie als Kognitive Triade bezeichnet. Diese ist durch eine negative und hoffnungslose Sichtweise auf drei zentrale Lebensbereiche gekennzeichnet:
  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft

Rust schreibt den Menschen im Allgemeinen überwiegend negative Eigenschaften, vor allem Selbstsucht, Eitelkeit und Ignoranz, zu. Sich selbst nimmt er davon nicht aus, sondern beansprucht für sich lediglich, die bittere Wahrheit im Gegensatz zu der Mehrheit seiner Mitmenschen nicht zu verdrängen.

Sein, zuvor wahrscheinlich optimistischeres, Weltbild scheint durch den Tod seiner Tochter zerstört worden zu sein. Eine Welt in der unschuldige Kinder sterben und all die anderen Gräueltaten, die er in seinem Job erlebt möglich sind, kann nur schlecht sein. Um den Schmerz über den Verlust seiner Tochter besser aushalten zu können, findet der intelligente und eloquente Rust nachträglich viele gute Argumente für die Verkommenheit der Welt als Ganzes. Man nennt das Rationalisierung. So kommt er zu dem Schluss, dass es das Glück seiner kleinen Tochter war, in einer so durchweg schlechten Welt, nicht lange genug zu leben, um von ihr korrumpiert zu werden. Daran wird deutlich, dass Rust gar nicht mehr anders kann, als in der Welt nur das Schlechte zu sehen, da er sonst wieder ungeschützt seiner unverarbeiteten Trauer ausgesetzt wäre.

Das misanthropische Weltbild, das Rust sich selbst immer wieder dadurch bestätigt, dass er sich obsessiv mit Verbrechen, Leid und menschlichen Abgründen beschäftigt und alle einladenden Gesten wohlwollender Mitmenschen zurückweist, lässt ihn auch für die Zukunft nur Schlechtes erwarten: Habgier, Hass, religiöser Fanatismus und Umweltzerstörung werden, so Cohle, dazu führen, dass die Menschheit sich selbst vernichtet. Wenn es nach ihm geht, darf sie vorher noch erkennen, was ihm schon lange klar ist: Dass alles von Anfang an sinnlos war.

Psychologen nennen das Depression, Philosophen Melancholie, Nihilisten wahrscheinlich Realismus. Rusts Partner Martin versucht es mit Humor zu sehen: „Für einen Typen, der keinen Sinn in seiner Existenz sieht, machst du dir ganz schön viele Gedanken darüber.“

Mehr zur ersten Staffel von True Detective gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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Last Samurai: Wie man wird, was man ist

Bevor Nathan Algren der letzte Samurai wurde, war er Captain in der US-amerikanischen Armee und Teilnehmer an den Indianerkriegen, in welchen er an grausamen Kriegsverbrechen beteiligt war.

Wie viele Kriegsheimkehrer (z.B. auch John Rambo) leidet er seitdem unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, Tendenz zur Vermeidung solcher Situationen
  • Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an das belastende Erlebnis zu erinnern und/oder anhaltende Symptome erhöhter psychischer Sensitivität und Erregung
Der Krieg an sich stellt bereits eine außergewöhnliche Bedrohung und Belastung dar, hinzu kommen Nathans Schuldgefühle angesichts der Grausamkeiten, an denen er beteiligt war. In sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannten Flashbacks, durchlebt er die Ereignisse und Gefühle immer wieder neu.
Erschwerend kommt hinzu, dass Nathans Vergangenheit auch nach seiner Rückkehr aus dem Feld ständig präsent ist, gibt er doch allabendlich den stolzen Kriegsveteranen auf Verkaufsveranstaltungen eines Waffenherstellers, bzw. später den hochdekorierten Militärberater. Somit spielt er die Rolle, welche ihm so viel Leid und Schuldgefühle eingebracht hat, immer wieder aufs Neue.
Erinnerung, Flashbacks, Schuldgefühle und nicht zuletzt ein Dasein in einer innerlich zutiefst verachteten Identität erträgt Nathan nur im Rausch, welchen er sich durch Whisky zu verschaffen pflegt. Zum Zeitpunkt der Filmhandlung ist er bereits süchtig, das heißt, er leidet unter einem Alkoholabhängigkeitssyndrom. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F10.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen
So wie Nathan seine Uniform immer weiter tragen muss, obwohl er eigentlich schon längst kein Soldat mehr ist, verkörpert er äußerlich eine technokratische, imperialistische und megalomanische Ideologie, die längst nicht mehr die seine ist. Seine Uniform, sein ganzes Sein, ist eine leere Hülle. 
Diese äußere Hülle der Persönlichkeit nannte der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung Persona. Nach Jungs Auffassung entsteht eine umso stärkere innere Konfliktspannung, je weniger die Persona der inneren Persönlichkeit entspricht.
Diese innere Persönlichkeit, sozusagen sein wahres Ich, kann Nathan erst bei den Samurai entdecken, die ihm ein alternatives Wertesystem und andere Geisteshaltungen aufzeigen, als diejenigen mit denen er aufgewachsen ist und die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt haben. Nachdem er unter schweren Entzugserscheinungen seine Alkoholsucht überwunden hat, begibt sich Nathan auf eine innere Reise zu sich selbst und beginnt sein wahres Ich zu entdecken. 
Diesen Weg zu sich selbst, der niemals wirklich abgeschlossen ist, nannte C. G. Jung Individuation oder Selbstwerdung und sah in dieser einen zentralen Aspekt psychotherapeutischer Behandlung. Wer ihn geht, muss, wie Nathan Algren, tief in die Abgründe der eigenen Seele blicken und vieles aufgeben, was vertraut war und alternativlos schien. Er wird jedoch, wie der letzte Samurai, eine ungeahnte Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln erlangen und immer mehr zu dem werden, der er wirklich ist. 
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Game of Thrones: Joffrey, Cersei & Robert



Joffrey Baratheon ist der jugendliche Prinz der sieben Königreiche und Thronfolger seines (vermeintlichen) Vaters Robert Baratheon. Außerdem ist er – bei Zuschauern wie Zeitgenossen – äußerst unbeliebt.

Wie könnte es auch anders sein? Es scheint ihm Freude zu machen, Prostituierte und auch seine kurzzeitverlobte Sansa zu quälen oder Untergebene, wie zum Beispiel den Metzgerssohn oder den betrunkenen Ritter bei seinem Geburtstagsturnier, zu tyrannisieren. Er widersetzt sich seinem Onkel Tyrion und seiner Mutter Cersei, was zu heftigen Streits führt. Seine wachsende Macht nutzt er, um beide wiederholt zu erniedrigen. Auch das Töten (lassen) von Tieren (Sansas Schattenwolf Lady) und Menschen (Eddard, Ros) scheint ihm Vergnügen zu bereiten.
Psychopathologisch zeigt Joffrey die Merkmale einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (ICD-10: F91.1). Diese gehört zu den Störungen des Kindes- und Jugendalters und zeichnet sich durch dissozial-aggressives Verhalten bei gleichzeitiger starker Beeinträchtigung der Beziehungen zu anderen Menschen, v.a. Gleichaltrigen, aus.
Joffreys dissoziales Verhaltensmuster ist durch folgende typische Merkmale gekennzeichnet:

  • Tyrannisieren 
  • Erpressung
  • Gewalttätigkeit 
  • Grausamkeit gegenüber Menschen und Tiere
  • Exzessives Streiten 
  • Ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche
  • Fehlen von Kooperationsbereitschaft 
  • Ungehorsam und Grobheit gegen Erziehungspersonen

Ebenso offensichtlich zeigt sich das zweite Charakteristikum der Krankheit, die Beziehungsstörung: Joffrey hat nicht einen einzigen Freund. Auch Sansas Liebe währt nur solange, wie sie braucht um ihn wirklich kennenzulernen.
Seine Kontaktversuche werden durch seine arrogante, selbstbezogene und unempathische Art, von jedem, der sich traut, zurückgewiesen. Alle anderen begegnen ihm mit vorgetäuschtem Respekt, aus Angst vor seiner Grausamkeit.

Da die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens überwiegend im psychosozialen Bereich liegen, müssen wir Joffreys Kindheit und familiäre Situation untersuchen, um seine Symptomatik zu verstehen:
Joffreys Mutter Cersei verlor ihre eigene Mutter bereits im Alter von neun Jahren. Von ihrem Vater Tywin wurde und wird sie nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Heiratsfaustpfand und Stammhaltergebärerin wahrgenommen. Der Glanz im Auge des Vaters ging ihr völlig ab.
Nach dem Tod der Mutter kann sie der totalen Einsamkeit nur dadurch entgehen, dass sie sich emotional an die einzige verfügbare Bezugsperson, ihren Zwillingsbruder Jaime, bindet. Um sich dessen Zuneigung und Loyalität zu versichern, bedient sie sich des einzigen, wozu sie sich entsprechend den Zuschreibungen ihres Vaters fähig fühlt, nämlich erotischer Verführung.
Was sich zunächst als psychische Überlebensstrategie des emotional vernachlässigten Kindes entwickelt, manifestiert sich im Erwachsenenalter als Störung der Sexualpräferenz (ICD-10: F65.8): Cersei scheint nur im Inzest sexuelle Erfüllung zu finden, wobei inzwischen außer Jaime auch andere männliche Verwandte als Sexualpartner in Frage kommen. Wir können darin mit einiger Wahrscheinlichkeit den unbewussten Versuch sehen, sich die Liebe des Vaters, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch noch zu sichern. Der ursprüngliche Wunsch und die mit ihm verbundene, anhaltende Kränkung, können dabei verdrängt werden, weil das bewusste Begehren auf andere Männer (Jaime, Lancel) verschoben wird, die dem Vater aber zumindest ähneln müssen, indem sie die typischen Merkmale der Lennistermänner (blonde Haare, Tendenz zum Narzissmus) aufweisen.

Im Gegensatz zu Joffrey selbst, weiß Cersei von Beginn an, dass ihr Zwillingsbruder der biologische Vater ihres Kindes ist. Dies erklärt die extreme Ambivalenz aus naiver Idealisierung und tiefer Scham, mit der sie Joffrey, je nach Situation, immer wieder begegnet.
Er verkörpert zwar das begehrte Männerideal (Generationsgrenzen spielen in Cerseis Wahrnehmung kaum eine Rolle) und bestätigt ihre Daseinsberechtigung in den Augen ihres Vaters (Thronfolger gebären), gleichzeitig stellt Joffrey aber auch eine ständige Erinnerung an ihre Trieb- und Sündhaftigkeit dar. Selbst wenn sie sich selbst dafür nicht erkennbar schämt bzw. ihre Scham verdrängt und rationalisiert (die Targaryens machen es aber auch…), so lässt ihr Vater sie seine Enttäuschung über ihr Verhalten (zumindest darüber, dass es herauskommt und den Ruf der Familie befleckt) deutlich spüren, was die frühen Entwertungen reaktualisiert und ihre ödipalen Minderwertigkeitsgefühle weiter verstärkt.
Als Joffreys psychische Defekte zunehmend erkennbar werden, kommen wahrscheinlich zusätzliche Schuldgefühle hinzu: Als Nicht-Psychologin könnte Cersei annehmen, dass seine Störung genetisch und damit durch den Inzest bedingt ist.
Summa summarum kann Joffrey von seiner Mutter kaum positive Impulse für seine eigene psychische Entwicklung erwarten.


Joffreys namentlicher Vater, König Robert Baratheon, ist alkoholabhängig (ICD-10: F10.2) und gewalttätig. Einer Anekdote nach, hat er Joffrey bereits als kleinem Kind zwei Milchzähne ausgeschlagen, nachdem dieser eine Katze grausam getötet hatte (ein erstes Frühzeichen der späteren Störung des Sozialverhaltens).
Robert ist dem Suff wohl aus allgemeiner Enttäuschung über sein Leben anheimgefallen. Diese verbindet ihn mit seiner Vernunftehefrau Cersei, wofür beide sich gegenseitig beschuldigen und hassen.
Seine wahre Liebe, Ned Starks Schwester, wurde getötet. Seine Trauer reagierte er in einem Krieg zur Eroberung des eisernen Throns ab (man nennt diese Kanalisierung von unangenehmen Emotionen in Richtung auf ein konstruktives Ziel Sublimierung), was kurzfristig die Lebensfreude zurückbringt. Doch spätestens als alle Feinde besiegt sind, kehren Trauer und Enttäuschung zurück. Was Robert bleibt ist die Flucht in den Rausch, in dem er von den längst vergangenen Tagen als schöner Jüngling, stolzer Weiberheld und unbesiegbarer Krieger träumen kann. Das verlorene Gefühl der eigenen Attraktivität kauft er sich bei Prostituierten und den ausbleibenden Triumpf auf dem Schlachtfeld versucht er durch die Erniedrigung Untergebener, wie Cersei oder Jaime, zu kompensieren.
Vielleicht dient er damit bereits Joffreys späterem Sadismus als unfreiwilliges Vorbild.

Robert weiß nicht, dass Joffrey nicht sein wirklicher Sohn ist. Falls er es geahnt hat, scheint er dies gut verdrängt zu haben. Hätte er den Verdacht aufkommen lassen, hätte er handeln müssen, und dazu ist er zu Beginn der Handlung von Game of Thrones bereits zu lebensmüde.
Da Robert nicht der Mann ist, der er werden wollte, wünscht er sich, dass sein Erstgeborener der Mann wird, der er selbst in seiner melancholisch verklärten Erinnerung gewesen sein will. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass Joffrey diesem Ideal an Mannhaftigkeit und Edelmut nicht gerecht werden kann, macht er keinen Hehl. Mit der an sich richtigen Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass Joffrey (zumindest noch) nicht reif dafür ist, den Thron zu besteigen, fügt er diesem posthum eine letzte schwere Kränkung zu.

Das Selbstbild eines Kindes entsteht maßgeblich aus den bewussten und unbewussten Zuschreibungen anderer, in erster Linie der Eltern. So wie sich Tywins Erwartungen und Entwertungen in Cerseis Charakter niedergeschlagen haben, wird auch Joffreys Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern geprägt.
In diesen erlebt er einerseits deren völlig überhöhten Erwartungsdruck: Er soll stark, mutig und schön werden, wobei bereits hier die Wünsche der Eltern auseinandergehen (eine Manifestation der jeweiligen familiären Größenfantasien) und somit nie vollständig zu erfüllen sind. Durch sein Lennisteraussehen, für das er nun gar nichts kann, gefällt er zwar der Mutter, verstärkt aber die Distanz zum Vater. Auch die Karriereansprüche der Eltern an den Sohn (Herrscher auf dem eisernen Thron, König der Andalen und der ersten Menschen, Herr der sieben Königslande, Beschützer des Reiches…) wirken narzisstisch überzogen und setzen den Jungen von Geburt an unter Druck.
Andererseits nimmt Joffrey unbewusst auch die massiven Konflikte, Zweifel, Enttäuschungen und Schamgefühle seiner Eltern wahr, insbesondere auch gegenüber ihm selbst, was nagende Selbstzweifel in den Tiefen seiner Seele verankert, die er durch sein arrogantes Auftreten (in erster Linie vor sich selbst) verbergen muss.

Joffrey ist damit das, was in der Familienpsychotherapie als Indexpatient bezeichnet wird: In seiner Symptomatik manifestieren sich die Störungen und Konflikte des gesamten Familiensystems. Seine auffallende Pathologie, über die sich alle anderen irgendwie einig sein können, ermöglicht die Verdrängung und Verleugnung der eigenen individuellen und systemischen Störungen. Im Umkehrschluss werden an den Indexpatienten unrealistische Hoffnungen auf eine umfassende Heilung des ganzen Familiensystems geknüpft (wenn er nur nicht so, sondern anders wäre…).

So wächst Joffrey mit großen Selbstzweifeln und gleichzeitig in dem unbewussten Glauben auf, dass es allein seine Aufgabe sei, die beiden psychisch kranken und unglücklich verheirateten Eltern stolz und glücklich zu machen sowie deren individuelle Schuldgefühle und Selbstzweifel zu kompensieren, die chronisch machtbesessenen Dynastien der Baratheons und Lennisters zu vereinen, einen Vielvölkerstaat aus historisch verfeindeten Clans zusammenzuhalten, das Reich gegen Armeen magischer Kreaturen zu schützen und noch vieles mehr. In der Pubertät verliert er dann noch seinen Vater und erfährt zu guter Letzt, dass dieser gar nicht sein Vater war und er somit, in der westerosschen Terminologie, ein Bastard ist.

Da kann man schonmal ein bisschen arschig werden.

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Der Herr der Ringe: Gollum

Über Gollum wissen wir, von der triologischen Verfilmung des Herrn der Ringe ausgehend, zunächst einmal eines: Er ist getrieben vom Wunsch, den Einen Ring zu besitzen. Dieser Wunsch ist so übermächtig, dass das ganze Leben, die ganze Persönlichkeit Gollums darauf ausgerichtet zu sein scheint. Gollum ist süchtig nach dem Ring.

Die internationale Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10, WHO, 2010) legt für die Diagnose eines stoffgebundenen Abhängigkeitssyndroms (F19.2) fest, dass mindestens drei der folgenden Kriterien längerfristig erfüllt sein müssen:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzgebrauch trotz schädlicher Folgen
Der „Konsum“ des Ringes besteht für Gollum (und auch die anderen Konsumenten: Isildur, Bilbo, Frodo) im bloßen Besitz (Sauron hingegen scheint eher ein instrumentelles Interesse an der militärischen Macht des Ringes zu haben). Die Benutzung des Ringes und die damit einhergehende Unsichtbarkeit sind offenbar von untergeordneter Bedeutung. In diesem Sinne ist bei Gollum ein starkes, ja übermächtiges Verlangen, sein Suchtmittel zu konsumieren, deutlich festzustellen.
Kontrollverlust über Dauer und Menge des Konsums des Ringes ist dagegen schwer nachzuweisen, da man ihn nur entweder besitzen kann, oder nicht. Jedoch werden wir im Verlauf der Filme Zeuge davon, wie Gollum, um seine aufkeimende Freundschaft zu Frodo zu schützen, zeitweise versucht, gegen seine Sucht anzukämpfen, was, wie wir wissen, letztlich erfolglos bleibt.
Ein körperliches Entzugssyndrom, wie es die meisten psychotropen Substanzen früher oder später mit sich bringen, lässt sich für den Ring nicht feststellen. Der Konsum selbst scheint sich, nebenbei bemerkt, kurzfristig negativ auf die körperliche Gesundheit auszuwirken (Gollum, und im Verlauf der Filme zunehmend auch Frodo, sind in erschreckender physischer Verfassung), langfristig aber das Leben zu verlängern.
Da uns die subjektive Wirkung des Ringes auf seinen Träger nicht wirklich beschrieben wird, ist es schwer, eine mögliche Toleranzentwicklung zu beurteilen. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass der Besitz des Ringes zunächst mit höchst positiven Gefühlen, die an eine Manie erinnern (Aktivierung, Tollkühnheit, Größenwahn etc.), einhergeht (was vermutlich zum hohen Suchtpotential beiträgt). Vor allem Isildur, aber auch der junge Gollum (der damals noch Smeagol hieß), zeigen diese Symptome. Bei fortgesetztem Konsum (die Dosis des Einen Ringes ist ja, wie gesagt, unveränderbar) scheinen die positiven Gefühle immer mehr abzunehmen und es treten (wie bei vielen euphorisierenden Drogen) zunehmend gereizte und paranoide Stimmungen in den Vordergrund. Somit ist eine gewisse Toleranzentwicklung bzgl. der erwünschten Wirkung festzustellen.
Die Aufgabe anderer Interessen bei hohem Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum des Suchtmittels können wir bei Gollum im Extrem beobachten: Sein ganzes Leben, all seine Aktivitäten und Anstrengungen, zielen letztlich auf den Besitz des Ringes ab. Davon vermögen ihn auch die beträchtlichen schädlichen Folgen seines Suchtverhaltens nicht abzubringen: Er tötet seinen besten Freund (Beschaffungskriminalität), wird sozial ausgegrenzt, vernachlässigt seine Gesundheit, lebt völlig isoliert in bitterster Armut, wird gefangen, geschlagen und gefoltert und opfert letztlich auch die Aussicht auf einen neuen Freund (Frodo), der ihn und sein Schicksal verstehen und akzeptieren könnte, der Gier nach dem Ring.
Jenseits der, diagnostisch somit gesicherten, Abhängigkeitserkrankung, zeigt Gollum noch weitere Symptome (in welchen er sich von den anderen Ringträgern unterscheidet): Zunächst fällt uns seine bizarre Sprechweise auf. Er spricht von sich in der ersten Person Plural, scheint im Dialog mit seinem „Schatz“ zu stehen, benutzt Neologismen (Hobbitse, Orkse). Außerdem zeigt er seltsame, stereotype Bewegungsmuster und Körperhaltungen (z. B. stundenlanges Sitzen in der Hocke, den Blick in die eigene Handfläche vertieft).
Diese Symptome (die zunächst ein sog. Prodromalstadium darstellen) wachsen sich im weiteren Verlauf zu einer manifesten Psychose aus: Gollum hat optische und akustische Halluzinationen in Form eines bösen Alter-Egos, auf welches er seine süchtigen, brutal-egoistischen Selbstanteile projiziert. Angesichts der jahrelangen Abhängigkeitserkrankung, können wir davon ausgehen, dass es sich um eine Psychotische Störung infolge des Substanzkonsums (ICD-10: F19.5) handelt.
Und als wäre das noch nicht genug, leidet der arme Gollum, ebenfalls infolge des gesundheitlichen Abbaus im Rahmen seiner Sucht, noch an einem chronischen vokalen Tic (ICD-10: F95.1): Seit vielen Jahren muss er mehrmals täglich, unwillkürlich, plötzlich und wiederholt den Laut „Gollum“ ausstoßen, dem er seinen stigmatisierenden Namen verdankt.
In Gollums psychotischer Ich-Spaltung wird das Wesen der Sucht exemplarisch deutlich: Verängstigte, einsame, hilflose Persönlichkeitsanteile (die sich auch später noch Smeagol nennen, was auf dessen prämorbide Persönlichkeitsstruktur verweist) finden in der Sucht eine starke, selbstbewusste, beschützende und versorgende Instanz. Diese ist jedoch trügerisch und kann jederzeit massiv bedrohlich, entwertend und beschuldigend werden, was die ursprünglichen Gefühle von Angst, Einsamkeit und Hilflosigkeit wiederum verstärkt.
Die ganze Figur des Gollum kann somit als Metapher auf den Teufelskreis der Sucht verstanden werden: Zunächst können negative Gefühle kompensatorisch durch angenehmere ersetzt werden. Diesen folgen jedoch irgendwann Scham- und Schuldgefühle. Der daraus entstehende Impuls, sich loszusagen, löst erneut die primären negativen Gefühle aus. Mit jeder Niederlage im Ankämpfen gegen die Sucht, werden Scham und Schuld und der Zweifel daran, das Leben ohne den Suchtstoff bewältigen zu können, stärker.
Wenngleich Gollum dem Ring völlig verfällt und schließlich an seiner Sucht zugrunde geht, scheint, wie bei jedem Suchtmittel, auch das Abhängigkeitspotential des Ringes interpersonell unterschiedlich groß zu sein:
Isildur nutzt den Ring um sich besser und stärker zu fühlen, ähnlich einer Partydroge oder einem Aufputschmittel zur Leistungssteigerung. Sein Risiko, langfristig abhängig zu werden, wäre hoch, fände er nicht im Rausch einen frühen Tod.
Bilbo steckt den jahrzehntelangen Besitz des Ringes offenbar recht unbeschadet weg und kann ihn, trotz zwischenzeitlich beträchtlichen Widerwillens, schließlich abgeben. Danach setzt jedoch ein rapider und stetiger körperlicher Verfall ein. Bilbo erinnert somit an einen Spiegeltrinker, der über lange Zeit konsumiert, ohne dabei vollständig die Kontrolle zu verlieren. Ohne seinen Suchtstoff fällt es ihm allerdings schwer, ein angemessenes Funktionsniveau aufrecht zu erhalten und die körperlichen Langzeitfolgen machen sich umso deutlicher bemerkbar.
Frodo zeigt schon früh süchtige Verhaltensweisen und riskiert im Kampf um den Ring schließlich sogar sein Leben. In seinem Fall liegt folglich ein Schädlicher Gebrauch (ICD-10: F19.1) vor. Als er aber vom Ring befreit ist, kann er dies ohne Entzugssymptome und nennenswerte Folgeschäden aushalten, was dafür spricht, dass eine Abhängigkeit im Entstehen begriffen war, aber durch den erzwungenen Entzug noch abgewendet werden konnte.
Sam schließlich scheint am wenigsten suchtgefährdet: Ihm sind der Ring und dessen Wirkung von Beginn an suspekt und er ist regelrecht erleichtert, ihn wieder loszuwerden. Er trägt den Ring aus Verantwortungsgefühl, ähnlich jemandem, der aus sozialen Beweggründen Drogen konsumiert, vor deren Wirkung er aber eigentlich Angst hat und die ihm auch nicht schmecken. Da der „Gruppenzwang“ zum Tragen des Rings für Sam einmalig bleibt, besteht weiterhin keine Suchtgefahr.
Wer warum wie auf einen Suchtstoff reagiert, ist eine Frage von extremer psycho-physiologischer Komplexität, die auch im Herr der Ringe (in der Realität sowieso) nicht abschließend beantwortet werden kann.
Bemerkenswert ist jedenfalls, dass selbst der schwerst süchtige Gollum, nach Jahrzehnten der Misshandlung und Ausgrenzung, durch ein Bisschen Zuwendung und Mitgefühl von Frodo, zu einem ernsthaften, wenn auch letzten Endes erfolglosen, Versuch, gegen seine Sucht anzukämpfen, befähigt wird.
Wie hätte sein Leben wohl ausgesehen, wenn ihm früher jemand die Hand gereicht hätte?
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