Vikings: Ivar & Floki

Ivar der Knochenlose – was für ein schrecklicher Name! Nicht nur weil der arme Junge wie ein Ikea-Regal heißt, nein, viel schlimmer ist sein Beiname der auf die ständige gnadenlose Diskriminierung verweist, die ihm wegen seiner körperlichen Behinderung im Kreise der auf Stärke und Nahkampffähigkeiten basierenden Wikingergesellschaft zuteil wird. 
 

 
Dass diese, seit frühester Kindheit ständig erlebte Entwertung und Kränkung im Selbstwertgefühl eines Menschen tiefste Schäden anrichten kann, ist keine Überraschung.  Selbst sein eigener Vater Ragnar, enttäuscht davon, dass der Sohn nicht dem erwünschten Kriegerideal entspricht, möchte ihn zunächst zum Sterben im Wald aussetzen und straft ihn später, die gesamte Kindheit über, mit Ignoranz und Verachtung. Diese sind mittelbar über Ivar auch an dessen Mutter, Ragnars Frau Aslaug, gerichtet. Oberflächlich betrachtet, weil sie ihm nicht den erwünschten Stammhalter „geschenkt“ hat. Eigentlich geht es jedoch um wesentlich tiefer liegende Eheprobleme, welche die beiden, die sich längst in gekränkter Sprachlosigkeit voneinander zurückgezogen haben, jedoch nie bearbeiten werden. Da ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, dass Aslaug, als liebende Mutter, ihrem gefährdeten und benachteiligten Sohn besonders viel Liebe, Fürsorge und Schutz zuteil werden lassen will. 
Was die ohnehin schon sehr schwierige und eine gesunde Selbstwertentwicklung erschwerende Situation jedoch noch zusätzlich verkompliziert, ist, dass sie dabei über ihr eigentliches Ziel völlig hinausschießt. Statt liebevolle Unterstützung, die Ivar einerseits ein Gefühl von Sicherheit Geborgenheit und Wertigkeit vermittelt, andererseits aber auch seine persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten ernstnimmt und fördernd zur Entfaltung bringt, behandelt Arslaug ihn bis in die Jugend wie das zerbrechliche, völlig schutzlose und abhängige Baby, als welches sie ihn am schwierigen Anfang seines Lebens wahrgenommen hat. Auch von ihr erhält Ivar somit kein realistisches Feedback über seine persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, aber auch Fehler oder Schwächen, welche als Ausgangspunkt für eine psychische und emotionale Weiterentwicklung dienen könnten. Aslaugs Infantilisierung und Idealisierung Ivars, zeigt sich unter anderen daran, dass sie ihn übermäßig lange stillt und erreicht ihren tragischen Höhepunkt, als sie ihn selbst dann noch völlig unkritisch in Schutz nimmt, als er einem anderen Kind mit der Streitaxt den Schädel spaltet („es ist nicht deine Schuld, es ist nicht deine Schuld!“).
Natürlich sollten Eltern ihre Kinder immer lieben, selbst dann wenn diese schreckliche Fehler machen, aber eine adäquate Rückmeldung über das Verhalten (z. B.: „Ivar, mein Sohn, du weißt ich liebe dich und werde immer hinter dir stehen, aber anderen Kindern den Schädel zu spalten ist wirklich überhaupt nicht in Ordnung und ich möchte, dass du das zukünftig unterlässt“), ist wichtig um sich persönlich und sozial gesund weiterentwickeln zu können.
Ivar jedoch lebt in einer überaus verwirrenden Diskrepanz zwischen einerseits totaler Entwertung durch die Gemeinschaft und andererseits völlig überzogener Idealisierung durch seine Mutter. Für seine innere Welt bedeutet dies, dass es nur die absolut überlegenen und die absolut wertlosen Menschen gibt und er als körperlich Benachteiligter ganz besonders davon bedroht ist, in die zweite Kategorie gesteckt zu werden. Somit ist Ivars Selbstwertgefühl ständig von absoluter Zerstörung bedroht und die einzige Rettung davor scheint absolute Überlegenheit zu sein. Eine gesunde Selbstwertregulation (z.B.: „Ich bin im großen und ganzen ganz okay, habe einige besondere Talente, andere Dinge gelingen mir dagegen häufig nicht so gut wie anderen, bisweilen passieren mir schreckliche Fehler, doch ich besitze auch ausreichend positive Charaktereigenschaften und Fähigkeiten um mein Bestes zu geben um daraus zu lernen…“) ist dadurch kaum möglich. 

Psychopathologisch können sich schwere Selbstwertstörungen symptomatisch auf verschiedene Weise manifestieren, z.B. als stark von Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Depressionen. Eine weitere Form von Selbstwertstörung ist die heutzutage berühmt-berüchtigte narzisstische Persönlichkeitsstörung
Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass sogenannte Narzissten sich mit ihrer Störungen wohlfühlen und es nur die anderen seien die darunter leiden würden. Das ist jedoch eine viel zu oberflächliche Sichtweise. Vielmehr ist es so, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung unter einer ständigen latenten aber totalen Bedrohung ihres Selbstwertgefühls leiden. Wie bei Ivar gibt es nur großartig oder absolut wertlos. Daher sind sie sozusagen darauf angewiesen sich selbst stets der eigenen Grandiosität und Größe zu versichern um sich vor der absoluten Selbstwertzerstörung zu schützen. Das resultiert dann in der Überhöhung der eigenen Eigenschaften und Leistungen und häufig auch in der Entwertung anderer. Beziehungen können dann rein instrumentell sein, d.h. andere dienen dazu erniedrigt zu werden (z.B. Ivars Bruder Hvitserk) oder werden nur solange als Gegenüber akzeptiert, wie sie dem eigenen Selvsteert durch Idealisierung dienlich sind (z.B. Ivars Frau Freydis).
 
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) kann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden, wenn mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen: 
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten 
 
Bei Ivar können wir alle genannten Kriterien erkennen und ihm somit eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Ob seine Störung so weit geht, dass er sich tatsächlich selbst für einen Gott hält, oder es lediglich genießt, wenn andere dies tun, bleibt offen. 
 
Apropos Götter: Floki, der Vikings-Charakter, nach dem ich am häufigsten gefragt werde, ist bis Staffel 5 gar nicht verrückt, bloß ein bisschen exzentrisch und sehr religiös. Erst später, nach dem Verlust aller Menschen die ihm wirklich etwas bedeutet haben, hat es den Anschein, dass er eine wahnhafte Störung (ICD 10: F22.0) entwickelt. Andererseits kann in der Welt von Vikings auch nicht ausgeschlossen werden, dass er vielleicht einfach eine Inkarnation des mythischen Loki (Wikipedia) ist und die Götter tatsächlich zu ihm sprechen. Wer weiß das schon? 
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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Skins: Effy

„If you close your eyes, you see darkness. But if you keep them closed for long enough, and concentrate hard, you’ll see light.“
Effy
 
Effy Stonem aus der weniger bekannten, aber sehr sehenswerten, melancholisch-schönen Serie Skins (UK, 2007), ist ein faszinierender, düsterer Charakter. Eine jugendliche Femme fatale, körperlich fast noch ein Kind und doch von der tiefen Traurigkeit und dem unstillbaren Hunger nach Leben und Liebe getrieben, die einen Menschen zerreißen können. Beliebt, begehrt, bewundert – und doch im Innern unsicher und ängstlich. Extravertiert, offensiv und exzessiv in fast jeder Hinsicht – und doch im Innern einsam und entfremdet, ihre wahren Gefühle vor allen, auch sich selbst, verbergend.
Auf der psychopathologischen Ebene zeigt Effy in den ersten beiden Staffeln, in denen sie eher eine Nebenrolle spielt, einen elektiven Mutismus. Diese Störung wird in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F94.0) beschrieben als die Unfähigkeit, in bestimmten Situationen oder mit bestimmten Personen zu sprechen, obwohl geistige Entwicklung, Sprachverständnis und Sprechfähigkeit im Allgemeinen altersgemäß entwickelt sind und in bestimmten Situationen normal gesprochen werden kann.
Interessanterweise wird elektiver Mutismus in der ICD-10 in einem Kapitel mit den Bindungsstörungen aufgeführt und tatsächlich scheint es, als würde Effy durch ihr Schweigen vor allem ganz präzise regulieren, mit wem sie wann und wie weit in Beziehung tritt und wen sie von sich fernhält – dazu später mehr.
In den Staffeln drei und vier wird Effy der Hauptcharakter der Serie und leider auch schwer psychisch krank. Wir erfahren, dass es eine familiäre Vorbelastung von affektiven Störungen (ICD-10: F3) gibt. Hierunter fallen Störungen der Stimmung, also krankhaft gedrückte Stimmung (Depression) sowie krankhaft gehobene Stimmung (Manie) und diverse leichtere und Mischformen dieser Störungen.
In der Serie wird Effys Krankheit als psychotische Depression bezeichnet, damit ist das Krankheitsbild der Schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen (ICD-10: F32.3) gemeint. Zusätzlich zu schweren depressiven Symptomen, wie z.B. gedrückter Stimmung, Freud- und Interessensverlust, Antriebslosigkeit, Leeregefühlen, geringem Selbstwertgefühl und Suizidalität, liegen hier sogenannte psychotische Symptome, also gravierende Verzerrungen der Realitätswahrnehmung, wie z.B. Wahnvorstellungen und Halluzinationen vor.
Damit wird Effys Aktusymptomatik passend beschrieben. Meiner Ansicht nach könnte jedoch Effys Psychodynamik insgesamt auch als beginnende Bipolare Affektive Störung (F31.5) klassifiziert werden. Der Unterschied besteht darin, dass außer der beschriebenen schweren depressiven Episode mit psychotischen Symptomen auch manische oder hypomanische (leichtere manische) Episoden auftreten können. Diese sind gekennzeichnet durch Verhalten wie:
  • Gesteigerte Aktivität und Ruhelosigkeit
  • Soziale Hemmungslosigkeit mit sozial unangemessenem Verhalten
  • Vermindertes Schlafbedürfnis
  • Überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit oder andauernder Wechsel von Aktivitäten oder Plänen
  • Leichtsinniges, riskantes Verhalten
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Interessanter als die formale psychopathologische Klassifikation von Effys Symptomatik ist jedoch, wie so oft, ihre innere Psychodynamik: Was Effy sich, wie jeder Mensch, wünscht, ist Liebe. Wahre, bedingungs- und selbstlose, verlässliche Liebe. Was sie, wie viele Menschen, mehr als alles andere fürchtet, ist verlassen, enttäuscht, verletzt zu werden.
Psychologen nennen das einen unsicher-ambivalenten Bindungsstil: Effy sucht intensiv nach Liebe, versucht, die Menschen durch ihre Extravertiertheit und ihren Charme an sich zu binden – und muss doch gerade die Beziehungen, die ihr besonders viel bedeuten, bis zum Zerreisen auf die Probe stellen, gerade weil sie ihr so viel bedeuten, dass sie den Gedanken, sich weiter einzulassen und die Angst davor, später vielleicht doch verlassen zu werden, nicht aushalten kann.
 
Die Einsamkeit ist ihr ein vertrauter Feind. Ihre Eltern waren nicht verlässlich für Effy da, auch wenn die Mutter sich immer wieder bemüht hat, fehlte es ihr doch an eigener emotionaler Stabilität. Ihr Bruder Tony liebt Effy sehr, ist jedoch – natürlich – mit seinem eigenen Erwachsenwerden beschäftigt und somit kein Ersatz für die fehlende, durch die Eltern nicht gegebene, Stabilität und den emotionalen Halt, den ein Kind braucht. Effys Ersatzfamilie sind – wie für die meisten Jugendlichen in Skins – ihre Freunde.
Folglich erwartet sie von diesen das, was sie von Familien kennt: Oberflächliche Gesellschaft deren Sicherheit gerade darin besteht, dass niemand ihr wichtig genug wird, um sich von ihm abhängig zu fühlen und dadurch verletzbar zu werden. Freunde wie Cook, von dem man immer weiß, dass man nichts zu erwarten hat, sind die sicherste Abwehr gegen Bindungs- und Verlustängste.
Effy selbst beschreibt diese Ambivalenz so: „Sometimes I think I was born backwards, you know, came out my mum the wrong way. I hear words go past me backwards. The people I should love I hate, and the people I hate…”
Freddie dagegen, mit seinem glaubhaften Angebot aufrichtiger und bedingungsloser Liebe, wird Effys vermeidendem Beziehungsmodus gefährlich, fordert ihre abgewehrten Wünsche und Sehnsüchte heraus und muss sich von Effy so hart und wiederholt auf die Probe stellen lassen, dass seine Liebe und er selbst fast daran zerbrechen. Dennoch schafft er es schließlich, das Vertrauen der so unsicheren, verletzlichen, sicherheitsbedürftigen Effy zu gewinnen und für einen kurzen Moment sieht es so aus, als könnte alles gut werden – aber so eine Art Serie ist Skins nicht…
 
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Die Simpsons: Bart

„Kannst du nicht was Konstruktives machen?“ – „Doch aber ich mach lieber was Destruktives!“

Dieser Dialog aus der zweiten Episode der elften Staffel der unsterblichen Simpsons beschreibt nicht nur die Beziehung zwischen Rektor Skinner und Bart Simpson, sondern steht symptomatisch für Barts Verhalten im Allgemeinen.

Bart zeigt alle Merkmale einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1), welche als Kombination einer Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10: F90.0, bekannt als ADHS) und einer Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91) definiert ist.

Bart erfüllt die Kriterien der für die Diagnose maßgeblichen vier Symptombereiche:
  1. Unaufmerksamkeit, z.B. Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten zuzuhören, geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
  2. Hyperaktivität, z.B. Zappeln mit Händen und Füßen, Herumspringen und –klettern in Situationen die Stillsitzen erfordern, allgemein lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
  3. Impulsivität, z.B. Unterbrechen oder stören anderer, Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen, Ungeduld, Unfähigkeit zum Aufschieben eigener Bedürfnisse
  4. Störungen des Sozialverhaltens, z.B. Missachten von Regeln, Verweigerung gegenüber Forderungen von Autoritäten, Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert, Lügen um Strafen oder Verpflichtungen zu umgehen, Zerstörung fremden Eigentums

Wie diese unvollständige Aufzählung zeigt, handelt es sich bei den Symptomen, insbesondere bei denen der ersten drei Punkte (welche ohne Punkt 4 die Diagnosekriterien des einfachen ADHS bilden), um Verhaltensweisen, die jedes Kind immer wieder zeigt und die vor allem bei jüngeren Kindern zum völlig normalen und für die motorische und psychische Entwicklung notwendigen Repertoire gehören.

Als Symptome einer psychischen Störung können diese Verhaltensweisen nur dann gelten, wenn sie zeitstabil, situationsübergreifend und für das Entwicklungsalter des Kindes unangemessen sind.

Wenngleich es Vertreter der Auffassung gibt, dass Aufmerksamkeitsstörungen ausschließlich durch genetisch bedingte Störungen des Hirnstoffwechsels verursacht werden, spricht vieles – inklusive der klinischen Beobachtung – dafür, dass, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine Kombination aus genetischer Veranlagung (der sog. Disposition) und Umwelteinflüssen für die Erkrankung verantwortlich ist.

Eine genetische Disposition ist im Einzelfall schwer nachzuweisen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch Barts Vater Homer Züge einer Aufmerksamkeitsstörung aufweist. Auch er ist häufig unaufmerksam und impulsiv. Hyperaktives Verhalten hingegen können wir bei Homer nur in Ausnahmefällen, wenn er von irgendetwas kurzfristig völlig eingenommen und begeistert ist, feststellen. Dies könnte dafür sprechen, dass bei Homer entweder ein ADHS ohne Hyperaktivität (dann gerne ADS genannt, in der ICD-10 kodiert als Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität F98.8) vorliegt, oder aber dafür, dass er seine Hyperaktivität seit vielen Jahren durch seinen chronischen Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) kontrolliert. In diesem Fall spricht man von Selbstmedikation. Diese ist bei Betroffenen von Aufmerksamkeitsstörungen, vor allem im Jugendalter, nicht selten und funktioniert nachgewiesenermaßen auch mit Nikotin und Cannabis (dennoch ist angesichts der erheblichen sozialen und gesundheitlichen Risiken selbstverständlich davon abzuraten!).

Welche Umwelteinflüsse könnten nun, neben einer möglichen genetischen Disposition, für Barts Störung maßgeblich gewesen sein? Auch hierbei scheint Homer die zentrale Rolle zu spielen. Entwicklungsschädliche soziale Umwelteinflüsse sind vor allem frühe Traumata und misslingende frühe Bindungserfahrungen. Ein Trauma ist ein belastendes oder ängstigendes Ereignis, das tiefe Verzweiflung oder Todesangst auslöst. Dass Bart von seinem Vater wiederholt und zum Teil völlig willkürlich gewürgt wird, könnte von ihm traumatisch erlebt und verarbeitet werden. Aber auch misslingende frühe Bindungserfahrungen, sogenannte Micro-Traumata, liegen zur Genüge vor: Bart wird von Homer beleidigt, beschimpft, belogen, manipuliert, ignoriert, benachteiligt und bedroht. Marge ist dagegen zwar eine sehr einfühlsame und fürsorgliche Mutter, allerdings sind diese Qualitäten für Bart nicht immer verlässlich verfügbar, da sie mit drei Kindern und einem außerordentlich unreifen Mann alle Hände voll zu tun hat. Zeitweise trinkt sie regelmäßig Alkohol um den Tag zu überstehen. Und auch sie gerät angesichts von Barts Verhalten immer wieder an ihre Geduldsgrenzen. Die subtile Ablehnung, die Bart in solchen Momenten auch von ihr erfährt, muss ihn umso mehr schmerzen, als seine beiden Schwestern so überaus pflegeleicht und wohlgefällig sind, dass sein eigenes Fehlverhalten vergleichsweise noch gravierender erscheint.

Man kann in der für Barts Störung typischen Symptomatik einen ambivalenten Versuch des Kindes sehen, mit den unzuverlässigen, sowohl ersehnten, als auch ängstigenden Zuwendungen der Eltern umzugehen. Das ruhelose, impulsive, teils aggressive Verhalten dienst zum Ausagieren der inneren Anspannung aufgrund der Bindungsunsicherheit, zum Erzwingen von Zuwendung durch die oft nicht wirklich aufmerksam-zugewandten Eltern und auch als trotzig-oppositioneller Protest gegen die erfahrene und erwartete Abweisung oder Aggression.

In der zu Anfang zitierten Simpsons-Episode wird Bart mit dem fiktiven Medikament Focusyn behandelt, das überdeutlich an das berühmt-berüchtigte Ritalin erinnert. Ritalin ist der bekannteste Handelsname des Wirkstoffs Methylphenidat, der zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt wird. Methylphenidat erhöht die Verfügbarkeit der Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin im Gehirn und kann sich positiv auf Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Reizhemmung und Selbstkontrolle auswirken.

Obwohl die Leitlinien zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen in Deutschland eine medikamentöse Behandlung immer in Kombination mit Psychotherapie empfehlen, ist die Darstellung der Behandlung bei den Simpsons zwar überspitzt, aber leider nicht ohne Parallelen zur Realität: Vor allem Marge ist eigentlich gegen eine medikamentöse Behandlung, wird aber von Barts Schule und den behandelnden Ärzten davon überzeugt, dass diese die einzige Möglichkeit sei. Zitat des Arztes: „Focusyn reduziert Klassenclownerie um 44%. Wirkungsvoller ist nur sportliche Betätigung.“ Damit spielen die Autoren der Serie auf eine durchaus vorhandene Tendenz zur Verhaltensoptimierung und Intoleranz gegenüber Abweichungen von der Norm an, die auch die anderen Kinder betreffen: Milhouse muss Vitaminpillen nehmen, Martin Hormone, Nelson trägt gar ein Elektroschockhalsband zur Verhaltenskonditionierung.

Auch die Wahnvorstellungen, die Bart durch Focusyn bekommt, zählen zu den möglichen, allerdings äußerst seltenen, Nebenwirkungen von Methylphenidat.

Bei aller Kritik, kann eine medikamentöse Behandlung nach sorgfältiger Diagnostik und in Kombination mit Psychotherapie (und ggf. auch Familientherapie) aber durchaus sinnvoll und für die Betroffenen einen große Erleichterung sein. Insofern sind Marges abschließende Worte, nachdem sie Barts Focusyn abgesetzt hat, gar nicht so unwahr: „Ab heute gibt es nur noch Liebe, Umarmungen und ganz altmodisches Ritalin!“


Mehr über Bart und die anderen Simpsons gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu erfahren

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Hand of God: Pernell

Die Amazon-Serie Hand of God ließe sich wohl unter vielen Gesichtspunkten interessant analysieren. Glaube vs. Rationalität, Rache vs. Vergebung, Stolz vs. Scham – das sind nur einige der behandelten Themen.
Aus psychiatrischer Perspektive sehen wir in Hand of God in erster Linie einen Mann (Richter Pernell Harris) der unter dem Einfluss eines traumatischen Ereignisses (Suizidversuch seines Sohnes) eine psychische Erkrankung entwickelt, deren imposantestes Symptom ein religiöser Wahn ist. Als Wahn bezeichnet die Psychopathologie eine Überzeugung, die nachweisbar unvereinbar mit der objektiven Realität ist, an der die betroffene Person aber dennoch dauerhaft festhält. Wahn beeinträchtigt dadurch die Realitätswahrnehmung und das Alltagsfunktionsniveau. Pernells religiöser Wahn besteht darin, dass er von Gott auserwählt wurde, seinen Sohn zu rächen. Dass Gott ihm Hinweise in Form optischer Wahrnehmungen sendet. Dass er durch Handeln im Sinne Gottes seinen Sohn aus dem Koma erwecken kann.
Darüber hinaus hat Pernell akustische und optische Halluzinationen: Er hört die Stimme seines im Koma liegenden Sohnes (unterhält sich sogar mit ihm) und sieht immer wieder Personen oder Dinge, die nicht da sind.
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) leidet Pernell unter einer Paranoiden Schizophrenie (F20.0), welche in seinem Fall durch die folgenden charakteristischen Symptome gekennzeichnet ist:
  • Wahn
  • Akustische Halluzinationen in Form von kommentierenden und dialogischen Stimmen
  • Optische Halluzinationen
  • Gedankeneingebung: Überzeugung dass eigene Gedanken von außen (von Gott) geschickt wurden
  • Gedankenabreisen: Unterbrechung des Denkflusses (bei Pernell durch das plötzliche Einschießen von Einfällen im Zusammenhang mit seinem Wahn)

Pernells religiöser Wahn unterscheidet sich von einfacher Religiosität oder auch religiösem Fundamentalismus (der zwar ein Problem, aber keine Krankheit darstellt) dadurch, dass Pernells Realitätswahrnehmung durch seinen Wahn immer wieder deutlich beeinträchtigt wird, z.B. wenn er davon überzeugt ist, seinen Sohn durch aktives Handeln aus dem Koma erwecken zu können etc.
Für einen psychisch gesunden Gläubigen kann z.B. das ewige Leben gleichzeitig mit und trotz dem physischen Tod bestehen – Pernell verleugnet das Koma und den nahenden Tod seines Sohnes, entgegen aller medizinischen Fakten.
Religiöse Fundamentalisten verleugnen zwar auch objektive Realitäten, sie tun dies aber (wie z.B. der charismatische Reverend Curtis in Hand of God) zur Verbreitung ihrer Glaubenslehren und Durchsetzung ihrer Interessen. In den meisten Fällen sind sie sich dennoch der logischen und naturwissenschaftlichen Realitäten bewusst.
Natürlich spielt Hand of God mit genau diesen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, ob nicht doch übernatürliche Kräfte im Spiel sind. Letzten Endes ist wohl auch das Glaubenssache.

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