13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 2

Es war irgendwie klar, dass es eine zweite Staffel von 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) geben würde, angesichts des Erfolgs der ersten Staffel und der Ungerührtheit Netflix´ gegenüber der berechtigten Kritik. Alles, was an Staffel 1 gut war, wird in Staffel 2 erfolgreich fortgesetzt: Die (relative) Authentizität, das Gespür für die Wahrnehmungen, Themen und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen, die ungewohnt mutige Darstellung und Reflektion schwieriger Themen. Zudem hat sich Netfilx bemüht, durch Warnhinweise und Statements einiger Darsteller nachträglich auf die Kritik angesichts des hohen Risikos von Werther-Effekten zu reagieren – was zwar grundsätzlich löblich, jedoch in dieser Hinsicht völlig unzureichend ist, da es sich um rationale Information handelt, welche der in hohem Maße zu emotionaler Identifikation einladenden Darstellung der Hannah aus Staffel 1 im Zweifel wenig entgegenzusetzen hat. 

Jedoch scheinen die Serienmacher*innen tatsächlich aus den Fehlern von Staffel 1 gelernt zu haben. Hannahs Suizid wird in Staffel 2 wesentlich kritischer und differenzierter betrachtet. Sie selbst wird nicht mehr posthum zur idealisierten Hauptidentifikationsfigur stilisiert, ihre Ratlosigkeit, Unzulänglichkeit, Überforderung und auch ihr jugendlicher Egozentrismus, werden in den durch Clay imaginierten Dialogen deutlicher. Es ist spürbarer, dass Hannah nicht mehr aktiv am Geschehen teilnimmt, sondern nur ein Bild für Clays innere Zerrissenheit ist. Die zweite Staffel wird nicht mehr aus ihrer, sondern aus mehreren Perspektiven, allesamt lebender Personen, erzählt. Schließlich wird auch Hannahs eigene Ambivalenz durch eine Liste mit elf Gründen gegen den Suizid zumindest angedeutet – wenngleich das Problem, dass Suizide selten so rational abgewogene Handlungen sind, wie es bei Hannah den Anschein hat, hierdurch weiter bestehen bleibt.
Ein sehr wichtiger Unterschied zu Staffel 1 besteht außerdem darin, dass Auswege aus vielen schwierigen, und manchmal zunächst ausweglos erscheinenden, Situationen aufgezeigt werden: Justins Drogenabhängigkeit, Jessicas sexuelles Trauma, Skyes psychische Erkrankung, Alex´ Suizidalität, selbst Tylers Rachephantasien. Die Serie macht an diesen Beispielen deutlich, dass es immer Möglichkeiten gibt, auch in schwierigsten Lebenssituationen Hilfe zu bekommen und Verbesserungen zu erreichen. Gleichzeitig schaffen es die Autor*innen, dabei nicht in Beschönigung oder Verharmlosung zu verfallen: Der Weg ist steinig, von Rückschlägen und Verzweiflung begleitet und, ja, er kann auch scheitern. Aber alleine die Darstellung unterschiedlichster Möglichkeiten, von professioneller psychiatrischer Behandlung, Selbsthilfegruppen, Antiaggressionstraining, bis zum Beistand durch Freund*innen und Eltern (bis auf Justin und Monty haben die Kids ja recht bemühte und funktionale Eltern) ermöglicht gerade jugendlichen Zuschauer*innen eine wesentlich differenziertere und auch realitätsnähere Sicht auf den Umgang mit persönlichen, sozialen und psychischen Problemen. Während die erste Staffel also hinsichtlich Suizidprävention so ziemlich alles falsch gemacht hat, wird in der zweiten Staffel von Lösungsmöglichkeiten und konstruktiven Alternativen zum Suizid berichtet, was wiederum Zuschauer*innen, die selbst von suizidalen Gedanken betroffen sind, Hoffnung machen und dazu anregen, sich Hilfe zu suchen – und zwar durch die emotionale Identifikation mit den handelnden jugendlichen Charakteren, deren Lebens- und Gedankenwelt vertraut scheint, was wirksamer ist, als die bloße Information darüber, dass es Notfallhotlines gibt und wie man sie erreicht (welche natürlich dennoch notwendig ist). Diesen quasi umgekehrten Werther-Effekt bezeichnet man nach Mozart als Papageno-Effekt
Insofern ist Clays Reflektion in der letzten Folge, dass durch Liebe Licht in diese oft als dunkel empfundene Welt gebracht werden kann, so wahr wie an dieser Stelle wichtig. Liebe im weitesten Sinne: Aufmerksamkeit, Respekt, das Bemühen darum die Perspektive der/s anderen einzunehmen und zu verstehen, vorgefasste Meinungen und Urteile zu überprüfen und die eigenen Anteile sowie die gesellschaftlichen Einflüsse auf das zwischenmenschlichen Geschehen zu reflektieren. Gesprächsbereit zu bleiben, sich selbst und anderen zweite und dritte Chancen zu geben. Natürlich geht Clay selbst dabei oft zu weit: Einem schwer Bewaffneten sollte man sich niemals so in den Weg stellen, wie er es tut. Diese letzte Szene sollten wir eher als Metapher dafür sehen, das Gegenüber nicht aufzugeben, im konkreten Fall aber das Verhandeln den Profis überlassen. 
Es ist, wie bereits erwähnt, richtig und wichtig, dass die Serie in dieser Staffel professionelle psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung als hilfreiche Option beschreibt. Deutlich wird das an Skye, die sich in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung begibt. Es wird eine bipolar affektive Störung (ICD-10: F31) diagnostiziert, welche durch einen Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen gekennzeichnet ist. Hinweise auf depressive Phasen sind Skyes Selbstverletzung und der Eindruck, dass ihr suizidale Gedanken per se nicht ganz fremd sind. Manisches, also in pathologischer Weise antriebsgesteigertes, enthemmtes und kontaktfreudiges Verhalten, wird in der Szene, in welcher sie bei Clays Eltern eingeladen ist, angedeutet. Meinem Eindruck nach könnte man auch eine emotional instabile Persönlickeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.31) diagnostizieren. Auch diese würde Skyes Selbstverletzung und Stimmungsschwankungen erklären, zudem ihre Unsicherheit in der Beziehung zu Clay, die impulsive Eifersucht auf Hannah und auch ihre Aussage, dass sie „all diese Gefühle“ in sich habe und diese schwer kontrollieren könne. Letztlich müssten wir noch mehr über Skye wissen, um die Frage in ihrem speziellen Fall beantworten zu können.
Auch Jessica begibt sich, wenn auch zunächst widerwillig, in professionelle Hilfe: Eine Gesprächsgruppe für Opfer sexueller Gewalt. Sie erlebt hier die heilsame Wirkung von Gruppentherapie, die bereits in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beschrieben wurde. Durch den Austausch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, macht sie die in diesem Moment intensiv emotional spürbare Erfahrung, nicht alleine zu sein, was mehr ist, als das bloße rationale Wissen darum, dass es natürlich andere Opfer sexueller Gewalt gibt. Darüber hinaus erlebt Jessica durch andere Gruppenmitglieder, die in ihrem therapeutischen Prozess bereits weiter fortgeschritten sind, dass es Hoffnung auf Linderung und auf ein Leben mit weniger starken Beeinträchtigungen gibt, als sie es aktuell führt und sieht ganz konkrete Modelle, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Schließlich gelingt es Jessica, detailliert über ihr Trauma zu sprechen. In der Serie geschieht das, wohl auch aus dramaturgischen Gründen, vor Gericht. Das muss aber nicht unbedingt so sein. Die Entscheidung, ob ein sexuell traumatisierter Mensch Anzeige erstattet und den (in der Realität im Ergebnis leider oft ebenso wie in der Serie enttäuschenden) juristischen Weg beschreitet, ist hochindividuell und niemandes Entscheidung, als die des Betroffenen selbst. So findet auch Jessica erst durch den Gruppenprozess – in diesem Fall vor allem den Entwicklungsprozess in der Gruppe ihrer Freunde, welche es endlich schaffen, sich vorbehaltlos hinter sie zu stellen, statt sie in die eine oder andere Richtung drängen zu wollen – zu dem Mut und der Kraft, für sich die Entscheidung zu treffen, Bryce anzuzeigen und auszusagen. Hierdurch erlebt sie die befreiende Wirkung des vollständigen Sich-Öffnens in einer vertrauten sozialen Umgebung und fühlt sich dadurch befreit. Diesen Effekt bezeichnet die Psychoanalyse als Katharsis (Reinigung): Dadurch, dass sie ihr Schweigen bricht, gewinnt sie Kontrolle über die Auswirkungen ihres Traumas im Hier und Jetzt zurück, fühlt sich dadurch freier und handlungsfähiger, wo sie zuvor durch Flashbacks und die Vermeidung bestimmter Situationen (z.B. körperlicher Nähe oder sich selbst nackt zu betrachten) – Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) – stark eingeschränkt war. Deshalb ist es für sie auch weniger bedeutsam, dass der Richter ein viel zu mildes Urteil fällt – sie hat ohnehin nicht wirklich zu ihm oder Bryce, sondern zu sich selbst und den Menschen, die in ihrem Leben auch weiterhin wichtig sein sollen, gesprochen.
Und dann ist da noch die Gewaltspirale, deren Eskalation, neben dem Prozess um Hannah, die zweite Haupthandlung der zweiten Staffel darstellt. Es gibt noch immer keine treffendere Beschreibung, als die von Yoda aus Star Wars Episode I: Furcht führt zu Wut. Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid. In Staffel 2 von 13 Reasons Why lernen wir, dass dieser Prozess schon sehr früh begonnen hat. Er beginnt beim kleinen Bryce, dessen Eltern nicht präsent sind, um ihm Grenzen zu setzen und Empathie zu vermitteln. Beim kleinen Justin, der früh mit Minderwertigkeitsgefühlen und drohender Ausgrenzung aufgrund seiner familiären Herkunft zu kämpfen hat, beim kleinen Monty, dessen Vater ihn misshandelt und ihn damit in einer Welt aufwachsen lässt, die sich in Starke und Schwache, Täter und Opfer teilt und in der es sicherer ist, möglichst oft der Starke, der Täter zu sein, um möglichst nicht Opfer zu werden. Bei allen dreien, ja, auch Bryce, ist es das früh gesäte Minderwertigkeitsgefühl, dass es notwendig macht, sich ständig über andere zu erheben, um sich der eigenen Wertigkeit in Form sozialer Abwärtsvergleiche zu versichern: Wenn die anderen klein genug gemacht werden, kann selbst der Unsicherste sich groß und stark fühlen. Was bei Monty und Justin offensichtlich ist – auch bei Marcus, dessen Vater bedingungslosen Ehrgeiz und Erfolg fordert und sich dabei selbst als gleichsam unerreichbares Vorbild geriert – ist der Minderwertigkeitskomplex offensichtlich, bei Bryce weniger. Doch auch seine psychische Entwicklung nimmt Schaden, dadurch dass er keine wirkliche empathische Spiegelung, also ein verlässliches, authentisches, differenziertes Eingehen auf seine Gefühlsäußerungen und sein Verhalten erfährt. Er scheint kaum Möglichkeiten zu haben, sich die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu sichern. Alles was er hierfür tut, führt lediglich zur Bewunderung durch andere, auf die es aber zunächst gar nicht ankommt. Auch weil diese Bewunderung vergiftet ist durch seinen sozialen Status. Er kann sich nie sicher sein, ob er als Person gemeint ist, oder nur sein Reichtum, der familiäre Einfluss oder die bloße Angst vor ihm oder seinem Vater. Symptomatisch ist die Szene, in welcher das ganz Stadion seinen Sieg beim Football bejubelt, er jedoch einsam und verloren wirkt, weil niemand da zu sein scheint, der sich auch für ihn interessieren würde, wenn der Erfolg ausbleibt. Seine Eltern hatten mal wieder keine Zeit zum Spiel zu kommen… 
Sie alle stabilisieren ihr eigenes, fragiles Selbstwertgefühl auf Kosten anderer, vorzugsweise der vermeintlich Schwächsten, um sich im Vergleich stark und sicher zu fühlen. Viele bekommen das zu spüren, am stärksten Tyler. Je mehr er gemobbt wird, umso unsicherer wird er, was wiederum dazu führt, dass er sozial gehemmt und ungeschickt agiert und sich neuem Spott aussetzt. Auch er beginnt nach Möglichkeiten zu suchen, sich einmal stark und mächtig zu fühlen und verfällt immer stärker Gewaltphantasien. Dabei zeigt auch seine Entwicklung, dass es eben nicht vergeblich ist, sich um andere, die am Rand stehen und sich gegen die Gesellschaft zu wenden drohen, zu kümmern. Immer wieder schöpft Tyler Hoffnung, versucht sich zu integrieren, sich zu öffnen, Freunde und Liebe zu finden. Manchmal ist es Pech, manchmal Zufall, manchmal auch die Boshaftigkeit derer, die ihren Schmerz auf einen Schwächeren projizieren müssen, die Tyler letzten Endes doch immer weiter in die Isolation treiben. Dieser Prozess wird glaubhaft dargestellt. Zum Glück scheint er auch am Ende noch nicht zu Ende zu sein…

HILFE BEI SUIZIDGEDANKEN, MOBBING UND ANDEREN KRISEN FINDEST DU IN DER KLINIK FÜR (KINDER- UND JUGEND-) PSYCHIATRIE IN DEINEM LANDKREIS ODER ANONYM BEI DER TELEFONSEELSORGE!

Weiterlesen

13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 1

Wie auch immer man über die vieldiskutierte Netflix-Serie 13 Reasons Why, auf Deutsch: Tote Mädchen lügen nicht, denkt, eines ist wohl unstrittig: Sie regt zum Nachdenken an.

Das Coming-of-Age-Drama ist in vielerlei Hinsicht authentisch, spannend, gut gespielt, und zeigt interessante jugendliche Charaktere, die differenziert und nachvollziehbar psychologisch gezeichnet sind und sich stark entwickeln dürfen. Wichtige Themen, wie Mobbing, sexuelle Gewalt (in all ihren Abstufungen), die Gnadenlosigkeit sozialer Gruppenprozesse und die Subjektivität im Erleben all dessen werden mutig aufgegriffen und konsequent erzählt.

Die jugendlichen Charaktere sind einerseits intellektuell so reif, meistern so viele Herausforderungen ihres Lebens mit bewundernswertem Mut und Durchhaltevermögen und sind andererseits so unsicher bezüglich ihrer Identität, so ausgeliefert den sozialen Zuschreibungen und so überfordert mit der Einordnung und Regulation ihrer starken Emotionen – so wie Jugendliche eben sind.

Der Psychoanalytiker Erik Erikson beschreibt in seinem bekannten Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung die Identitätsfindung als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters. Wenngleich sich die Identität das ganze Leben lang weiterentwickelt, spielen Fragen der Identität, wie „Wer bin ich?“, „Wohin gehöre ich?“, „Was macht mich einzigartig/liebenswert?“ usw. im Jugendalter eine besonders große Rolle, was viele Jugendliche besonders verletzbar durch soziale Bewertungen und besonders beinflussbar durch sozialen Druck der Peer-Group (Gleichaltrigengruppe) macht.

Wird die Entwicklungsaufgabe der Identitätsfindung hinreichend gut gelöst, wird dies im Alter besser (ganz aufhören tut es allerdings nie, sorry). Mobbing, Gewalt und Diskriminierung jedoch erschweren es, eine stabile und sichere Identität zu entwickeln, da das eigene „So-sein“ immer wieder massiv infrage gestellt und abgewertet wird.

Wer als Jugendliche/r das Glück hatte, niemals Opfer von Mobbing oder anderen Übergriffen zu werden und keine schweren Identitätskrisen erlebt hat, mag eine Geschichte wie die von Hannah Baker, die sich aus Verzweiflung über ihre Identitätsunsicherheit und das Unrecht, das ihr angetan wurde, suizidal wird für übertrieben halten. Das ist sie aber nicht! Genau so fühlen sich unzählige Jugendliche und manche von ihnen sterben daran.

Und hier kommen wir zum kritischen Teil der Bewertung von 13 Reasons Why. Nicht wenige psychotherapeutische und psychiatrische KollegInnen kritisieren die Serie, weil sie befürchten, Hannahs Suizid und vor allem dessen Auswirkungen würden auf eine Weise dargestellt, die suizidgefährdete Menschen zur Nachahmung animieren könnte.

So etwas ist tatsächlich möglich [1]. So gab es auch in den Tagen nach dem medial stark rezipierten Suizid des Fußballnationalspielers Robert Enke 2009 einen Anstieg an Suiziden nach ähnlichem Muster [2].

Die Forschung zu Risiken und Präventionsmöglichkeiten von Suiziden nennt dieses animiert werden zur Durchführung eigener suizidaler Handlungen infolge der öffentlichkeitswirksamen Darstellung ebensolcher Werther-Effekt, benannt nach der ersten bekannten medial ausgelösten Suizidwelle infolge des Erscheinens von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werther.

Der Werther-Effekt ist besonders stark, wenn die fiktionale Darstellung oder mediale Berichterstattung von Suiziden emotionalisiert, detailreich, verherrlichend oder romantisierend ist und die Persönlichkeit und ihre individuellen Beweggründe intensiv zu analysieren versucht. Es besteht das Risiko, einem Suizid große, als positiv erlebte Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen und damit die Phantasie zu befördern, diese im Falle einer Nachahmung auch zu bekommen. Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat daher Empfehlungen für die mediale Berichterstattung über Suizide veröffentlicht [2].

Neben der Tatsache, dass Hannahs Suizid und die Aufnahme und Verteilung der Kasetten als hoch rationale, genial orchestrierte, mutige und damit geradezu bewundernswerte Taten dargestellt werden, scheint mir an 13 Reasons Why vor allem problematisch, dass uns intensiv der Eindruck vermittelt wird, dass Hannah, obwohl sie zum Zeitpunkt der Serienhandlung bereits tot ist, noch sehr direkt am Leben der übrigen Protagonisten teilnimmt. Dadurch, dass sie das Geschehen kommentiert, den anderen via Kassette bzw. Stimme aus dem Off Anweisungen gibt und dabei häufig deren Gedanken und Reaktionen in fast hellseherischer Weise antizipiert, wirkt es auf uns, als könne Hannah die Reaktionen der Anderen auf ihren Suizid, die Trauer, die Ratlosigkeit, die Scham- und Schuldgefühle, noch miterleben und, ja, genießen. So als würde ihr endlich Gerechtigkeit und Genugtuung zuteil.

Phantasien darüber, dass der eigene Suizid andere dazu bringen könne, ihr Handeln zu bereuen, endlich zu erkennen, was sie dem Suizidenden angetan haben, oder sich einfach nur stärker als zuvor der Bedeutung des Verstorbenen für das eigene Leben bewusst zu werden, können die Handlungsimpulse bei suizidalen Gedanken und Phantasien verstärken.

Dabei ist es eine Illusion, diese Reaktionen noch in irgendeiner Weise miterleben, oder gar genießen zu können, denn wenn der Tod da ist, existieren wir nicht mehr [3].

Ein weiteres, bei suizidalen Menschen häufig vorkommendes Gefühl, das sich auch auf Hannahs Entscheidung auswirkt, ist dass der eigene Tod eine Erleichterung oder Befreiung für die Anderen, also die Menschen im persönlichen Umfeld, paradoxerweise besonders die nahestehenden, sei. Das ist jedoch niemals der Fall. Die klinische Erfahrung zeigt, dass durch einen Suizid gravierende Belastungen, nicht selten bis hin zu ernsthaften psychischen Problemen, bei einer Vielzahl von nahestehenden Personen ausgelöst werden, teilweise können diese selbst suizidale Gedanken entwickeln.
Teilweise wird dies in 13 Reasons Why deutlich, vor allem an Hannahs Eltern, deren Leid unerträglich scheint und offenbar nicht abklingt. Auch an Alex werden die dramatischen Auswirkungen von Hannahs Suizid deutlich. Clay hingegen scheint am Ende der ersten Staffel entlastet, vermutlich, weil er das Gefühl hat, das Richtige getan und eine Art Gerechtigkeit für Hannah hergestellt zu haben – eine Möglichkeit die in der Realität selten besteht.

Das macht Hannahs Entscheidung, sich in Form der Kassetten an diejenigen zu wenden, die sie für ihren Tod verantwortlich macht, auch zu einem hochaggressiven Akt. Einige der Betroffenen haben sich an ihr schuldig gemacht, andere hätten ihr möglicherweise geholfen, wenn es ihr gelungen wäre, sich ihnen zu öffnen.

Hier macht die Serie aus meiner Sicht nicht genug deutlich, dass Hannah Hilfe hätte bekommen können. Ihre Eltern, Clay, Tony und vermutlich auch andere (den offenbar mit der Situation überforderten und peinlich inkompetenten Beratungslehrer ausgenommen) hätten ihr geholfen, wenn sie ernsthaft Hilfe eingefordert hätte. Dies gelingt ihr jedoch nicht. Stattdessen definiert sie für sich Anforderungen, die so hoch und macht Aufforderungen die so indirekt sind, dass die Anderen daran nur scheitern können. Sie scheint sich unbewusst selbst bei ihrem Versuch, Hilfe zu bekommen zu boykottieren. Vielleicht weil die Phantasie, sich durch die Kassetten und ihren Tod vom Opfer zur Rächerin zu machen und endlich die anderen Leiden zu sehen, bereits zu starke Attraktion auf sie ausübt. Damit handelt Hannah leider ebenso egozentrisch und unempathisch, wie Bryce, Justin und all die anderen.
So sehr ich Freude daran hatte, diesen Jugendlichen durch ihre Geschichte von Identitätssuche, Persönlichkeitsentwicklung, Schmerz, Trauer, Scham, Schuld, Sühne und Genugtuung zu folgen, überwiegt in der Gesamtbewertung von 13 Reasons Why doch die zu leichtfertig in Kauf genommene Möglichkeit, dass Hannahs Überlegungen und Handlungen ein hohes Identifikations- und Nachahmungspotential haben.

In Zeiten von VoD lässt sich noch weniger als zuvor sicherstellen, dass so gute, aber auch potentiell gefährliche Stoffe wie 13 Reasons Why nicht von der falschen Person zum falschen Zeitpunkt in ihrem Leben angesehen werden.

Darum, auch wenn es schade gewesen wäre, hätte Netflix die erste Staffel von 13 Reasons Why, so wie sie ist, lieber nicht zeigen sollen.


[1] vgl. z.B. Pirkis & Blood (2010)

[2] vgl. DGS (2010)

[3] nach Epikur 



HILFE BEI SUIZIDGEDANKEN, MOBBING UND ANDEREN KRISEN FINDEST DU IN DER KLINIK FÜR (KINDER- UND JUGEND-) PSYCHIATRIE IN DEINEM LANDKREIS ODER ANONYM BEI DER TELEFONSEELSORGE !
Weiterlesen

The Purge, Es, Scream: Clowns hinter Masken


Über Phänomene wie die sogenannten Horror-Clowns sollte man so wenig wie möglich berichten. Nicht nur, weil sie aufgrund ihrer Seltenheit kaum relevant sind, sondern vor allem auch, weil dadurch den Tätern unverdiente Aufmerksamkeit zuteilwird und dies wiederum Nachahmer animieren könnte. Aus der Suizidforschung kennen wir den sogenannten Werther-Effekt, benannt nach der ersten bekannten medial ausgelösten Suizidwelle infolge des Erscheinens von Goethes Leiden des jungen Werther.

„So verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln […] und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter Wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum“
J. W. v. Goethe

Der Werther-Effekt, also das animiert werden zur eigenen Durchführung suizidaler Handlungen infolge der öffentlichkeitswirksamen Darstellung ebensolcher, ist besonders stark, wenn die Berichterstattung emotionalisiert, detailreich, verherrlichend oder romantisierend ist und die Persönlichkeit und ihre individuellen Beweggründe intensiv zu analysieren versucht. Schillernde, raumgreifende Fotos, Grafiken und Überschriften tragen zur Aufmerksamkeit und damit zu der Verheißung, diese im Falle einer Nachahmung auch zu bekommen, bei.
Die Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention hat daher Empfehlungen für die mediale Berichterstattung über Suizide veröffentlicht.


Dass ich mich jetzt an dieser Stelle dennoch mit den Clowns befasse, liegt an meinen Patientinnen und Patienten, die sich derzeit stark mit dem Thema beschäftigen. Ein zehnjähriger Junge war sehr aufgeregt, weil er fürchtete, die Clowns würden, wie er es in The Purge gesehen hatte, aufgrund ihrer Maskierung ungestraft mordend durch die Stadt ziehen und es käme an Halloween zur großen „Säuberung“ (dt. Untertitel des Films The Purge).

The Purge, Es, Scream… Aggressive Gewalttäter mit maskierten Gesichtern sind uns aus der Popkultur vertraut. Dabei ist die Tatsache, dass die Maske die Mimik – und damit den wichtigsten Teil der nonverbalen Kommunikation – verbirgt, entscheidend und weniger das, was die Maske darstellt. Der Blick ins Gesicht des Gegenübers gibt uns normalerweise Aufschluss über dessen Gestimmtheit, Motive und Einstellungen uns gegenüber. Fehlen diese Signale, fehlt uns Information, die uns die soziale Situation verstehbar, überschaubar und damit handhabbar macht und uns so Sicherheit vermittelt.

Handelt es sich um Clowns, mag der Kontrast zwischen einer eigentlich als lustig geltenden Darstellung und dem aggressiv-bedrohlichen Auftreten, die Verwirrung und damit die Angst noch etwas verstärken. (Deshalb ist der Joker aus The Dark Knight zwar bedrohlich, aber weniger gruselig, weil sein Lächeln gar keines mehr ist und damit die Gesamterscheinung weniger diskrepant wirkt). Allerdings haben viele Kinder auch schon vor normalen Clowns Angst. Auch hier zeigt sich also die verstörende Wirkung fehlender nonverbaler Signale.

Die groteske Verschleierung der nonverbalen sozialen Kommunikations- und Informationsmöglichkeiten ist ein Grund für die ängstigende Wirkung von Masken.
Ein zweiter ist unser unbewusstes Wissen um den psychologischen Effekt der De-Individuation: Wird die eigene, individuelle Identifizierbarkeit reduziert – sei es weil wir Teil einer anonymen Masse sind, weil wir anonym im Internet kommunizieren, weil wir uniformiert, oder eben maskiert sind – reduziert dies die Hemmung aggressiver und antisozialer Impulse, die Tendenz zu normverletzenden und extremeren Verhaltensweisen steigt. Da wir diesen Effekt aus eigener Erfahrung kennen, unterstellen wir ihn (zu Recht) auch den maskierten Clowns und fürchten deren enthemmte Aggression.

Im Kino kann das Spaß machen, weil uns die maskierten Monster die Möglichkeit geben, intensive Erregung in Form von Angst, Schreck und Ekel (gefolgt von intensiv erlebter Erleichterung) zu empfinden, und in dem Wissen um die Fiktionalität des gezeigten, in der Sicherheit des Kinosessels, nicht dauerhaft die Kontrolle über diese Gefühle zu verlieren. (Dass dies meinem zehnjährigen Patienten nicht gelungen ist, verdeutlicht den Sinn und die Notwendigkeit von Altersbeschränkungen solcher Medien.)

Nun habe ich also doch über die Horror-Clowns geschrieben. Ich habe mich bemüht, dies in sachlichem Ton zu tun und verzichte auf reißerische, emotionsgeladene Bilder und auf den Versuch einer Analyse oder gar Mystifizierung der Motive der Täter.
Bleibt mir noch, in Kenntnis der begrenzten Reichweite und Zielgruppe meines Blogs, darauf zu hoffen, dass sich ohnehin keine potentiellen Nachahmungstäter unter den Lesern befinden.


Weiterlesen