Als ich in den späten 1990er Jahren zum ersten Mal den Filmklassiker Casablanca sah, war ich begeistert von Humphrey Bogarts Hauptrolle, dem hartgesottenen, zynischen, mit allen Wassern gewaschenen Rick Blaine. Er war der Inbegriff von cool. Zu diesem Habitus, den Bogart in einer Vielzahl weiterer Werke des film noir der 1940er Jahre verkörperte, gehörte neben dem schief sitzenden Fedora auch die ebenfalls lässig schief im Mundwinkel hängende Zigarette. Die Jüngeren mögen es nicht glauben, aber im 20. Jahrhundert galt Rauchen als sehr cool. Heute erfreulicherweise nicht mehr. Rauchten 2001 noch 28% der Jugendlichen in Deutschland, waren es zwanzig Jahre später nur noch 6% (Quelle). Nikotinabhängigkeit (ICD-10: F17.2) ist eine Suchterkrankung mit erheblichem Gesundheitsrisiko.
Während Nikotin als Volksdroge also auf dem Rückgang ist, haben wir es heute bekanntermaßen mit einer anderen Epidemie zu tun: Stress. Die Mehrheit der Deutschen fühlt sich gestresst und chronischer Stress ist mit Depressivität, Schlafstörungen, Kopfschmerzen und einer Vielzahl weiterer Gesundheitsfolgen assoziiert (Quelle).
Oft sind systemische und gesellschaftliche Faktoren für das stressvolle Leben verantwortlich. Fast könnte man sagen, Stress ist das Rauchen des 21. Jahrhunderts: Alle wissen, dass er ungesund ist und dennoch haftet ihm eine irrationale Aura von Coolness an: Wer hustlet, ein Erfolgs-Mindset hat, High-Performer ist oder Follower maximiert, scheint irgendwas richtig zu machen.
Was den persönlichen Umgang mit stressigen Umständen und psychischem Stresserleben angeht sind die wirksamen Gegenmaßnahmen (Abgrenzung, Achtsamkeit, Entspannung) ebenso bekannt, wie damals beim Rauchen (Aufhören) – und genau wie damals bleiben sie häufig hehre Vorsätze.
Nun kommt der Funfact: Im Hinblick auf Stressmanagement – v.a. im Arbeitskontext – könnten die heutigen Gestressten etwas von den Rauchenden der ausgehenden Bonner Republik lernen: Diese hatten nämlich nicht nur irgendwann Lungenkrebs, sondern davor ein oft echt gutes Pausenverhalten. Nachdem das Rauchen in den meisten öffentlichen und professionellen Räumen schon verboten war, ließen sie (dem Suchtdruck, aber auch einfach der Routine nachgebend) in schöner Regelmäßigkeit alle ein bis zwei Stunden konsequent alles stehen und liegen, verließen für fünf bis zehn Minuten den Arbeitsplatz, gingen ein paar Schritte bis vor die Tür, um dort bei Wind, Wetter und Sonnenschein an der frischen Luft zu stehen. Alleine den Gedanken freien Lauf lassend (sie hatten noch kein Smartphone) oder entspannt plaudernd mit einem Grüppchen Kolleg*innen, das ein wohliges Zusammengehörigkeitsgefühl aufgrund der regelmäßig gemeinsam verbrachten Kurzpausen empfand.
Fast alles perfekt um Stresserleben zu reduzieren: Wir können uns für 60-90 Minuten optimal konzentrieren, danach wird es immer mühsamer. Eine kurze Pause hilft. Den Arbeitsplatz zu verlassen, erhöht die Wahrscheinlichkeit, tatsächlich auch mental Abstand zur Arbeit zu nehmen. Körperliche Bewegung regt den Kreislauf an und reduziert Erschöpfung sowie schädliche Fehlhaltungen. Positiver sozialer Kontakt und Zugehörigkeit fördern positive Emotionen. Und tiefes Atmen aktiviert das parasympathische Nervensystem, das für Entspannung und Regeneration zuständig ist (Quelle).
Nur die Zigarette selbst vermiest die schöne Gesundheitsbilanz. Was wäre, wenn wir alle uns bei der Arbeit, zu Hause und in der Schule verhielten wie Rauchende, aber ohne zu Rauchen? Alle ein bis zwei Stunden ein paar Minuten vor die Tür, ohne Smartphone, und tief die frische Luft ein- und ausatmen. Alleine oder zu Mehreren. Insbesondere dann, wenn wir spüren, dass Stress und Anspannung hoch sind. Statt „Ich muss jetzt erstmal eine rauchen!“, würden wir ebenso bestimmt und selbstgewiss sagen: „Ich muss jetzt erstmal atmen gehen!“
Die Rauchenden haben sich überraschend schnell an die weitgehenden Rauchverbote Anfang des Jahrhunderts gewöhnt. Vielleicht würde sich auch unsere beschleunigte Leistungsgesellschaft schneller an die Atempause gewöhnen, als wir denken.
Wer das Raucherpausen-Feeling noch steigern und gleichzeitig den gesunden Effekt des tiefen, langsamen Atmens optimieren möchte, kann sich sogar einen Atemstrohalm (breathing straw) mitnehmen (vom haushaltsüblichen Papp- oder Glasstrohalm bis zu eigens gefertigten schicken Metallmodellen zum Umhängen ist alles geeignet) und durch diesen ausatmen: Verlangsamt die Ausatmung und steigert dadurch den Entspannungseffekt. Und schon sieht man fast so cool aus wie Bogart!