Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.
Jesse stammt aus guten, fast schon wohlhabend zu nennenden, Verhältnissen. Seine Eltern leben in einem ansehnlichen Vorstadthaus, sind offenbar gebildet und musisch interessiert und scheinen großen Wert auf die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu legen. Jesse wächst zunächst als Einzelkind auf, sein einziger Bruder Jake ist deutlich jünger als er. Während die Eltern auf Jake große Stücke halten und er offenbar überwiegend in der Lage ist, ihre hohen Anforderungen an Leistung und Auftreten zu erfüllen, wird immer wieder deutlich, dass Jesse in den Augen seiner Eltern eine einzige Enttäuschung darstellt und auch schon in seiner Kindheit dargestellt hat. Wir erfahren von schlechten Schulleistungen und frühen Drogenvergehen.
Die Wurzel der beiderseits enttäuschenden Eltern-Kind-Beziehung liegt aber wahrscheinlich noch früher, nämlich in der Wechselwirkung von Jesses Neigung zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität und der strengen, enttäuschten und verurteilenden Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten.
Jesse erfährt, dass er, so wie er ist – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht richtig ist und nicht der Sohn, den sich seine Eltern gewünscht hätten. Für einen Jungen wie Jesse, sind das sterile, auf Anstand, Disziplin und Ordnung ausgerichtete Leben seiner Eltern und deren nüchterne, rationalistische Beziehungsgestaltung schwer zu ertragen. Vielmehr bräuchte er intensive Zuwendung, Zuspruch und Anerkennung für seine Vitalität und das Interesse seiner Eltern an ihm und seinen Stärken. Da ihm all das fehlt, versucht er es immer wieder einzufordern, wofür ihm allerdings wenig andere Mittel zur Verfügung stehen, als immer wieder durch Krawall und Regelverstöße auf sich aufmerksam zu machen, was natürlich zu der gewohnten elterlichen Reaktion führt. Dass Jesse, bei angemessener Förderung, durchaus zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage ist, zeigt die Anekdote über das Holzkästchen welches er unter Anleitung eines wohlwollenden und engagierten Lehrers geschreinert hat.
Diese negative Wechselwirkung ist, neben Jesses biologischer Disposition, der Grund dafür, dass er ein, bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickelt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird dieses Krankheitsbild als Hyperkinetische Störung bezeichnet. In Jesses Fall liegt die Kombination eines ADHS mit delinquentem (regelverletzendem) Verhalten vor, so dass er die Diagnosekriterien einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) erfüllt.
Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
1. Unaufmerksamkeit
- Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
- Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
- Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
- Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
2. Hyperaktivität
- Zappeln mit Händen und Füßen
- Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
- Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
3. Impulsivität
- Unterbrechen oder stören anderer
- Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
- Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
Die Störung des Sozialverhaltens kann sich in vielerlei Verhaltensweisen äußern, bei Jesse sind dies vor allem:
- Hinwegsetzen über Regeln
- Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
- Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
- Wutausbrüche
- Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
- Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
- Einsatz von Waffen
- Zerstörung fremden Eigentums
- Diebstahl, Einbruch
Wie viele Jugendliche mit einer ähnlichen Symptomatik gerät Jesse mit der Zeit in einen zweiten Teufelskreis: Während er durch sein lebhaftes und getriebenes Verhalten die erwünschte positive Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen nicht bekommt, erlebt er sich bei seinen ersten Drogenerfahrungen auf einmal ruhig, gelassen und sogar konzentrierter als sonst. Jesses Einstiegsdrogen sind, typischerweise, Cannabis und Amphetamine. Cannabis wird von vielen hyperaktiven Jugendlichen als angenehm beruhigend und entspannend empfunden. Amphetamine, zu denen auch das von Jesse und Walt hergestellte Crystal Meth gehört, kann als leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und anregend erlebt werden. Das Amphetaminderivat Methylphenidat wird wegen dieser Eigenschaften in der Behandlung von ADHS eingesetzt und ist unter dem Handelsnamen Ritalin berühmt geworden. Jesses Drogenmissbrauch (ICD-10: F19.1) ist somit, zumindest in seiner Entstehungsgeschichte, auch als unbewusster Versuch einer Selbstmedikation zu sehen.
Während Jesses Lösungsversuche im Bezug auf die Anerkennung und Liebe seiner Eltern höchst dysfunktional sind und ihn von diesen nur umso mehr entfremden, machen ihn die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen und sein Wissen über das Drogenmilieu zum idealen Partner für Walter, der in diesen Dingen zunächst noch unerfahren ist.
Walter, der Meister der Manipulation, erkennt Jesses tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und nutzt es aus, indem er genau die Fähigkeiten von Jesse würdigt, die seine Eltern am meisten verurteilt haben. Gleichzeitig hält er Jesse klein, entzieht ihm seine Anerkennung und Zuneigung immer wieder, so dass dieser sich auch weiterhin nicht sicher fühlen kann und dazu angetrieben wird, sich Walters Respekt immer wieder neu zu verdienen. Selbst wenn es seine Würde, sein Gewissen, seine Liebe, vielleicht sogar sein Leben kostet.
2 Kommentare
Nachdem er zu seinen Eltern zurückgekehrt ist, haben sie nicht glauben können, dass er keine Drogen mehr konsumiert. Er ist argwöhnisch behandelt worden. Spätestens nachdem seine Eltern das Haus seiner Tante verkauft und damit Jesse unweigerlich obdachlos gemacht haben, ohne finanzielle Zuwendung, ist die Beziehung zu seinen Eltern gänzlich abgebrochen. Vielleicht scheinen seine Eltern bei ihrem zweiten Kind, die einstigen Fehler nicht mehr zu wiederholen.
Jesse dürfte eine Vorliebe für leidenschaftliche und zuwendungsvolle Frauen haben. Jane und Andrea sind beste Beispiele dafür. Walter hat den Bolus-Tod Janes in Kauf genommen, um Jesse eine Lektion zu erteilen. Tatsächlich hat er danach weitaus weniger Metamphetamine mehr zu sich genommen, nach einer Zeit des Insichgehens. Walter hat ihm "emotionale Probleme" attestiert, die wohl stark zu seinem impulsiven Verhalten beitragen. Der traurigste oder der zweittraurigste Moment in den Episoden ist der, in dem Andrea von Todd erschossen wird. Durch den Verlust hat er seine Situation als sinnlos betrachtet und kein Interesse mehr gehabt, abzuhauen. Wäre er jedoch kein Kämpfer, so hätte er nicht so lange überlebt.
Ich vermisse in diesem Beitrag die Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Jesse und Mike. Ich habe den Eindruck, dass Jesse in Mike eine Vaterfigur vorfindet, die ihn nicht wie Walter durchgehend manipuliert und im Rahmen emotionaler Ausbrüche erniedrigt. Jesse scheint mir ab der durch Gus forcierten Kooperation und Interaktion mit Mike nach und nach zu einem immer gefassteren Menschen zu werden, der auch zu seinem neu gewonnenen Mentor aufsieht und ehrlichen Respekt von ihm entgegnet bekommt.
Vielleicht könnte der Artikel ja diesbezüglich noch ergänzt werden – Interessant im Detail zu erfahren wäre es allemal.