The Handmaid´s Tale: Trauma und Dissoziation

TRIGGERWARNUNG: Im folgenden Post geht es um sexuelle Traumatisierung & Dissoziation 
 
In der Serie The Handmaid´s Tale werden ritualisierte Vergewaltigungen durch eine christlich-fundamentalistische Sekte gezeigt, die – leider Gottes – die Herrschaft in einer dystopischen Zukunftsvision der USA übernommen hat. Unzählige Frauen werden Opfer dieser menschenverachtenden Praxis, auch unsere Protagonistin June, die in einem eindrucksvollen Monolog (S2E10) schildert, wie sich das anfühlt:
„Du siehst es wie eine Arbeit. Eine unangenehme Arbeit, die man so schnell wie möglich hinter sich bringt. Küssen ist verboten, das macht es erträglich. Man trennt sich ab. Man beschreibt. Ein Akt der Kopulation, evtl. der Befruchtung. Es bedeutet Dir nicht mehr als einer Blume die Biene. Du stählst dich, du gibst vor, nicht anwesend zu sein, nicht im Fleisch. Du verlässt Deinen Körper.“ 
Was June hier beschreibt, ist eine häufige psychische Reaktion von Opfern traumatischer Gewalterfahrungen und wird Dissoziation genannt. Grundsätzlich, d.h. im Normalzustand, sind die verschiedenen Funktionen unserer Psyche – z.B. Denken, Erinnern, Sinneswahrnehmung (Sehen, Hören, Schmecken, Riechen, Fühlen) und Identitätsgefühl – integriert, d.h. sie passen zusammen: Ich sitze im Sessel meines Büros, fühle das Polster an Armen, Beinen und Gesäß, höre den Regen an das Fenster prasseln, rieche den bekannten Geruch. Ich sehe den Raum, den ich kenne. Ich weiß wo und wann ich mich befinde, weiß, dass ich schon oft hier war und weiß auch, wer ich bin und warum ich immer wieder hierherkomme, usw
In traumatischen Situationen kann es jedoch sein, dass unsere Psyche überfordert wird. Was wir erleben ist mehr, als wir verkraften können: Todesangst, Scham, Ekel, Verzweiflung, Hilflosigkeit, körperlicher Schmerz… 
Die Dissoziation, bei der einzelne psychische Funktionen abgespalten werden („Man trennt sich ab“), z.B. das Bewusstsein von der Wahrnehmung des eigenen Körpererlebens („Du verlässt Deinen Körper“) ist ein sogenannter Abwehrmechanismus, ein Selbstschutz der Psyche vor Überflutung mit Unerträglichem. In der Akutsituation kann dies die letzte und einzige Rettung sein, die ein Weiterleben – psychisch und physisch – ermöglicht. 
Auf Dauer jedoch können die abgespaltenen Gefühle zu unerträglicher Anspannung führen und diese wiederum zu einer Vielzahl von Folgesymptomen, wie Ängstlichkeit, Schlaflosigkeit, Depressivität, Aggressivität, emotionaler Taubheit, Selbstbetäubung durch Suchtmittel, Selbstverletzung zur Anspannungsreduktion oder auch Suizidalität mit dem Ziel, den unerträglichen Anspannungszustand und die immer wieder – z.B. durch Flashbacks oder Alpträume – ins Bewusstsein drängenden Erinnerungen oder Gefühle zu beenden. 
In einer Traumatherapie würden diese Symptome in drei Phasen bearbeitet: 
  1. Stabilisierung: In der ersten Therapiephase wird eine vertrauensvolle Beziehung zur Therapeut*in aufgebaut und es werden Strategien im Umgang mit der akuten Symptomatik erarbeitet, die der Patient*in helfen, sich im Alltag und v.a. in akuten psychischen Krisen, selbst effektiver zu stabilisieren, z.B. Entspannungsmethoden, effektives Einfordern sozialer Unterstützung, oder andere Skills. 
  2. Exposition: In der zweiten Therapiephase, können, sofern die Patient*in sich dazu in der Lage fühlt, die traumatischen Erlebnisse, mit allen dazugehörigen psychischen Eindrücken (Erinnerungen, Gedanken, Sinneswahrnehmungen etc.) konkret besprochen und aus der schützenden Distanz der therapeutischen Situation bearbeitet werden. Dadurch soll die Dissoziation aufgelöst und das Erlebte psychisch integriert werden. Jetzt, wo die Patient*in gelernt hat, mit den Erinnerungen und Gefühlen selbstwirksam umzugehen, und Unterstützung und Halt durch die Therapie erfährt, kann das möglich sein, wovor die Dissoziation in der Situation des Traumas noch notwendigerweise geschützt hat. 
  3. Integration/Neuorientierung: In dieser letzten Phase der Traumatherapie geht es darum, über die konkrete Symptomatik hinaus, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden. Was bedeutet es, der Mensch zu sein, dem diese schrecklichen Dinge widerfahren sind? Wie kann mein Leben von diesem Punkt an weitergehen? Was gibt meinem Leben auch und gerade jetzt noch Sinn? Usw. 
Wir können nur hoffen, dass am Ende von The Handmaid´s Tale Gilead fällt und die Mägde eine Chance auf angemessene therapeutische Unterstützung bekommen. Bis dahin können wir uns ja schonmal um unsere eigene, echte Welt kümmern.
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Joker: Im Kern ein Charakterdrama

Ein Gastbeitrag von M.Sc. Psych. Christiane Attig 
Im Genre der Superheldenfilme existieren gefühlt zwei Lager: zum einen gibt es die quietschbunten, CGI-überladenen, humorgespickten Heldengeschichten wie Guardians of the Galaxy oder The Avengers, die vorrangig im alles überschattenden Marvel Cinematic Universe beheimatet sind. Zum anderen gibt es die dunkleren, psychologischeren, ernsthafteren Streifen, die sich weniger um mit Superkräften ausgestattete Helden drehen, sondern die persönlichen Geschichten und Beweggründe ihrer Protagonist*innen in den Fokus rücken. Christopher Nolans Dark Knight-Trilogie, James Mangolds Logan oder M. Knight Shyamalans Split kann man in letztere Kategorie fassen, die nun mit Todd Phillips‘ Joker einen weiteren Eintrag erhält.
Joker erzählt die Geschichte von Arthur Fleck, der gemeinsam mit seiner Mutter Penny in einem wirtschaftlich schlecht gestellten Stadtteil von Gotham City lebt – die Stadt, die Batman ebenfalls seine Heimat nennt und die dieser immer wieder von Kriminalität, Gewalt und Korruption zu reinigen versucht. In Joker existiert Batman allerdings noch gar nicht, denn dieser Film zeigt uns, wie aus Arthur Fleck der Joker wurde: der Erzfeind Batmans, der offenbar aus reiner Freude heraus wahllos Menschen tötet und dadurch Angst und Chaos in Gotham verbreitet. 
Die Darstellung dieser Entwicklung verfügt anscheinend über eine gewisse Brisanz, denn über wenige Filme wurde in den letzten Jahren intensiver sowohl im deutschen und internationalen Feuilleton als auch in der Filmpodcast-Landschaft diskutiert. Kritische Stimmen werfen dem Drehbuch Ideenlosigkeit und Stigmatisierung psychisch kranker Personen vor. Wohlwollende Stimmen sprechen von gelungener Kritik am kapitalistischen System und einer rührenden Darstellung des Protagonisten, die seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Aus der Perspektive der Klinischen Psychologie ist die Entwicklung Arthur Flecks hin zum Joker aber vor allem eines: realistisch. Und vielleicht ist gerade das der Punkt, weswegen die Entwicklung wie „Küchenpsychologie“ wirkt. Achtung: ab hier wird massiv gespoilert! 
In der ersten Szene des Films sehen wir Arthur, der sich für seinen Job vorbereitet: er schminkt sich zum Clown, um in den Straßen Gothams Werbeschilder zu halten und so die Bewohner der Stadt zum Konsum anzuregen. Gleichzeitig erfahren wir durch die Nachrichten, die im Hintergrund laufen, dass sich der Müll in den Straßen der Stadt türmt. Die Regierung spart an den falschen Stellen, die Reichen stecken sich immer mehr Geld in die eigenen Taschen und die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Doch das Leben an der Armutsgrenze ist nicht Arthurs einziges Problem: neben seiner neurologischen Störung, die in Stresssituationen ein Tic-artiges unwillkürliches und ununterdrückbares Lachen hervorruft, leidet er außerdem an Depressionen (und möglicherweise weiteren Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als er von seiner Therapeutin erfährt, dass die finanziellen Mittel sowohl für seine Gesprächs- als auch Pharmakotherapie gestrichen werden, gesteht er ihr, dass es ihm nicht nur schlecht ginge, nein: er habe ausschließlich negative Gedanken. Während er diese jedoch bisher relativ gut im Griff hatte, beginnen diese ihn nach dem erzwungenen Absetzen seiner Psychopharmaka und Psychotherapie zu übermannen. Die soziale Zurückweisung und das Mobbing, das er im Grunde (abgesehen von seiner Mutter und einem seiner Arbeitskollegen) von jeder Person in seinem Umfeld erfährt, kann nicht mehr abgefedert werden und entlädt sich in mörderischen Wutanfällen. Seine ersten Opfer sind mobbende Wallstreet-Yuppies. Ein Dreifachmord im Affekt, der negativ verstärkt wird: die Täter sind tot, die Schmerzen verschwunden.
Im späteren Verlauf des Films erfahren wir mit Arthur, worin seine neurologische Störung und seine psychischen Probleme begründet sind. Einer der früheren Partner seiner Mutter misshandelte Arthur als er ein Kind war, und fügte ihm dabei eine schwere Kopfverletzung zu – ein Trauma, das Arthur bis zur Gegenwart verdrängt hatte. Außerdem war seine Mutter Penny in der Vergangenheit wegen eigener psychischer Störungen in Gothams berühmter psychiatrischen Klinik, dem Arkham Asylum, untergebracht; hier wird eine familiäre Vorbelastung angedeutet. Doch das ist nicht alles: Jahrzehntelang belog Penny ihn bezüglich seiner Herkunft. Arthur, der ohnehin Bindungsprobleme aufweist, fühlt sich letztlich von der einzigen Person, von der er sich geliebt fühlte, verraten. Die Abwärtsspirale, die schon in vollem Gange ist, wird dadurch weiter angeheizt: suizidale Tendenzen und Rachegedanken manifestieren sich immer stärker und gipfeln in der Ermordung seines Idols vor laufenden Kameras. Ein Mord, der eine einzige Inszenierung ist. Ein Mord, der als politisches Zeichen instrumentalisiert wird. Ein Mord, für den Arthur positive Verstärkung in Form von Bewunderung und Glorifizierung erhält. Arthur ist tot, lang lebe der Joker. 
Was wir hier über zwei Stunden zu Gesicht bekommen, ist eine prototypische Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells zur Entstehung psychischer Störungen. Dieses besagt, dass zur Entwicklung solcher Störungen eine angeborene oder erworbene Vulnerabilität die Stressverarbeitungsressourcen des Individuums dauerhaft verringern. Erlebt das Individuum später akute Stressoren, die die Coping-Ressourcen übersteigen ohne dass schützende Resilienzfaktoren vorhanden sind, dann kommt es zur Manifestation der Störung. Arthur ist von Kindesbeinen an beeinträchtigt: er kommt aus wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen, lebt mit einer psychisch beeinträchtigten Mutter, erlebt Kindesmisshandlungen und erwirbt dadurch eine Behinderung, die ihn sozial ausgrenzt. All das hat vermutlich zur Entstehung der Depression beigetragen. Dank Psychopharmaka und Psychotherapie schafft er es jedoch, ein relativ geordnetes Leben zu führen. Als diese Ressourcen wegfallen, sinkt seine Stressverarbeitungskapazität jedoch wieder. Psychische und körperliche Gewalt, Einsamkeit und Wut können nicht mehr adäquat verarbeitet werden und Arthur wird zum Joker.
Joker zeigt somit eine nachvollziehbare und psychologisch plausible Entwicklung seines Protagonisten, mit der die Zuschauenden mitfühlen können. Arthur ist Opfer seiner Umstände: seines sozialen Umfelds, seiner Behinderung, des Wirtschaftssystems, der Regierung. All das ist eine Erklärung, nicht jedoch eine Entschuldigung: Die Verantwortung für seine Taten bleibt stets einzig bei Arthur. Die Verantwortung für den Weg dorthin aber nicht nur. So klagt der Film auch ganz Gotham an, insbesondere die, die die Fäden der kapitalistischen Stadt in der Hand halten, wie die Familie Wayne. Und das bedient letztlich das allgemeine Narrativ der Batman-Geschichte: Gotham bringt den Joker hervor, der Joker und Batman bedingen sich gegenseitig. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.  
„Madness, as you know, is like gravity. All it takes is a little push”, das sagte schon der von Heath Ledger verkörperte Joker in The Dark Knight. Dass dieser Joker, der durch eine dissoziale Persönlichkeitsstörung charakterisiert ist, die logische Fortführung der neuen, von Joaquin Phoenix verkörperten Joker-Iteration sein könnte, ist durchaus denkbar. Einige Einstellungen aus Todd Phillips‘ Film sind sogar offensichtliche Hommagen an The Dark Knight. So kann die Jokergenese über Filme und Inszenierungen hinweg weitergedacht werden. 
Vielleicht ist Joker für manche Menschen zu viel Erklärung. Vielleicht ist manchen Menschen ein mysteriöser Joker lieber. Einer, von dem man überhaupt nicht weiß, warum er so agiert wie er es tut. Einer, von dem man behaupten kann, dass er nun mal einfach „irre“ sei. Joker zeigt aber durch die Nachvollziehbarkeit: Arthur wurde nicht böse geboren. Das Böse gibt es nicht. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu bösen Handlungen in sich. Und letztlich sind wir alle verantwortlich dafür, dass nicht das Böse Überhand gewinnt, sondern Solidarität, Mitgefühl und Verständnis, füreinander und sich selbst.
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Babylon Berlin: Gereon und die Hypnose

Um es gleich klarzustellen, ich fand Babylon Berlin großartig. Stimmt schon, am Anfang wähnt man sich kurz in einer dieser ungelenken Schauspielszenen einer ZDF-Historiendokumentation, aber ich glaube, dass ist nur eine Frage der Gewohnheit, denn bereits nach ein, zwei Folgen, entwickelt die spannende Geschichte mit ihren vielen interessanten und zum Teil psychologisch komplexen Figuren ihren Reiz und ließ zumindest mich nicht mehr los. Den Kritikpunkt, dass nicht alles historisch korrekt ist, finde ich irrelevant, da es sich ja nunmal nicht um eine Dokumentation handelt – und inwieweit die Darstellungen in House of Cards, Vikings oder Mindhuntervollständig mit der Realität korrespondieren, interessiert ja auch die wenigsten. Zudem scheint einiges doch auch recht realitätsnah dargestellt zu sein, zumindest wenn man dem sehr interessanten Podcast von Radio Eins 1929 -Das Jahr Babylon glauben darf.

Alles beginnt – wie damals bei den Sopranos – mit einer Psychotherapieszene. Gereon Rath lässt sich hypnotisieren – eine damals gängige Behandlungstechnik bei nervösen Leiden. Hypnotische Trance bezeichnet – entgegen mystifizierenden populärwissenschaftlichen Klischees – einfach einen Zustand der entspannten Fokussierung, das heißt, durch die Konzentration auf bestimmte Reize (Körperwahrnehmungen, die Stimme des Hypnotisieurs, einen sich bewegenden Finger oder ein Pendel etc.) findet eine zunehmende Ausblendung der Vielzahl anderer Reize und Gedanken statt, wodurch innere Ruhe und eine gelassene und dafür umso konzentriertere Fokussierung auf bestimmte Themen, Gedanken, Erinnerungen etc. möglich wird. Für die heutige Psychotherapie hat die Hypnose besondere Bedeutung, nicht weil sie heute noch breit angewendet würde – sie führt eher ein Nischendasein im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie – sondern weil sie sozusagen den historischen Vorläufer der uns heute bekannten Psychotherapie darstellt. 
Im späten neunzehnten Jahrhundert, als es noch keine Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, gab, wurde die damals im Bürgertum vermehrt auftretende Hysterie (eine damals noch unscharf definierte Bezeichnung für eine Vielzahl psychopathologischer Symptome, wie z.B. emotionale Instabilität, psychogene Krampfanfälle, Dissoziation, Panik usw.) von einigen, als progressiv geltenden, Ärzten durch Hypnose zu behandeln versucht. Ein populärer und international angesehener Protagonist dieser Bewegung war der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot (Wikipedia), dessen eindrückliche Behandlungserfolge, oft vor Medizinstudenten und internationalen Kollegen, zwar ebenso wie heutige Showhypnosen einen erheblichen Anteil an Charisma, Showtalent und Suggestibilität der Proband*innen/Patient*innen enthielten, aber dennoch die Hoffnung auf Behandlungsmöglichkeiten psychischer Leidenszustände jenseits von Kältebädern, Lobotomien und anderen mehr oder weniger grausamen Therapien nährten. 
Zwei Bewunderer Charcots in dieser Zeit waren der Wiener Arzt Josef Breuer und sein junger, wissbegieriger Kollege Sigmund Freud. Letzterer reiste gar nach Paris und zeigte sich beeindruckt von Charcots Fallvorführungen. Breuer und Freud begannen ihrerseits die – vor allem, aber nicht nur – Damen der besseren Wiener Gesellschaft im Falle von Hysterie und anderer seelischer Leiden mit Hypnose zu behandeln und hatten damit nicht selten Erfolg, was den Glauben an die Methode zunächst stärkte. Bis schließlich Dr. Breuer die Entdeckung machte, die den Grundstein für die moderne Psychotherapie legen sollte. Er stellte fest, dass auch ohne einer zuvor induzierte hypnotische Trance ein zugewandtes, vertrautes, einfühlsames Gespräch mit der Patientin über Inhalte welche diese als belastend oder beschämend erlebte, zur Reduktion der Symptomatik führte und dass sich dieser Effekt durch wiederholte Gespräche ausbauen und stabilisieren ließ. Heureka! – Die sogenannte „Redekur“ war geboren. Josef Breuer und Sigmund Freud gaben die „Studien über Hysterie“ heraus und begründeten damit die sprechende Psychotherapie. Der Rest ist Geschichte und die Psychotherapie gut hundert Jahre später eine unverzichtbare, vielfältige, evidenzbasierte und noch wie am ersten Tag faszinierende Behandlungsmethode. 
Der Wirkmechanismus der Psychotherapie erschöpft sich allerdings nicht in der beschriebenen zugewandten, offenen, haltgebenden und wertschätzenden Haltung – dem sog. Primärprozess. Sonst wäre Psychotherapie nichts anderes, als eine gute Freundschaft oder Elternbeziehung. Um Psychotherapie wirksam zu machen, bedarf es zusätzlich, gleichsam auf der Basis eines stabilen Primärprozesses, der aktiven Spiegelung, wohlwollenden Konfrontation und Aufforderung zur kritischen Reflektion des Erlebten – des sog. Sekundärprozesses. Seriöse, wissenschaftlich fundierte Psychotherapien zeichnen sich gerade durch die Kombination, das gegenseitige Sich-Bedingen von Primär- und Sekundärprozess aus. Die Unzulänglichkeit von Methoden, die nur auf einen der beiden Prozesse abzielen, liegt auf der Hand. 
Ein Primärprozess ohne Sekundärprozess, also eine perfekt positive Beziehung ohne kritische Reflektion, kann zwar dazu führen, dass sich die Patient*in aufgehoben und verstanden und dadurch zunächst besser fühlt. Es unterbleibt jedoch die notwendige persönliche Weiterentwicklung und auch die Reflektion der therapeutischen Beziehung selbst, so dass es nicht die durch die Therapie angestoßene Entwicklung, sondern die regelmäßigen therapeutischen Gespräche selbst sind, die so gut tun. So kann es zur Idealisierung der Therapeut*in kommen und die Patient*in in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Die eigenen Entwicklungspotentiale und auch die oft notwendige Arbeit an wichtigen Beziehungen außerhalb der Therapie können dadurch blockiert werden, was die Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Ende der Therapie verstärkt und im Bereich der pseudowissenschaftlichen Psychotherapieszene mitunter zu jahrelangen, letztlich ausbeuterischen „Therapien“ auf Selbstzahlerbasis führt. 
Im umgekehrten Fall, also der rein kognitiv-rationalen Reflektion und Erarbeitung von Lösungsansätzen (Sekundärprozess), ohne den Aufbau und die sorgfältige Pflege einer empathischen, die authentische, tiefgehende Selbstöffnung fördernden Beziehung (Primärprozess), lassen sich durchaus Probleme lösen, z.B. das eigene Zeitmanagement verbessern, oder eine Strategie für Verhandlungen planen usw.. Die tiefen, oft unbewussten inneren Konflikte, welche die Umsetzung der vermeintlich einfachen oder klaren Lösungen im Alltag eben oft verhindern, werden jedoch nicht erreicht und die für die Lösung wirklich komplexer, widersprüchlicher, tief scham- und schuldbehafteter Probleme Weiterentwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Darin besteht der Unterschied zwischen Angeboten aus dem Coaching- und Beratungsspektrum und der Psychotherapie als Heilbehandlung.
Auch im Hinblick auf die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, ausgehend von Freuds Arbeit, in den letzten hundert Jahren viel vorangegangen, auch wenn nach wie vor viel zu tun bleibt (Hierzu lohnt immer wieder ein Blick auf das Betroffenenforum themighty.com). Davor, und eben auch noch in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, um damit wieder zum eigentlichen Thema Babylon Berlin zurückzukehren, hatten es psychisch Kranke oft noch viel schwerer, als dieser Tage – zumindest in Deutschland (was es übrigens derzeit wieder zu verteidigen gilt!).
Deshalb muss Gereon Rath heimlich zur Hypnose gehen und setzt zunächst alles daran, seine Krankheit, die damals als Kriegszittern bezeichnet wurde, geheim zu halten, um in der rauen Welt der Berliner Polizei nicht als schwach oder feige wahrgenommen zu werden. Bei den sogenannten Kriegszitterern, oder auch Schüttelneurotikern, oder Flattermännern, wie es Kollege Wolter wenig einfühlsam ausdrückt, handelte es sich überwiegend um vom ersten Weltkrieg traumatisierte Heimkehrer mit dem Krankheitsbild, das wir heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen (Eine auführliche Beschreibung dieses Krankheitsbildes findet sich im Beitrag über Rambo). Wirklich anerkannt wurde diese gravierende mögliche Folge von Kriegseinsätzen erst nach dem Vietnamkrieg. 
Heute stehen zum Glück elaborierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung, während Gereon sich noch mit Hypnose und Morphin, welches durch die sedierende Wirkung das Zittern und die Panik reduziert, aber eben auch ein hohes Suchtpotenzial hat, behelfen musste. Das Zittern ist letztlich eine körperliche Manifestation der panischen Angst, welche die Betroffenen infolge von auslösenden, an die traumatische Situation erinnernden Reizen, sog. Triggern (z.B. einen Pistolenschuss), erleben. Physiologisch werden bei Angst unter anderem Herzfrequenz, Atemgeschwindigkeit und Muskelspannung erhöht, um Energie zum Kämpfen oder Fliehen (das sog. Fight-or-Flight-Syndrom) zur Verfügung zu stellen. Da diese Energie in der Lebenswelt des modernen Menschen selten in der dafür vorgesehenen Weise abgebaut werden kann (bzw. es Gereon ja überraschend gut zu gehen scheint, wenn er tatsächlich kämpfen oder fliehen muss), kommt es zur physischen Übererregung und dem Abbau der Anspannung in Form des unwillkürlichen Zitterns.
Mir würde zu Babylon Berlin noch mehr einfallen, aber da ich heute offenbar Probleme habe, bei der Sache zu bleiben, soll es das erstmal gewesen sein.

Mehr zu Babylon Berlin gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!

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Die Simpsons: Bart

„Kannst du nicht was Konstruktives machen?“ – „Doch aber ich mach lieber was Destruktives!“

Dieser Dialog aus der zweiten Episode der elften Staffel der unsterblichen Simpsons beschreibt nicht nur die Beziehung zwischen Rektor Skinner und Bart Simpson, sondern steht symptomatisch für Barts Verhalten im Allgemeinen.

Bart zeigt alle Merkmale einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1), welche als Kombination einer Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10: F90.0, bekannt als ADHS) und einer Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91) definiert ist.

Bart erfüllt die Kriterien der für die Diagnose maßgeblichen vier Symptombereiche:
  1. Unaufmerksamkeit, z.B. Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten zuzuhören, geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
  2. Hyperaktivität, z.B. Zappeln mit Händen und Füßen, Herumspringen und –klettern in Situationen die Stillsitzen erfordern, allgemein lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
  3. Impulsivität, z.B. Unterbrechen oder stören anderer, Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen, Ungeduld, Unfähigkeit zum Aufschieben eigener Bedürfnisse
  4. Störungen des Sozialverhaltens, z.B. Missachten von Regeln, Verweigerung gegenüber Forderungen von Autoritäten, Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert, Lügen um Strafen oder Verpflichtungen zu umgehen, Zerstörung fremden Eigentums

Wie diese unvollständige Aufzählung zeigt, handelt es sich bei den Symptomen, insbesondere bei denen der ersten drei Punkte (welche ohne Punkt 4 die Diagnosekriterien des einfachen ADHS bilden), um Verhaltensweisen, die jedes Kind immer wieder zeigt und die vor allem bei jüngeren Kindern zum völlig normalen und für die motorische und psychische Entwicklung notwendigen Repertoire gehören.

Als Symptome einer psychischen Störung können diese Verhaltensweisen nur dann gelten, wenn sie zeitstabil, situationsübergreifend und für das Entwicklungsalter des Kindes unangemessen sind.

Wenngleich es Vertreter der Auffassung gibt, dass Aufmerksamkeitsstörungen ausschließlich durch genetisch bedingte Störungen des Hirnstoffwechsels verursacht werden, spricht vieles – inklusive der klinischen Beobachtung – dafür, dass, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine Kombination aus genetischer Veranlagung (der sog. Disposition) und Umwelteinflüssen für die Erkrankung verantwortlich ist.

Eine genetische Disposition ist im Einzelfall schwer nachzuweisen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch Barts Vater Homer Züge einer Aufmerksamkeitsstörung aufweist. Auch er ist häufig unaufmerksam und impulsiv. Hyperaktives Verhalten hingegen können wir bei Homer nur in Ausnahmefällen, wenn er von irgendetwas kurzfristig völlig eingenommen und begeistert ist, feststellen. Dies könnte dafür sprechen, dass bei Homer entweder ein ADHS ohne Hyperaktivität (dann gerne ADS genannt, in der ICD-10 kodiert als Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität F98.8) vorliegt, oder aber dafür, dass er seine Hyperaktivität seit vielen Jahren durch seinen chronischen Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) kontrolliert. In diesem Fall spricht man von Selbstmedikation. Diese ist bei Betroffenen von Aufmerksamkeitsstörungen, vor allem im Jugendalter, nicht selten und funktioniert nachgewiesenermaßen auch mit Nikotin und Cannabis (dennoch ist angesichts der erheblichen sozialen und gesundheitlichen Risiken selbstverständlich davon abzuraten!).

Welche Umwelteinflüsse könnten nun, neben einer möglichen genetischen Disposition, für Barts Störung maßgeblich gewesen sein? Auch hierbei scheint Homer die zentrale Rolle zu spielen. Entwicklungsschädliche soziale Umwelteinflüsse sind vor allem frühe Traumata und misslingende frühe Bindungserfahrungen. Ein Trauma ist ein belastendes oder ängstigendes Ereignis, das tiefe Verzweiflung oder Todesangst auslöst. Dass Bart von seinem Vater wiederholt und zum Teil völlig willkürlich gewürgt wird, könnte von ihm traumatisch erlebt und verarbeitet werden. Aber auch misslingende frühe Bindungserfahrungen, sogenannte Micro-Traumata, liegen zur Genüge vor: Bart wird von Homer beleidigt, beschimpft, belogen, manipuliert, ignoriert, benachteiligt und bedroht. Marge ist dagegen zwar eine sehr einfühlsame und fürsorgliche Mutter, allerdings sind diese Qualitäten für Bart nicht immer verlässlich verfügbar, da sie mit drei Kindern und einem außerordentlich unreifen Mann alle Hände voll zu tun hat. Zeitweise trinkt sie regelmäßig Alkohol um den Tag zu überstehen. Und auch sie gerät angesichts von Barts Verhalten immer wieder an ihre Geduldsgrenzen. Die subtile Ablehnung, die Bart in solchen Momenten auch von ihr erfährt, muss ihn umso mehr schmerzen, als seine beiden Schwestern so überaus pflegeleicht und wohlgefällig sind, dass sein eigenes Fehlverhalten vergleichsweise noch gravierender erscheint.

Man kann in der für Barts Störung typischen Symptomatik einen ambivalenten Versuch des Kindes sehen, mit den unzuverlässigen, sowohl ersehnten, als auch ängstigenden Zuwendungen der Eltern umzugehen. Das ruhelose, impulsive, teils aggressive Verhalten dienst zum Ausagieren der inneren Anspannung aufgrund der Bindungsunsicherheit, zum Erzwingen von Zuwendung durch die oft nicht wirklich aufmerksam-zugewandten Eltern und auch als trotzig-oppositioneller Protest gegen die erfahrene und erwartete Abweisung oder Aggression.

In der zu Anfang zitierten Simpsons-Episode wird Bart mit dem fiktiven Medikament Focusyn behandelt, das überdeutlich an das berühmt-berüchtigte Ritalin erinnert. Ritalin ist der bekannteste Handelsname des Wirkstoffs Methylphenidat, der zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt wird. Methylphenidat erhöht die Verfügbarkeit der Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin im Gehirn und kann sich positiv auf Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Reizhemmung und Selbstkontrolle auswirken.

Obwohl die Leitlinien zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen in Deutschland eine medikamentöse Behandlung immer in Kombination mit Psychotherapie empfehlen, ist die Darstellung der Behandlung bei den Simpsons zwar überspitzt, aber leider nicht ohne Parallelen zur Realität: Vor allem Marge ist eigentlich gegen eine medikamentöse Behandlung, wird aber von Barts Schule und den behandelnden Ärzten davon überzeugt, dass diese die einzige Möglichkeit sei. Zitat des Arztes: „Focusyn reduziert Klassenclownerie um 44%. Wirkungsvoller ist nur sportliche Betätigung.“ Damit spielen die Autoren der Serie auf eine durchaus vorhandene Tendenz zur Verhaltensoptimierung und Intoleranz gegenüber Abweichungen von der Norm an, die auch die anderen Kinder betreffen: Milhouse muss Vitaminpillen nehmen, Martin Hormone, Nelson trägt gar ein Elektroschockhalsband zur Verhaltenskonditionierung.

Auch die Wahnvorstellungen, die Bart durch Focusyn bekommt, zählen zu den möglichen, allerdings äußerst seltenen, Nebenwirkungen von Methylphenidat.

Bei aller Kritik, kann eine medikamentöse Behandlung nach sorgfältiger Diagnostik und in Kombination mit Psychotherapie (und ggf. auch Familientherapie) aber durchaus sinnvoll und für die Betroffenen einen große Erleichterung sein. Insofern sind Marges abschließende Worte, nachdem sie Barts Focusyn abgesetzt hat, gar nicht so unwahr: „Ab heute gibt es nur noch Liebe, Umarmungen und ganz altmodisches Ritalin!“


Mehr über Bart und die anderen Simpsons gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu erfahren

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Flesh and Bone: Claire

Das Titelbild der Starz-Miniserie zeigt eine dünne, fast nackte Tänzerin in düsterer, ebenso fast nackter Umgebung. Der Titel lautet Flesh and Bone. Setting ist das Ballett. Man muss nicht allzu kreativ sein, um sich auszumalen, dass es um Leistungsdruck, Selbstwertprobleme, Essstörungen und sexuellen Missbrauch gehen wird. 
Und – so die Erkenntnis nach den ersten beiden Folgen – so ist es dann auch.
Anders als in der parallel laufenden, heiteren Amazon-Serie Mozart in the Jungle, wo Leistungsdruck und Selbstausbeutung der New Yorker Symphoniker immer wieder durch die Liebe zur klassischen Musik und die auf dieser gemeinsamen Basis entstehenden Begegnungen und Beziehungen belohnt werden, ist der Ballettbetrieb in Flesh and Bone ein feindseliger und traumatisierender Ort, an dem jeder (mehr oder weniger erfolgreich) für sich selbst und (meist weniger erfolgreich) gegen die eigenen Dämonen kämpft.
Diese Dämonen sind Selbstzweifel, Versagensängste, Essstörungen, Drogensucht und Traumata. Schon in der ersten Folge erfahren wir, dass Claire wiederholt sexuell missbraucht wurde – und zwar von ihrem Bruder. Wie viele (aber, entgegen mancher Darstellung nicht alle) Opfer sexuellen Missbrauchs, zeigt Claire Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). 
Sie war, was die Grundvoraussetzung ist, einem Erlebnis von außergewöhnlicher emotionaler Belastung ausgesetzt. Da sich dieses Erlebnis über einen längeren Zeitraum immer wieder wiederholt hat, spricht man von einem Typ-II-Trauma (im Gegensatz zum Typ-I-Trauma, bei dem der Auslöser ein einzelner Vorfall von katastrophalem Ausmaß, z.B. ein Gewaltverbrechen oder eine Naturkatastrophe ist).
Das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln ist besonders hoch bei Typ-II-Traumata, die durch nahestehende Personen ausgelöst werden, wobei es sich meist um körperliche Gewalt, psychischen oder eben sexuellen Missbrauch handelt. Das erhöhte Erkrankungsrisiko ergibt sich vermutlich daraus, dass den Betroffenen oft Mitverantwortung und Schuldgefühle vermittelt werden, die Gefühle gegenüber dem Täter widersprüchlich sein können, sie sich aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Strafe und Stigmatisierung keine Hilfe holen oder das Erlebte durch andere Bezugspersonen infrage gestellt, bagatellisiert oder verheimlicht wird.

Claires posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Form der folgenden, charakteristischen Symptome:

  • Sie erlebt eine starke innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen. Am offensichtlichsten ist dies bei Kontakt zu ihrem Bruder, dem Täter. Aber auch in anderen Situationen, in denen sich ihr Männer ungefragt oder unerwartet körperlich annähern, wie zum Beispiel ihr Tanzlehrer, Tanzpartner oder der Hauptsponsor des Balletts, fühlt sie sich sichtlich sehr unwohl.
  • Folglich versucht sie, entsprechende Situationen zu vermeiden. Sie bleibt gegenüber Männern distanziert und scheint keine Freude daran zu haben, sich verführerisch zu kleiden oder zu flirten.
  • Sie zeigt deutliche Symptome chronisch erhöhter psychischer Erregung, wie Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit) und Schreckhaftigkeit (insbesondere bei Berührungen und im Kontakt mit Männern) sowie Einschlafstörungen.
Drei weitere Aspekte von Claires posttraumatischer Belastungsstörung sind zwar für die Diagnosestellung nicht erforderlich, aber dennoch interessant genug, um eigens thematisiert zu werden.

1. Claire verletzt sich selbst. Selbstverletzendes Verhalten (häufig in Form von Ritzen mit Rasierklingen oder Verbrennen mit Feuerzeugen oder Zigaretten) kann infolge sexuellen oder psychischen Missbrauchs auftreten. Claire schlägt sich mit ihrem Ballettschuh auf den Fuß und das immer in Situationen, die direkt oder indirekt mit ihrem Trauma zu tun haben, nämlich bei Kontakt zu ihrem Bruder, oder wenn sie beispielsweise von ihrem Tanzlehrer erniedrigt wurde, was die alten Scham- und Schuldgefühle reaktualisiert haben dürfte. Dabei scheint die Selbstverletzung den Effekt zu haben, dass intensive der physische Schmerz für einige Momente die noch schlimmeren Gedanken und Gefühle verdrängt und die Situation dadurch erträglicher macht.

2. Claire behandelt ihre Einschlafstörungen indem sie ihren ganzen Körper mit Büchern beschwert. Wie oben beschrieben, sind Schlafstörungen ein typisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Claires Behandlungsmethode ist dagegen eher ungewöhnlich, gleichwohl aber kreativ und scheint für sie gut zu funktionieren. Sie bedient sich dabei (vermutlich ohne dies zu wissen) des therapeutischen Effekts, dass das Gefühl von Schwere mit muskulärer Entspannung assoziiert ist und somit zunächst körperliche und in der Folge auch psychische Entspannung fördern kann. Therapieverfahren die diesen Effekt ebenfalls nutzen sind zum Beispiel die Schwereübung im Autogenen Training oder der Einsatz von Sanddecken in der Körpertherapie.

3. Claire wird als Balletttänzerin ständig retraumatisiert. Ohne dies bewusst zu beabsichtigen, setzt sie sich immer wieder Situationen aus, die mehr oder weniger deutlich an ihre traumatische Missbrauchserfahrung erinnern. Als Tänzerin ist sie Objekt sexueller Begierde, wird auf ihre Physis reduziert, die Persönlichkeit ist uninteressantes oder gar störendes Beiwerk. Ihr Körper wird entblößt, öffentlich zur Schau gestellt, kritisch bewertet, ungefragt angefasst und erbarmungslos geschunden. Dennoch setzt sie alles daran, Tänzerin zu sein und zu bleiben. Psychologen sprechen hierbei von Reinszenierung oder auch von Wiederholungszwang.

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Zum einen ist denkbar, dass Claire durch die ständige Konfrontation mit diesen für sie so unangenehmen Erfahrungen ein hohes Erregungsniveau aufrecht erhält und somit unbewusst verhindert, dass in ihrem Bewusstsein Raum für die Erinnerung an ihr ursprüngliches Trauma und damit für die noch unangenehmeren Gefühle und Gedanken entsteht.

Ein alternativer Erklärungsansatz wäre ein unbewusster Wiedergutmachungswunsch: Claires ursprüngliche Traumatisierung ist geschehen und nicht mehr aus ihrer Lebensgeschichte zu löschen. Indem sie immer wieder Situationen aufsucht, die zwar ähnlich sind, aber im Hier und Jetzt stattfinden, wo sie sich, zumindest theoretisch, verteidigen oder innerlich stärker abgrenzen könnte, versucht sie unbewusst, eine bessere Erfahrung zu machen, sich selbst nicht als Opfer, sondern wehrhaft und stark zu erleben und somit ihre früheren Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Scham zu überwinden.

Die Tragik besteht darin, dass Claire dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, wodurch sie immer wieder von ihrer eigenen Reinszenierung überrascht wird, unvorbereitet in für sie bedrohliche Situationen gerät und ihre alten Wunden umso mehr schmerzen.

Und siehe da: Auf einmal verstehen wir doch, warum Claire sich all dem aussetzt. Warum sie tanzt und tanzt, hinfällt und weitertanzt, als ginge es um ihr Leben. Es geht tatsächlich darum, ob ein neues Leben, auch und gerade mit den alten Wunden, möglich ist. Man darf gespannt sein, wie der Tanz auf Messers Schneide endet.


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Into the Badlands: Trauma als Chance

Die erste Staffel von Into the Badlands scheint erst der Auftakt zu einer längeren Geschichte zu sein und lässt uns über die weitere Handlung und die tieferen Themen, zugunsten des Schwerpunkts auf Ästhetik und Martial Arts-Action, zunächst noch im Unklaren.
Es scheint sich aber eine Reise, möglicherweise eine Art Odyssee, anzukündigen. Die Odyssee im Speziellen und das Motiv der Reise im Allgemeinen werden psychologisch meist als Metapher für die Entwicklung der Persönlichkeit gesehen, bei welcher ebenfalls richtige Wege gefunden, Probleme gelöst, aus Fehlern gelernt, Hürden überwunden und gegen Widerstände beharrt und trotz Frustration und Verzweiflung weitergegangen werden muss. Meist lockt am Ende die Heimkehr, gleichsam die Selbstfindung, und mit der einen wie der anderen ein relativer, zumindest für einige Zeit stabiler, Seelenfrieden.

Wohin die Reisen von Sunny und M.K. in Into the Badlands führen werden, wissen wir noch nicht – die erste Staffel scheint eher dem Zweck zu dienen uns klar zu machen, woher, sprich: Aus welcher äußeren und inneren Situation, die beiden kommen. Die Welt von Into the Badlands ist eine Welt des Traumas, wie uns bereits im Intro der ersten Folge vermittelt wird: Die Kriege liegen so lange zurück, dass sich niemand mehr an sie erinnert. Dunkelheit und Angst regierten das Land… Diese Welt wurde auf Blut errichtet. Hier ist niemand mehr unschuldig

Nahezu alle Protagonisten sind traumatisiert, das heißt, sie waren Erlebnissen und Erfahrungen von außergewöhnlicher Bedrohung und emotionaler Belastung ausgesetzt. 
  • Sunny ist ein Waisenkind und Kindersoldat, der bereits als Knabe töten musste um nicht selbst getötet zu werden und bis heute unzählige Male dazu gezwungen war.
  • Gleiches gilt für Quinn.
  • M.K. wurde entführt, seine Angehörigen ermordet.
  • Auch Ryder wurde entführt und dabei noch gefoltert.
  • Tilda wurde sexuell missbraucht.
  • Veil verliert ihre Eltern auf brutale Weise.
Und das ist nur das, was wir bisher wissen…
In der Psychopathologie unserer Welt werden verschiedene psychische Störungen beschrieben, die als Reaktion auf ein Trauma auftreten können.

Die wohl geläufigste in diesem Zusammenhang ist die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), die sich unter anderem durch Alpträume, Flashbacks (lebhafte, traumartige Erinnerungen während des Wachseins), erhöhte Schreckhaftigkeit, innere Anspannung, Reizbarkeit und Impulsivität auszeichnet, so wie wir sie bei Sunny und M.K. beobachten können.
Bei länger andauernden oder wiederholten Traumatisierungen kann anstelle oder infolge einer Posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) auftreten. Diese kann durch eine feindselige oder misstrauische Grundhaltung, sozialen Rückzug, chronische innere Anspannung sowie Gefühle von Bedrohung durch Andere, Entfremdung, Leere, Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel gekennzeichnet sein. Ein solches Symptombild erkennen wir bei Ryder, der das Trauma seiner Entführung vielleicht deshalb so schlecht verarbeitet hat, weil er zusätzlich den ständigen Zweifeln und Entwertungen seines Vaters ausgesetzt war.
Ebendieser Vater, Quinn, wiederum zeigt eine weitere psychische Störung, deren Auftreten durch traumatische Erlebnisse zumindest begünstigt werden kann. Indem er seine eigenen Gefühle mit Opium betäubt und sich so das für seine Gewaltherrschaft nötige Selbstbewusstsein künstlich zuführt hat er ein Opioid-Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F11.2) entwickelt.


Zumindest für Sunny und M.K. besteht allerdings noch Hoffnung. Der Leidensdruck des unverarbeiteten Traumas ist der Motor des Aufbruchs zur Veränderung. Ob man die Badlands verlassen will, oder sich seinen Traumata in einer Psychotherapie stellen muss, immer ist der Erfolg ungewiss und die Vorstellung vom Ziel allenfalls vage. Doch nur wer sich auf die Reise begibt, hat die Chance, zu sich selbst zu finden.
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True Detective: Ani



Starke weibliche Hauptrollen sind in Mainstreamfilmen und -serien rar gesät. Antigone „Ani“ Bezzerides aus der zweiten Staffel von True Detective bildet hier eine rühmliche Ausnahme.

Ebenso wie Ray, Frank und Paul, scheint auch Ani auf der Flucht vor einer dunklen Vergangenheit zu sein (passend dazu: Der Titelsong never-mind des großen Leonard Cohen). Allerdings hat Ani, im Gegensatz zu ihren männlichen Mit- und Gegenspielern, nicht selbst etwas Schreckliches getan, sondern flieht vor der Erinnerung an etwas, das ihr angetan wurde.
Dabei können wir bei Ani eine Reihe typischer psychischer Abwehrmechanismen erkennen:
  • Verdrängung: Als Verdrängung wird das (vollständige oder teilweise) Vergessen des Erlebten bezeichnet. Ani scheint sich zwar zu erinnern, dass sie als Kind in der Kommune ihres Vaters sexuell missbraucht worden ist, die Details der Erinnerung scheinen aber zunächst verdrängt zu sein.
  • Reaktionsbildung: In der Missbrauchssituation hat sich Ani wehrlos und schwach erlebt. Als Erwachsene arbeitet sie hart daran, sich immer genau gegenteilig zu fühlen. Das nennt die Psychologie Reaktionsbildung. Sie trainiert hart, trägt immer Messer bei sich, ist eher aggressiv als ängstlich. Auch ihre Berufswahl (Polizistin) lässt den Wunsch nach Stärke und Selbstsicherheit erkennen. Über ihre sexuellen Vorlieben erfahren wir nichts genaues, es wird aber in der ersten Folge angedeutet, dass sie auch hier in der Lage ist, ihren Sexualpartner ziemlich einzuschüchtern.
  • Projektion: Wir wissen nicht genau, inwieweit Anis Sorge um ihre in der Erotikbranche tätige Schwester berechtigt ist. Sollte es so sein, wie ihre Schwester behauptet, dass sie nämlich selbstbestimmt nur das tut, was sie möchte, könnte Anis Sorge um sie zum Teil eine Projektion sein. Das bedeutet, Ani überträgt ihr eigenes Gefühl, Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein, auf ihre Schwester und kann dann versuchen, diese zu beschützen, nun da sie eine toughe Polizistin ist, während sie sich selbst als kleines Mädchen nicht schützen konnte.
  • Sensation Seeking: So nennt man Verhaltensweisen, die zum Ziel haben, ständig starke äußere Reize zu erzeugen um dadurch die Situation zu vermeiden, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen und damit möglichen schmerzhaften Gefühlen oder Erinnerungen zuwendet. In Anis Fall sorgt sie durch Trinken, Rauchen, exzessives Arbeiten und Sex dafür, möglichst nicht zu Ruhe zu kommen.
Häufig lassen sich solche intensiven Abwehrkonstellationen nicht ewig aufrechterhalten. Auch Ani wird im Verlauf der Serie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Undercover als Prostituierte schleicht sie sich auf eine geheime Sexorgie. Durch die Frauen, die sich dort scheinbar willenlos den gierigen Männern unterwerfen, wird sie unmittelbar an ihr Trauma erinnert. Zudem steht sie unter Drogen und schwebt in der ständigen Gefahr enttarnt zu werden. Schließlich wird sie noch von einem Mann direkt angegriffen. In dieser Hochstresssituation bricht die verdrängte Erinnerung an ihr Trauma hervor. Ani erinnert sich plötzlich im Detail an das damals Erlebte. Die Erinnerung kommt in Form eines sogenannten Flashbacks, d.h. Ani sieht die Bilder von damals vor ihrem inneren Auge und empfindet die dazugehörigen Gefühle in der Gegenwart noch einmal. Dies geht soweit, dass sie den Mann, der sie angreift, kurzzeitig für den Täter von damals hält. Doch diesmal ist sie vorbereitet…
Die Psychopathologie spricht hier von illusionärer Verkennung: Die Fehlwahrnehmung eines real vorhandenen Sinneseindrucks. Ani sieht tatsächlich einen Mann, nämlich den Sicherheitsmann auf der Sexparty, verkennt ihn aber als den Mann, der sie vor vielen Jahren missbraucht hat. Dadurch unterscheidet sich eine illusionäre Verkennung von einer Halluzination, bei der kein realer Reiz (Mann) vorhanden ist, der Eindruck (Täter) damit vollständig eingebildet wird.
Von allen Protagonisten der zweiten Staffeln von True Detective erwartet Ani das am wenigsten tragische Ende. Sie ist die einzige, die es schaffen könnte, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, dass sie es schafft, sich Ray anzuvertrauen und über ihr Trauma zu sprechen. Vor allem auch über die, in einem solchen Falle nicht seltenen, Schuldgefühle. Dadurch, dass sie sich Ray öffnet, gibt sie ihm die Möglichkeit, ihr zu sagen, dass sie keine Schuld trägt.
Somit könnte ihre Wunde mit der Zeit heilen.
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Terminator 2: Sarah Connor



Sarah Connor gilt, insbesondere in Terminator 2 – Tag der Abrechnung, als eine der stärksten weiblichen Heldenfiguren des Actionkinos. Dennoch befindet sie sich zu Beginn des Films in einer überaus hilflosen Lage, nämlich zwangseingewiesen in einer geschlossenen forensischen Psychiatrie.

[Insgesamt erinnert die Szene: Starke (rothaarige!) Frau mit geheimem Wissen wird von (männlichen) Autoritäten nicht verstanden und dafür bestraft, ein wenig an die Hexenjagden früherer Jahrhunderte.]
Aber zurück zur Psychologie: Sarah Connor erhält von ihren Ärzten die Diagnose Schizoaffektive Störung und soll mit Thorazine behandelt werden. Thorazine ist der amerikanische Handelsname eines Medikaments mit dem Wirkstoff Chlorpromazin. Chlorpromazin gehört zur Arzneimittelgruppe der Neuroleptika und kann zur Behandlung von Wahn und Unruhe im Rahmen von schizophrenen Störungen eingesetzt werden. Insofern wäre eine Thorazine-Therapie ein denkbarer Behandlungsansatz für Sarah Connor – wenn sie denn eine schizoaffektive Störung hätte.
Eine solche wäre nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F25) gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten von
  • Symptomen einer Schizophrenie, z.B. Wahn   und
  • Symptomen einer Affektiven Störung, also entweder
    • einer Depression (gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebsminderung)   oder
    • einer Manie (situationsunangemessen gehobene Stimmung, Gereiztheit, Antriebssteigerung, Größenwahn)
Fairerweise muss man den (zugegebenermaßen so unprofessionellen wie unsympathischen) Behandlern von Sarah Connor zugestehen, dass der Verdacht auf eine wahnhafte Störung naheliegt, wenn eine Patientin steif und fest der Überzeugung ist, von menschengleichen Robotern aus der Zukunft gejagt zu werden, weil sie die Mutter des designierten Retters der Menschheit sei. Tatsächlich scheint dies näher zu liegen, als ihr ihre Geschichte einfach zu glauben. Da sie im Zusammenhang mit diesen Überzeugungen eine Straftat verübt hat (einen Sprengstoffanschlag auf das Cyberdyne-Labor), scheint auch die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie (i.e. einer psychiatrischen Einrichtung für aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig gewordene oder schulunfähige Täter) angemessen.
Würde es sich bei ihrer Überzeugung tatsächlich um eine Wahnvorstellung handeln, könnte die Behandlung mit Thorazine ihr diese nehmen und sie vor der Begehung weiterer Straftaten bewahren. Zudem wirkt Chlorpromazin sedierend, also beruhigend und ermüdend, so dass Sarahs ängstlich-gereizte Übererregung, welche die Ärzte als manisches Symptom fehldeuten, dadurch ebenfalls behandelt werden könnte.
So machen sich Sarah Connors Behandler im Film zwar durch ihr unprofessionelles aggressiv-entwertendes Verhalten ihrer Patientin gegenüber schuldig. Diagnosestellung und Behandlungsplan an sich sind jedoch nachvollziehbar, da die Ärzte unmöglich wissen (und kaum glauben) können, dass Sarah die Wahrheit sagt.
Die Rahmenhandlung der Terminator-Reihe wirkt phantastisch genug um davon auszugehen, dass eine Situation wie die von Sarah Connor zu Beginn des zweiten Films in unserer Realität nicht denkbar ist. Andererseits haben sich 2013 nicht wenige Kollegen die Frage gestellt, wie sie wohl reagiert hätten, wenn ihnen ein Patient vor den Enthüllungen Edward Snowdens vom Ausmaß der Geheimdienstüberwachungen berichtet hätte…
Sarah Connor hat also keine schizoaffektive Störung, braucht kein Thorazine und gehört nicht in die forensische Psychiatrie. Unbeschadet überstanden hat sie die Ereignisse des ersten Terminator-Films jedoch auch nicht. Zu Beginn der zweiten Teils zeigt sie die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Ein Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, z.B. von einem Terminator gejagt und mehrfach fast getötet zu werden
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, z.B. Tagträume vom Ende der Welt
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, z.B. unverhofft auf der Flucht aus dem Krankenhaus auf genau das Terminator-Modell zu treffen, von welchem man gejagt und mehrfach fast getötet wurde
  • Erhöhte psychische Sensitivität und Erregung, z.B. Gereiztheit, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Impulsivität…
Mithilfe ihres Sohnes und des umprogrammierten T-800 kann Sarah ihr Trauma teilweise überwinden. Wer beides nicht zur Hand hat, dem hätte auch mit einer Psychotherapie im ambulanten oder offenen stationären Rahmen (statt geschlossener Forensik), der vorübergehenden Einnahme eines leichten Beruhigungsmittels bei Bedarf (statt neuroleptischer Dauermedikation) und einer therapeutischen Fokussierung auf die Gefühle von Angst und Hilflosigkeit (statt den Wahrheitsgehalt der Geschichte) geholfen werden können.
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Moby Dick: Ahab



Kapitän Ahab, in der 1956er Verfilmung von Moby Dick gespielt von Gregory Peck, ist ein finsterer Geselle. Seit der weiße Wal ihn entstellt und fast getötet hat, jagt er ihm durch die sieben Weltmeere nach, besessen vom Gedanken an Rache und bereit, dafür jedes Menschenleben, auch sein eigenes, zu opfern.

Der Angriff durch den weißen Wal muss für Ahab ein Erlebnis extremer Belastung und Todesangst gewesen sein, im psychologischen Sinne ein Trauma, welches allerdings zum Zeitpunkt der Handlung von Moby Dick bereits viele Jahre zurückliegt.
Lange zurückliegende, aber unverarbeitete Traumata können bei den Betroffenen, wie bei Ahab, zu einer chronifizierten Traumafolgestörung, einer sogenannten Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0), führen. Diese ist zu diagnostizieren, wenn eine Person ein schweres Trauma erlebt hat und später mindestens zwei der folgenden Symptome dauerhaft aufweist:
  • Feindliche oder misstrauische Haltung
  • Sozialer Rückzug
  • Andauerndes Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit
  • Andauerndes Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung
  • Andauerndes Gefühl der Entfremdung (anders als die anderen zu sein), ggf. verbunden mit emotionaler Betäubung
Häufig geht einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung eine Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) voraus und die Symptome beider Störungen können ineinander übergehen. So scheint es auch bei Ahab gewesen zu sein, dessen Schlafstörungen und Alpträume noch immer auf die Posttraumatische Belastungsstörung hinweisen. 
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Bates Motel: Norma oder die Wahrheit über Borderline



Endlich eine überzeugende Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer Fernsehserie! Der Störung, die fast jeder zu kennen glaubt und über die es doch so viele falsche Klischees, gefährliches Halbwissen und stigmatisierende Vorurteile gibt, wie über kaum eine andere.

Zeit, mit einigen dieser falschen Mythen aufzuräumen! Dabei hilft uns die beeindruckende (wenn auch im Dienste eines spektakulären Plots dramatisierte) Darstellung einer „Borderlinerin“ in Bates Motel. Die Rede ist natürlich von Norma Bates, der Mutter des späteren Psycho-Killers Norman Bates.
Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, wie die Störung offiziell in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.31) heißt, zeigt sich bei Norma anhand der folgenden, dauerhaft und situationsübergreifend vorliegenden Symptome:
  • Deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln (Impulsivität)
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Unbeständige und unberechenbare Stimmung
  • Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild und/oder Zielen und/oder Vorlieben
  • Neigung, sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
  • Angst davor, Verlassen zu werden und übertriebene Bemühungen, dies zu vermeiden
  • Anhaltende Gefühle von Leere und/oder Einsamkeit
Norma ist überaus impulsiv und beschwört durch ihre Impulsivität immer wieder Konflikte herauf. In diesen kämpft sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, so dass es im Affekt auch schonmal zum Mord kommt – immerhin geht es ja auch um das Prequel zu Psycho!
Ihre Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere, anhand einer einzelnen Äußerung oder Handlung ihres Gegenübers, radikal umschlagen, wobei das Spektrum von überschwänglicher Zuneigung über eiskalte Ablehnung bis hin zum Tobsuchtsanfall reicht.
Auch Normas Lebensplanung wirkt impulsiv und von tiefgreifender Unsicherheit bezüglich ihres Selbstbilds und ihrer Lebensziele geprägt. So geht sie immer wieder Beziehungen zu Männern ein, mit denen sie schon bald nicht mehr glücklich ist. Bei Problemen stellt sie schnell alles infrage und versucht ihr ganzes Leben radikal umzukrempeln indem sie irgendwo anders ein neues Leben beginnt.
Besonders auffallend – und für die Entwicklung ihres Sohnes Norman prägend – ist Normas panische Angst, von ihm verlassen zu werden. Sie scheint ihren Sohn weniger als eigenständige Person, sondern vielmehr als Teil ihrer selbst zu betrachten, ohne den sie sich leer und unerträglich einsam fühlen würde, was Norma unbewusst durch den Namen, den sie ihrem Sohn gegeben hat, zum Ausdruck bringt. Psychologen sprechen in einem solchen Fall von einem Selbstobjekt: Der andere wird nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern nur zur Sicherung des eigenen Selbstwertgefühls. Beim leisesten Anzeichen für eine mögliche Verselbstständigung ihres Sohnes, reagiert Norma extrem wütend, verzweifelt oder gekränkt und setzt alles daran, Norman durch Schuldgefühle und Angst an sich zu binden.
All diese Erlebens- und Verhaltensweisen sind typisch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Jedoch sind die einzelnen Verhaltensweisen für die Diagnosestellung nicht hinreichend. Erst das zeitstabile und situationsübergreifende Vorliegen des charakteristischen Symptommusters und ein dadurch erheblich beeinträchtigtes persönliches und soziales Funktionsniveau rechtfertigen die Diagnose.
Kommen wir nun zu einigen der vielen Mythen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung:
Borderliner sind Grenzgänger: Das mag in manchen Fällen so sein, die Bezeichnung Borderline-Störung impliziert jedoch nicht, dass Betroffene sich auf oder entlang irgendwelcher Grenzen (welcher denn auch?) bewegen. Der Begriff entstand vor dem Hintergrund der historischen Einteilung psychischer Erkrankungen in Neurosen (leichtere psychische Störungen aufgrund seelischer Konflikte, mit erhaltener Realitätswahrnehmung) und Psychosen (schwere psychische Störungen aufgrund organischer Ursachen, mit gestörter Realitätswahrnehmung). Da die frühen Beschreibungen der Borderline-Störung keiner der beiden Kategorien eindeutig zugeordnet werden konnten, wurden sie als „auf der Grenzlinie“ zwischen Neurose und Psychose liegend angesehen. In der modernen, viel differenzierten Psychopathologie spielen die Begriffe Neurose und Psychose eine weit weniger zentrale Rolle.
Fazit: Borderline ist ein historischer Begriff ohne inhaltlichen Bezug zum heutigen Störungsverständnis.
Borderliner verletzten sich selbst: Tatsächlich sind wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstverletzung (ICD-10) ein mögliches Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In der klinischen Praxis lässt sich selbstverletzendes Verhalten, meist in Form von Ritzen, z.B. mit Rasierklingen, bei vielen Borderline-Patienten beobachten. Häufig dient die Selbstverletzung dem Abbau innerer Spannungszustände oder der Selbstbestrafung bei Scham- und Schuldgefühlen. Dennoch ist selbstverletzendes Verhalten kein notwendiges Kriterium, es gibt durchaus Borderline-Patienten, die sich nicht ritzen (zum Beispiel Norma Bates). Und vor allem ist selbstverletzendes Verhalten kein hinreichendes Kriterium: Ritzen oder andere selbstverletzende Verhaltensweisen können ebenso Symptome anderer psychischer Störungen (zum Beispiel Depressionen) sein oder auch bei an sich völlig gesunden Menschen als vorübergehendes Phänomen in Lebenskrisen, Erregungszuständen oder während der Pubertät auftreten.
Fazit: Borderline ist nicht gleich Ritzen und Ritzen ist nicht gleich Borderline.
Borderliner manipulieren und spalten: Wenn wir Angst haben, geliebte Personen für immer zu verlieren, ergreifen wir alle zur Verfügung stehenden Mittel, um dies zu verhindern. Ein drohendes oder befürchtetes Verlassenwerden kann bestehende Zweifel an der eigenen Liebenswürdigkeit und existenzielle Ängste vor Einsamkeit und Endlichkeit wachrufen. Wenn der innere oder äußere Krieg um geliebt oder verlassen werden tobt, kommen mitunter auch manipulative Waffen wie Schuldvorwürfe, Drohungen und emotionale Erpressung zum Einsatz. Die Spaltung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Leben und Tod kann in solchen Ausnahmesituationen helfen, ein Mindestmaß an Orientierung und Sicherheit zu erhalten.
Fazit: Spaltung und Manipulation sind gängige psycho-soziale Bewältigungsstrategien bei existenzieller Verlassenheitsangst, allerdings geraten Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung tendenziell schneller und häufiger in diesen Zustand (siehe Norma Bates).
Eine Borderline-Störung ist die Folge eines Kindheitstraumas: Wie fast alle psychischen Störungen lässt sich auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung in den meisten Fällen nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Dennoch zeigt die klinische Beobachtung, dass sich in den Biographien von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen überzufällig häufig Gewalt- und Missbrauchserfahrungen finden lassen (wie auch bei Norma Bates), was nahe legt, dass diese einen Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben. Allerdings gibt es auch Borderline-Persönlichkeitsstörungen ohne nachweisbares schweres Trauma in der Vorgeschichte, ebenso wie es viele Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung gibt, die keine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln. Entscheidender als ein schweres Kindheitstrauma scheinen Bindungsstörungen zu sein, das heißt Störungen und negative Muster in der Eltern-Kind-Interaktion, wie emotionale Vernachlässigung, Entwertung oder inkonsistentes Elternverhalten zwischen Vereinnahmung und Zurückweisung. Allerdings treten schwere Traumatisierungen und Bindungsstörungen gehäuft in denselben Familiensystemen auf.
Fazit: Traumata stellen einen Risikofaktor für viele psychische Störungen dar, aber Borderline ist nicht gleich Trauma.
Die Borderline-Störung ist nicht therapierbar: Ob Persönlichkeitsstörungen generell vollständig heilbar sind, oder nicht, ist umstritten. Doch selbst wenn die zugrundeliegenden Erlebensweisen (wie im Falle der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Tendenz zu Impulsivität, emotionaler Instabilität und Angst vor dem Verlassenwerden) nicht vollständig wegtherapiert werden können, bedeutet das nicht, dass Psychotherapie nicht indiziert, sinnvoll und aussichtsreich wäre. Die Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung setzt an der Umsetzung des Erlebens in Verhalten an: Die eigenen Gefühle sollen früher und differenzierter wahrgenommen und analysiert werden können. Dadurch lässt sich das eigene Verhalten besser regulieren und zwischenmenschliche Interaktionen können befriedigender gestaltet werden. Langfristig werden dadurch positivere Beziehungserfahrungen gemacht und Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere können nachreifen. Allerdings fällt es Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen aufgrund ihrer früheren enttäuschenden Beziehungserfahrungen oft nicht leicht, zu Therapeuten Vertrauen zu fassen. Norma Bates gelingt es gar nicht.
Fazit: Es gibt gute und wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren zur erfolgreichen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die allerdings von Therapeut und Patient viel Geduld und Offenheit für neue Erfahrungen erfordern.
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