Den Audio-Mitschnitt vom Vortrag gibt es hier
Vortrag beim 1. Göppinger Stephen-King-Abend am 29.6.2018 in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Christophsbad, Göppingen
Stephen King gilt als Meister des Unheimlichen. Was ist das, dieses „Unheimliche“? Mit dieser Frage hat sich bereits der erste Psychotherapeut, der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud befasst.
Er nähert sich dem Begriff zunächst etymologisch, also von der Wortherkunft her. Heimlich kommt von heimelig, also vertraut, geborgen oder sicher. Somit wäre das Unheimliche etwas, das uns unsicher, möglicherweise bedrohlich erscheint. In der modernen Bedeutung bezeichnet heimlich etwas, das im Verborgenen, nicht offen sichtbar geschieht. Demzufolge wäre das Unheimliche also auch etwas, dass aus dem Verborgenen heraustritt und dadurch sichtbar wird.
Letztere Herleitung deutet bereits an, wie das Unheimliche tiefenpsychologisch verstanden werden kann. Im Film (und auch im echten Leben) ist nicht die offene Bedrohung oder der manifeste Terror, z.B. in einem Kriegsfilm oder Splattermovie unheimlich. Unheimlich ist die nicht wirklich sichtbare, im Verborgenen erahnbare Bedrohung.
Dieses Erleben von Unheimlichkeit beruht, tiefenpsychologisch gesehen, auf einer von zwei möglichen Ursachen, welche zudem nicht selten miteinander einhergehen. Als unheimlich empfinden wir etwas, wenn verdrängte und/oder rational bereits überwunden geglaubte Ängste aktiviert werden.
Darum kann beispielsweise ein Spaziergang über einen Friedhof bei Nacht unheimlich sein: Der Gedanke an den eigenen Tod macht vielen Menschen Angst, wird aber von den meisten Menschen die meiste Zeit des Lebens verdrängt. Das ist gut so, denn so können wir angstfreier ein erfülltes und erfolgreiches Leben leben. Durch den Friedhof jedoch wird die Thematik des Todes stark angesprochen und die damit unbewusst verbundenen Ängste können stärker wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass der Friedhof der Ort ist, an dem sich die Verstorbenen aufhalten. Rational haben die meisten Erwachsenen die Angst vor Geistern, Untoten etc. überwunden – nichts im Weltverständnis eines halbwegs gebildeten Erwachsenen spricht dafür, dass es so etwas geben könnte. Dennoch überfällt viele von uns ein unheimliches Gefühl, wenn wir nachts auf dem Friedhof ein Geräusch oder einen sich bewegenden Schatten wahrnehmen.
Das Unheimliche lauert also unter der Oberfläche des Vernünftigen, es liegt verdrängt unter dem, was gut, schön und wahr scheint. Bei Stephen King ist das meist die Kleinstadt, das Kleinbürgertum, die Angepasstheit – man könnte auch sagen: Das Erwachsene.
Und es sind bei Stephen King meist die Kinder, die als erste erkennen, dass da etwas nicht stimmt, dass da etwas Schauriges, Schreckliches, Unheimliches unter der Oberfläche lauert.
Diese universelle Wahrheit macht Kings Geschichten anschlussfähig: Als Kind wissen wir noch um das Grauen der Welt und verzweifeln an den Erwachsenen, die uns weismachen wollen, es sei alles halb so schlimm. Genau wie das Kind im Märchen Des Kaisers neue Kleider, das als einziges ganz selbstverständlich und wider den absurden Rationalismus der Erwachsenen ausruft: „Er hat doch gar nichts an!“
Weil das alltägliche Grauen der menschlichen Abgründe (solange sie das Kind nicht unmittelbar betreffen) nicht greifbar, aber eben doch erahnbar ist, und selbst da wo es manifest wird, oft zu unaussprechlich ist, um es beim Namen zu nennen, wird es in Monstern, Geistern, Ungeheuern symbolisiert, so wie King es in seinen Geschichten in Untoten, Horrorclowns, mordenden Maschinen und Psychokillern symbolisiert. Der eigentliche Horror aber, und um diesen geht es Stephen King, findet alltäglich tatsächlich zwischen den ganz normalen Menschen statt: Tod, Verlust, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch, Mobbing – sie werden von den Erwachsenen verdrängt, bagatellisiert und rationalisiert, für die Kinder aber sind sie schmerzhaft real. Wir sind heute in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, der kennt diese Rationalisierungen: „Reiß Dich zusammen“, „Das verstehst Du nicht“, „Das ist halt die Pubertät“, „Das geht anderen auch so…“ und so weiter. Aber das sind unzulässige Rationalisierungen und Verharmlosungen: Grausamkeit ist grausam, Schmerz ist schmerzhaft, Gewalt ist brutal – sie zu etwas Normalem, Unvermeidlichem, Logischem zu erklären, ändert daran nichts.
Stephen King erzählt von diesem alltäglichen Grauen meist beiläufig, sozusagen im Schatten des grandiosen, übernatürlichen Horrors. Für die düsteren Seiten der conditio humana gibt es bei King keine Erklärungen, keine einfachen Lösungen. Das macht ihn zu einem großen Erzähler. Wie Hannah Arendt sagt: „Geschichten zu erzählen offenbart Bedeutung, ohne den Fehler zu machen, sie zu definieren.“
Vermutlich brauchte und braucht der Vielschreiber King seine eigenen Geschichten auch, um selbst mit dem Schrecklichen in der Welt zurecht zu kommen. Er scheint ein Mann der Extreme zu sein: Früher alkohol- und drogenabhängig, ergeht er sich heute in intensiven Schimpftiraden auf Twitter, bevorzugt gegen Donald Trump, der ihn – worauf King sehr stolz ist – blockiert hat.
Das Unheimliche, das Schreckliche unter der Oberfläche des als normal Definierten, scheint ihm keine Ruhe zu lassen. Dass die Kinder, denen die Bedrohungen in seinen Geschichten ebenso keine Ruhe lassen, die sie bekämpfen, oft auch gegen die Borniertheit und Bequemlichkeit der Erwachsenen, am Ende meist siegen, ist Stephen Kings Form der Bewältigung seiner eigenen realen Welt. Es ist nicht zu übersehen, dass in seinen Geschichten seine eigene Geschichte verarbeitet und neu geschrieben wird. Oft spielen Autoren wichtige Rollen, meist Kleinstädte in Maine, wie die, in der er selbst aufgewachsen ist. Eltern sind oft abwesend, so wie Kings Vater, der die Familie früh verlassen hat, und seine Mutter die mit finanziellen Sorgen belastet war. Als Kind musste er mit ansehen, wie sein Freund von einem Zug überfahren wurde – wir werden in der heutigen King-Verfilmung Stand By Me eine Szene sehen, die darauf Bezug nimmt.
Sigmund Freud, der Entdecker des Unbewussten hat gesagt: „Jede Phantasie ist ein Wunsch, der realisiert wird, eine Phantasiekorrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“ Die Phantasien Stephen Kings, des Meisters des Unheimlichen, korrigieren auf schreckliche wie wunderbare Weise unsere manchmal ebenso schreckliche Wirklichkeit.
Gerade dieser Tage fällt es uns wieder schwerer, zu verdrängen, dass, unter der noch recht glatten Oberfläche unserer Gesellschaft, Hass und Gemeinheit, Spaltung, Ausgrenzung und Erniedrigung lauern können. Weil sie an die Oberfläche drängen, wie der Clown in Es aus der Kanalisation.
Es wird wohl auch damit zu tun haben, dass die Geschichten des großen Erzählers Stephen King aktuell sowohl in Hollywood wie auch bei serienproduzierenden Streamingdiensten wie hoch im Kurs stehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Serienadaptation von Kings Opus Magnum Der dunkle Turm das neue Game Of Thrones werden könnte. Und das ist gut so, denn wir werden Geschichten brauchen, in denen mutige Kinder uns ein Beispiel geben, indem sie dem Schrecklichen, dem Unheimlichen ins Auge sehen und in denen es immer wieder auch bezwungen werden kann.
Game of Thrones: Die Sieben
Schon wieder Game of Thrones? Nun, die fulminante sechste Staffel hat offenbar auch bei mir großen Eindruck hinterlassen. Außerdem eignet sich Game of Thrones, wie wir schon bei der Viersäftelehre gesehen haben, wunderbar für die Anwendung älterer, etwas mystischerer Theorien.
Bei weitem nicht so alt wie Hippokrates‘ lange überholte Lehre von den vier Körpersäften, aber in der modernen Psychotherapie gleichwohl nur noch selten anzutreffen, sind die klangvollen, spirituellen, fast märchenhaft schönen Theorien Carl Gustav Jungs, Sigmund Freuds bekanntesten Schülers.
Eines der populärsten Konzepte Jungs ist das kollektive Unbewusste. In Ergänzung zum persönlichen Unbewussten, in welchem sich verdrängte Gedanken, Gefühle und Erinnerungen einer Person finden, geht Jung von der zusätzlichen Existenz eines allen Menschen gemeinsamen Unbewussten, in welchem allgemeine gedanklich-emotionale Grundmuster, die sogenannten Archetypen, unabhängig von den persönlichen Erfahrungen eines Menschen, bereits angelegt sind. Das kollektive Unbewusste verbindet und prägt somit alle Menschen, wird aber durch sie auch beeinflusst und verändert.
In Game of Thrones wird die Idee des kollektiven Unbewussten in der Gestalt des dreiäugigen Raben aufgegriffen. Als Bran zum dreiäugigen Raben wird, erhält er auf magische Weise Zugang zu Erinnerungen, die nicht seine eigenen sind, die aber offenbar im kollektiven Unbewussten von Westeros bewahrt wurden.
Derlei magische Fähigkeiten sind in unserer Realität unwahrscheinlich und auch C. G. Jung hätte sie nicht vorausgesetzt. Aber auch schon lange bevor Bran diese Fähigkeit versteht und zu kontrollieren lernt, scheinen sich ihm Inhalte aus dem kollektiven Unbewussten in Träumen, Tagträumen und Visionen aufzudrängen, ebenso wie auch anderen, z.B. Jojen Reed. Vielleicht auch Melisandre, allerdings könnte sie auch einfach nur eine religiöse Fanatikerin sein.
Apropos religiöse Fanatiker: In der Religion der Sieben, welche ja bis zum Ende der sechsten Staffel immer größere Bedeutung gewinnt, ist ein weiteres Konzept C. G. Jungs verarbeitet: Die Lehre von den Archetypen.
Jung ging davon aus, dass sich die personen- und generationenübergreifenden Grundmuster menschlichen Fühlens regelmäßig in Form bestimmter typischer Symbole, der Archetypen, Ausdruck verleihen.
In den sieben neuen Göttern von Westeros können wir klassische jungsche Archetypen erkennen, die uns auch aus den Märchen, Mythen und Religionen unserer Welt vertraut sind. Und da Game of Thrones selbst als veritabler Mythos unserer Zeit gelten kann, sind dieselben Archetypen auch in den Charakteren der Serie verkörpert.
- Der Vater, der für Recht, Ordnung und Gerechtigkeit steht: Ned Stark, Jeor Mormont.
- Die Mutter als Symbol für Fruchtbarkeit, Fürsorge und Barmherzigkeit: Catelyn Stark und immer mehr auch Daenerys Targaryen.
- Die Jungfrau, die Unschuld, Liebe und Schönheit verkörpert: Sansa, Margaery, Gilly und Talisa. Meist verliert die Jungfrau irgendwann ihre Unschuld, was ihr dann zum Verhängnis wird.
- Die alte Weise, welches für Weisheit und Vorsehung steht: Olenna Tyrell, Melisandre und diverse Hexen und Wahrsagerinnen.
- Der Krieger, der Mut und Tapferkeit symbolisiert: Allen voran Jon Snow. Aber auch Brienne und Arya.
- Der Schmied, zuständig für Arbeit, Fleiß und Talent: Gendry, Davos und Sam.
- Und schließlich: Der Fremde, der im Glauben der Sieben den Tod darstellt, aber auch für das Unbekannte und Ungewisse steht und den wir aus anderen Mythen auch in Gestalt des Teufels, des Schattens oder des listigen Schelms kennen. In Game of Thrones begegnet er uns in Form der Whitewalker. Aber auch undurchsichtiger und schelmischer Charaktere wie Tyrion, Littlefinger und Jaqen H’ghar.
Game of Thrones: Watchers, Wildlings, Whitewalkers
Wie jeder gute Mythos, bietet uns Game of Thrones die Möglichkeit, die großen und kleinen, inneren und äußeren, aktuellen und immer wiederkehrenden menschlichen Konflikte zu beobachten. Deshalb nimmt uns die Geschichte so gefangen, deshalb fühlen wir uns den Figuren so emotional verbunden. Dabei schafft es der Mythos, so zentrale Themen anzusprechen, dass wir uns alle darin wiederfinden können und gleichzeitig durch seine Phantastik und Symbolik so offen zu bleiben, dass er Projektionsfläche für die unterschiedlichsten persönlichen Gefühle und Erfahrungen sein kann.
Am Beispiel der Wall, der Mauer, welche die sieben Königreiche vom namenlosen Gebiet jenseits der Mauer trennt, können wir uns die vielfältige Interpretierbarkeit des Stoffes veranschaulichen.
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Die Mauer hat den Zweck eine Gruppe von einer anderen Gruppe zu trennen. Es geht also um Sozialpsychologie. Diese Bedeutungsebene ist auch deshalb offensichtlich, weil sie uns dieser Tage vertraut ist. Wieder einmal kommen auch in unserer Welt vielerorts die Ängstlichen und Einfallslosen auf die Idee, soziale Probleme dadurch fern zu halten, dass man die Menschen, welche am stärksten von ihnen betroffen sind, aussperrt.
Genauso in Westeros. Eine diffuse und schwer zu verstehende (Was ist Wahrheit, was Lüge, was Panikmache?) Bedrohung – die weißen Wanderer – soll mit allen Mitteln ferngehalten werden, dabei werden diejenigen ausgesperrt, die der Bedrohung am nächsten sind – die sogenannten Wildlinge. Mit der Zeit werden die Wildlinge zum Synonym der Bedrohung, selbst unter denen, welche gar nicht mehr an die eigentliche Gefahr, die weißen Wanderer, glauben.
Diesen psychischen Abwehrmechanismus nennt man Verschiebung: Die weißen Wanderer sind derart schauderhaft und bedrohlich, dass ein jeder Westerosi fortan nur noch in Angst und Schrecken leben könnte, sobald er sich der Bedrohung in vollem Umfang bewusst wäre. Schlimmer noch, absolute Hilfs- und Hoffnungslosigkeit würden sich breit machen. Das eitle Treiben der machthungrigen Fürsten, der mühsame Alltag des einfachen Volkes – alles drohte in Sinnlosigkeit aufzugehen.
Die Lösung für einen (vorübergehenden) Seelenfrieden: Die Verschiebung der Angst auf die Wildlinge. Diese sind gerade schaurig genug, aber nicht so übermächtig und mystisch, dass sie nicht durch eine hohe Mauer und ein paar beherzte Grenzer ferngehalten werden könnten.
Die eigene, unerträgliche, rational kaum zu erfassende Angst wird also einer Gruppe von anderen zugeschrieben und in dieser stellvertretend bekämpft. Das sollte uns bekannt vorkommen.
Um aber eine Gruppe von Menschen willkürlich ausschließen und zum Träger allen Übels bestimmen zu können, muss ein weiterer psychologischer Abwehrmechanismus zum tragen kommen: Das Motiv zur Reduktion kognitiver Dissonanz. Als kognitive Dissonanz wird der unangenehme innere Spannungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Teile unseres Denkens, Fühlens oder Handelns nicht mit unseren eigentlichen Grundüberzeugungen konform gehen. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, verändern wir unbewusst unsere Wahrnehmung, um sie wieder stimmig zu machen. So werden die Westerosi, die zufällig nördlich der Linie lebten, auf der willkürlich die Mauer erbaut wurde, zu Wildlingen. Schon dieser Name ist eine Entmenschlichung, in der Konfliktforschung würde man von Opferabwertung sprechen. Für Wildlinge gelten keine Menschenrechte, wer einen Menschen ohne triftigen Grund tötet, muss sich, auch in Westeros, zumindest vor Gericht verantworten. Wildlinge zu töten ist per se eine Heldentat.
So führen die Herrscher von Westeros ihre kleinlichen Kriege und verschließen die Augen, vor der großen gemeinsamen Bedrohung. Die Lösung läge in der Kooperation statt in der Konkurrenz. Im Miteinander, statt im Gegeneinander. Jon Snow hat das erkannt. Aber werden die Mächtigen seiner Welt ihm zuhören?
Damit verlassen wir die sozialpsychologische Ebene und wenden uns der individuellen Interpretationsebene und hier der Tiefenpsychologie zu. Denn wir können die Mauer auch als tiefenpsychologische Metapher verstehen. Als Sinnbild für die innere Verdrängung des Unheimlichen. Mit der Psychologie des Unheimlichen hat sich bereits der Urvater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, befasst. Seiner Beobachtung nach, entsteht das Gefühl des Unheimlichen, wenn unerwartet etwas in unser Bewusstsein vordringt, das wir entweder verdrängt, oder nur vermeintlich und unvollständig rational überwunden haben.
Hinter der Mauer in Game of Thrones lauern weiße Wanderer und Untote, die wir, in beiderlei Hinsicht, als Inbegriff des Unheimlichen verstehen können. Konfrontieren sie uns doch sowohl mit unserer Angst vor Geistern und Halbwesen, die wir längst rational überwunden glaubten, die uns aber im mystischen Halbdunkel einer Game of Thrones-Episode gleichwohl heimzusuchen vermag.
Als auch mit dem Tod an sich, dessen wir uns in seiner Unausweichlichkeit zwar rational bewusst sind, den wir jedoch die meiste Zeit unseres Lebens gekonnt verdrängen, um nicht in Angst und Verzweiflung zu erstarren, sondern unser Leben so leben zu können, als seien wir Herr über unser Schicksal.
Wenn in Gegenwart des Todes, oder der Nacht als seines Sinnbilds, die Verdrängung brüchig wird, suchen wir Trost und Versicherung im Gebet: „Night gathers, and now my watch begins…“
True Detective: Ani
Starke weibliche Hauptrollen sind in Mainstreamfilmen und -serien rar gesät. Antigone „Ani“ Bezzerides aus der zweiten Staffel von True Detective bildet hier eine rühmliche Ausnahme.
Ebenso wie Ray, Frank und Paul, scheint auch Ani auf der Flucht vor einer dunklen Vergangenheit zu sein (passend dazu: Der Titelsong never-mind des großen Leonard Cohen). Allerdings hat Ani, im Gegensatz zu ihren männlichen Mit- und Gegenspielern, nicht selbst etwas Schreckliches getan, sondern flieht vor der Erinnerung an etwas, das ihr angetan wurde.
Dabei können wir bei Ani eine Reihe typischer psychischer Abwehrmechanismen erkennen:
- Verdrängung: Als Verdrängung wird das (vollständige oder teilweise) Vergessen des Erlebten bezeichnet. Ani scheint sich zwar zu erinnern, dass sie als Kind in der Kommune ihres Vaters sexuell missbraucht worden ist, die Details der Erinnerung scheinen aber zunächst verdrängt zu sein.
- Reaktionsbildung: In der Missbrauchssituation hat sich Ani wehrlos und schwach erlebt. Als Erwachsene arbeitet sie hart daran, sich immer genau gegenteilig zu fühlen. Das nennt die Psychologie Reaktionsbildung. Sie trainiert hart, trägt immer Messer bei sich, ist eher aggressiv als ängstlich. Auch ihre Berufswahl (Polizistin) lässt den Wunsch nach Stärke und Selbstsicherheit erkennen. Über ihre sexuellen Vorlieben erfahren wir nichts genaues, es wird aber in der ersten Folge angedeutet, dass sie auch hier in der Lage ist, ihren Sexualpartner ziemlich einzuschüchtern.
- Projektion: Wir wissen nicht genau, inwieweit Anis Sorge um ihre in der Erotikbranche tätige Schwester berechtigt ist. Sollte es so sein, wie ihre Schwester behauptet, dass sie nämlich selbstbestimmt nur das tut, was sie möchte, könnte Anis Sorge um sie zum Teil eine Projektion sein. Das bedeutet, Ani überträgt ihr eigenes Gefühl, Opfer von sexueller Gewalt geworden zu sein, auf ihre Schwester und kann dann versuchen, diese zu beschützen, nun da sie eine toughe Polizistin ist, während sie sich selbst als kleines Mädchen nicht schützen konnte.
- Sensation Seeking: So nennt man Verhaltensweisen, die zum Ziel haben, ständig starke äußere Reize zu erzeugen um dadurch die Situation zu vermeiden, dass sich die Aufmerksamkeit nach innen und damit möglichen schmerzhaften Gefühlen oder Erinnerungen zuwendet. In Anis Fall sorgt sie durch Trinken, Rauchen, exzessives Arbeiten und Sex dafür, möglichst nicht zu Ruhe zu kommen.
Häufig lassen sich solche intensiven Abwehrkonstellationen nicht ewig aufrechterhalten. Auch Ani wird im Verlauf der Serie mit ihrer verdrängten Vergangenheit konfrontiert. Undercover als Prostituierte schleicht sie sich auf eine geheime Sexorgie. Durch die Frauen, die sich dort scheinbar willenlos den gierigen Männern unterwerfen, wird sie unmittelbar an ihr Trauma erinnert. Zudem steht sie unter Drogen und schwebt in der ständigen Gefahr enttarnt zu werden. Schließlich wird sie noch von einem Mann direkt angegriffen. In dieser Hochstresssituation bricht die verdrängte Erinnerung an ihr Trauma hervor. Ani erinnert sich plötzlich im Detail an das damals Erlebte. Die Erinnerung kommt in Form eines sogenannten Flashbacks, d.h. Ani sieht die Bilder von damals vor ihrem inneren Auge und empfindet die dazugehörigen Gefühle in der Gegenwart noch einmal. Dies geht soweit, dass sie den Mann, der sie angreift, kurzzeitig für den Täter von damals hält. Doch diesmal ist sie vorbereitet…
Die Psychopathologie spricht hier von illusionärer Verkennung: Die Fehlwahrnehmung eines real vorhandenen Sinneseindrucks. Ani sieht tatsächlich einen Mann, nämlich den Sicherheitsmann auf der Sexparty, verkennt ihn aber als den Mann, der sie vor vielen Jahren missbraucht hat. Dadurch unterscheidet sich eine illusionäre Verkennung von einer Halluzination, bei der kein realer Reiz (Mann) vorhanden ist, der Eindruck (Täter) damit vollständig eingebildet wird.
Von allen Protagonisten der zweiten Staffeln von True Detective erwartet Ani das am wenigsten tragische Ende. Sie ist die einzige, die es schaffen könnte, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg ist, dass sie es schafft, sich Ray anzuvertrauen und über ihr Trauma zu sprechen. Vor allem auch über die, in einem solchen Falle nicht seltenen, Schuldgefühle. Dadurch, dass sie sich Ray öffnet, gibt sie ihm die Möglichkeit, ihr zu sagen, dass sie keine Schuld trägt.
Somit könnte ihre Wunde mit der Zeit heilen.
Star Trek: Spock & Kirk
Die Star Trek Filme von J. J. Abrams, Star Trek (2009) und Star Trek Into Darkness (2013), rücken das Kennenlernen und die beginnende Freundschaft der beiden Hauptcharaktere Captain James T. Kirk und Commander Spock in dem Mittelpunkt der Handlung.
Wenngleich die beiden eigentlich viel gemeinsam haben (Stolz, beruflicher Ehrgeiz, Verlust eines Elternteils, Schwäche für Lieutenant Uhura…), wird vor allem ihr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Umgang mit Emotionen thematisiert und sorgt immer wieder für Diskussionen und Konflikte zwischen beiden.
Spock, der halb Mensch, halb Vulkanier ist, wurde nach vulkanischem Brauch erzogen. Wie wir von Spocks Vater lernen, haben Vulkanier nicht etwa keine oder weniger Emotionen als Menschen, sondern im Gegenteil, viel stärkere. Durch Wissen und Logik versuchen sie, ihre Emotionen zu kontrollieren, um nicht von ihnen kontrolliert zu werden. Die Indoktrination mit der vulkanischen Philosophie beginnt von klein auf, sodass Spock niemals lernte, Emotionen wahrzunehmen, zu differenzieren oder zu regulieren, sondern nur, sie radikal zu unterdrücken.
Diesen, von den Vulkaniern angestrebten Zustand kennt die Psychologie als psychopathologisches Symptom mit dem Namen Alexithymie, was so viel bedeutet wie Unfähigkeit zum Gefühlsausdruck.
Alexithymie kommt durch Verdrängung zustande. Verdrängung wiederum ist ein psychischer Abwehrmechanismus, mit dem sich das Ich vor unaushaltbaren Emotionen schützt, indem diese ins Unbewusste verdrängt werden. Verdrängung kann komplette Erinnerungssequenzen, z. B. traumatische Erlebnisse, betreffen, oder auch nur die Gefühle, die mit einem Erlebnis verknüpft sind. Im letzteren Fall spricht man auch von Affektisolierung. Diese liegt der Alexithymie zugrunde, bei der die Personen zwar über schmerzhafte Erlebnisse berichten können, aber scheinbar ohne emotionale Beteiligung.
Am Beispiel von Spock, der den Prozess der Verdrängung, welcher beim Menschen in der Regel unwillkürlich und unbewusst abläuft, aktiv trainiert und praktiziert, können wir beobachten, dass Verdrängung nicht mit vollständigem Vergessen oder Löschen gleichzusetzen ist. Spocks Emotionen (sowohl die aktuellen, wie auch die Erinnerungen an vergangene, besonders schmerzhafte) sind in den Tiefen seines Bewusstseins weiter vorhanden und können unvermittelt hervorbrechen, zum Beispiel wenn er provoziert wird.
Es wird deutlich, dass die Verdrängung von Gefühlen und die Fokussierung auf Logik und Rationalität Spocks Leistung im beruflichen Alltag verbessert und ihm dadurch kaum Fehler unterlaufen.
Diese funktionale Komponente macht den psychischen Abwehrmechanismus der Verdrängung auch für uns Menschen so wichtig, da er uns ermöglicht, rational, konsequent und zielorientiert Leistung zu erbringen, wenn es sein muss, und unseren Affekten und Impulsen nicht ständig ausgeliefert zu sein.
Dies ist jedoch auf Dauer anstrengend und wenn es nicht gelingt, Ventile für die (vorrübergehend) verdrängten Gefühle zu schaffen (Genuss, Spiel, Entspannung, oder die bewusste Auseinandersetzung mit ihnen – aus vulkanischer Sicht allesamt unlogisch…), steigt der innere Druck und kann, wie bei Spock, zu umso heftigeren spontanen Gefühlsausbrüchen kommen, oder, wie häufig bei alexithymen Patienten, zu körperlichen Symptomen und Schmerzen infolge der psychischen Anspannung.
Darüber hinaus unterschätzt Spock die soziale Funktion von Emotionen. Seine radikale Affektisolierung, macht ihn für sein (menschliches) Umfeld suspekt, für Rivalen (Kirk) und Feinde (Khan) berechenbar und für seine Freundin (Uhura) unnahbar. Indem er den Kontakt zu seinen Gefühlen blockiert, trennt er die Verbindung zu seinen Mitmenschen, die zu großen Teilen auf emotionsbasierter verbaler und nonverbaler Kommunikation beruht.
Erst als er anfängt zu seinen Gefühlen zu stehen und sie zunehmend zuzulassen wird er von den Seinen akzeptiert (offenbar auch von den Vulkaniern, denn schließlich wird er später deren Botschafter) und kann seine Feinde besiegen.
Wenn Spock (zunächst) das Extrem von Logik, Besonnenheit und der Unterdrückung von Gefühlen verkörpert, stellt Kirk in diesem Punkt seinen diametralen Gegenpol dar. Rationalität und Reflektion sind seine Sache nicht. Häufig handelt er, anstatt nachzudenken und hört dabei auf sein Bauchgefühl.
In Ausnahmesituationen und angesichts scheinbar übermächtiger (aber selbst nicht rational handelnder) Gegner und aussichtsloser Lagen, hat er damit, dank maximalen Einsatzes, hohen Risikos und des Überraschungsmoments oft Erfolg.
Allerdings ist auch er in seinem Verhalten wenig flexibel und zeigt daher auch im Alltag ein von Emotionalität und Impulsivität geprägtes Verhalten, welches ihn hier wiederholt in beträchtliche Schwierigkeiten bringt.
Es entsteht der Eindruck, dass Kirk Emotionen nicht nur nicht vermeidet, sondern im Gegenteil vielmehr ständig auf der Suche nach möglichst intensiven Erfahrungen und Gefühlen ist. Er ist das, was die Psychologie einen Sensation Seeker nennt. Ebenso wie bei der Alexithymie handelt es sich bei Sensation Seeking nicht um eine Krankheit, sondern um eine Verhaltenstendenz, die, je nach Ausprägung, mehr oder weniger Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionalität und des Wohlbefindens mit sich bringen kann.
Sensation Seeking kann sich beispielsweise anhand folgender Verhaltensweisen äußern:
- Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren etc.
- Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. durch einen nonkonformistischen Lebensstil
- Tendenz zur Enthemmung, z. B. durch promiskuitives Verhalten oder Rauschmittel
- Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten
Kirk hatte bereits als Kind ein Faible für schnelle Autos und Regelübertretungen. Er pflegt ganz und gar nicht den Lebensstil, der allgemein für einen Sternenflottenoffizier als angemessen erachtet wird. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt mit Saufen, Kneipenschlägereien und sexuellen Affären mit möglichst exotischen Geschöpfen anderer Spezies. Die Aussicht, bei irgendeinem gefährlichen Einsatz nicht an vorderster Front mitzumischen, scheint für ihn nahezu unerträglich zu sein.
Die Tendenz zum Sensation Seeking ist wahrscheinlich überwiegend genetisch determiniert. Sensation Seeker haben an sich ein eher geringes Grunderregungsniveau (im Gegensatz also zu Vulkaniern!) und benötigen daher starke äußere Reize, um ein angenehmes Maß an Stimulation zu empfinden (sonst drohen Unterforderung und Langeweile).
Hinzu kommt, dass Kirk ohne seinen Vater, dafür aber in dessen übermenschlich heldenhaftem Schatten aufgewachsen ist. Damit ist er von klein auf zum Heldentum verdammt, Mittelmaß und Normalität sind gleichbedeutend mit Versagen.
Dieser narzisstische Konflikt, der Beste sein zu müssen, oder sich als Versager zu fühlen, treibt Kirk beständig dazu an, Rekorde zu brechen, das Unmögliche zu versuchen, sich über Regeln und Wahrscheinlichkeiten hinwegzusetzen.
Da er als Kind nur eine Heldenschablone, aber keinen echten Vater hatte, der ihm Anleitung gab und Grenzen setzte, empfindet er, der zu Großem Geborene, das später fast immer als Kränkung und hat ständig Schwierigkeiten mit Autoritäten.
So ist Kirk mit seinem Alltag als Mitglied eines hierarchischen Militärapparates chronisch überfordert, während er in Ausnahmesituationen, welche die meisten Menschen vor Angst lähmen würden, zu Hochform aufläuft.
Der Streit zwischen Kirk und Spock darüber, ob der Weg des Bauchgefühls oder der Logik der bessere ist, bleibt letztlich unentschieden. Wichtiger scheint zu sein, dass sich beide im selben Moment der Grenzen ihrer jeweiligen Strategien bewusst werden: Als der Macher Kirk (am Ende von Star Trek Into Darkness) alles ihm Mögliche getan hat und alle retten konnte, außer sich selbst, wird er sich seiner Sterblichkeit und der Tatsache bewusst, dass er doch nicht über allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit steht und er bekommt, vermutlich erstmals seit langem, bewusst Angst. Von Spock, dessen Rationalismus sich über die Niederungen der menschlichen Gefühle erhoben zu haben scheint, will er wissen, wie man es schafft keine Angst zu empfinden, doch Spock muss in ebendiesem Moment erkennen, dass er gegen die Angst um seinen Freund, zu dem er nur unfreiwillig eine emotionale Bindung aufgebaut hat, ebenso machtlos ist.
In diesem Sinne können wir die Freundschaft zwischen Spock und Kirk und die Veränderung der beiden durch ihre Freundschaft, als Hinweis zum Umgang mit der uns allen eigenen, innerpsychischen Dialektik von Denken und Fühlen, von Verdrängen und Annehmen, von Reflektieren und Agieren sehen.
Es geht, könnten uns die Filme sagen wollen, nicht darum, die eine Position zugunsten der anderen gänzlich aufzugeben, so wie Kirk und Spock zunächst versuchen, über den jeweils anderen zu triumphieren und ihn so von der Überlegenheit des eigenen Ansatzes zu überzeugen.
Vielmehr liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, die Stärken beider Ansätze zu nutzen, ihre Grenzen anzuerkennen und sie situationsangemessen bestmöglich komplementär einzusetzen. Faszinierend!