Gastbeitrag: Shameless – Kinder suchtkranker Eltern

Auf ihrem Blog 28years.de schreibt Psychologin Alina über (erwachsene) Kinder suchtkranker Eltern. Für Charakterneurosen nimmt sie die Gallaghers aus der Kultserie Shameless unter die Lupe. 

Die US-amerikanische Fernsehserie Shameless zeigt auf eindringliche Weise die zerstörerischen Auswirkungen von Frank Gallaghers Alkoholabhängigkeit. Diese betrifft nicht nur ihn selbst, sondern prägt auch das Leben seiner gesamten Familie.

Jedes Geschwisterkind entwickelt spezifische Bewältigungsstrategien. Einige davon spiegeln typische Verhaltensweisen wider, die oftmals in der Literatur und Forschung über Kinder aus alkoholkranken Familien beschrieben werden.

Fiona Gallagher: Die Familienheldin

Fiona Gallagher ist die älteste Tochter des Gallagher-Clans. Als ihre Mutter Monica die Familie verlässt, als Fiona 16 Jahre alt ist, sieht sie sich gezwungen, die Hauptverantwortung für ihr Zuhause zu übernehmen.

Sie kümmert sich um ihre fünf jüngeren Geschwister und versucht, den durch Franks Alkoholabhängigkeit verursachten Zusammenbruch der Familie abzufedern. Fiona wird zur Ersatzmutter, Versorgerin und zentralen Stütze ihrer Geschwister – eine Rolle, die sie mit bemerkenswerter Entschlossenheit ausfüllt, auch wenn dies bedeutet, ihre eigenen Bedürfnisse und Träume zu opfern.

Ihre Geschwister, und sogar Frank selbst, wenden sich immer wieder an Fiona, wenn sie in Schwierigkeiten stecken. Um die finanziellen Lücken zu schließen, die Franks Untätigkeit und Verantwortungslosigkeit hinterlassen, nimmt Fiona die verschiedensten, oft erniedrigenden Jobs an. Sie übernimmt nicht nur die Haushaltsführung, sondern wird auch zur moralischen und emotionalen Stütze ihrer Familie.

Fionas Rolle innerhalb der Gallagher-Familie entspricht genau dem, was in der Literatur über suchtbelastete Familien als die Rolle des „Familienhelden“ oder der „Verantwortungsbewussten“ beschrieben wird (Wegscheider, 1988; Black, 1988). Der Familienheld übernimmt in dysfunktionalen Familien häufig die Aufgaben und Pflichten, die eigentlich den Eltern zukommen, und versucht, das Leben der Familie so stabil wie möglich zu halten.

Die Tatsache, dass diese Rolle oft dem ältesten Kind zufällt, liegt vor allem daran, dass es aufgrund seines Alters am ehesten der Herausforderung gewachsen ist. Häufig sind sie zudem weiblich, da Frauen und Mädchen durch ihre Sozialisierung stärker auf Care-Arbeit und Verantwortungsübernahme geprägt werden.

Fiona ist also ein Musterbeispiel für das Helden-Kind: Sie hält den Haushalt zusammen und übernimmt die emotionale und praktische Versorgung der Familie. In ihrer Rolle versucht sie zudem, sowohl Frank als auch Monica zu ersetzen, indem sie Ordnung und Stabilität in das ansonsten chaotische Familienleben bringt.

Ein zentraler Aspekt dieser Rolle ist die sogenannte Parentifizierung, eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kind. Fiona wird quasi zur Mutter ihrer jüngeren Geschwister, während Frank für sein Verhalten nicht einmal annähernd Verantwortung übernimmt. Diese Belastung zwingt Fiona dazu, schnell erwachsen zu werden, und lässt ihr wenig Raum für eigene Träume oder ihre persönliche Entwicklung.

Wie von Sharon Wegscheider und Claudia Black beschrieben, ist die Rolle des Familienhelden oft mit einem hohen Maß an Lob und Anerkennung verbunden, was diese Kinder motiviert, noch mehr zu leisten. Fiona erfährt diese Bestätigung indirekt vor allem durch ihre Geschwister. Doch diese Anerkennung hat ihren Preis.

Die Belastung, die mit dieser Rolle einhergeht, führt häufig zu einer Überforderung, der Kinder emotional nicht gewachsen sind. Dies zeigt sich auch bei Fiona: Obwohl sie nach außen hin stark und entschlossen wirkt, zehren die ständigen Anforderungen und der Druck, alles zusammenzuhalten, an ihr und entladen sich manchmal schlagartig, zum Beispiel in einem Substanzmissbrauch.

Dennoch bleibt Fiona ein Symbol für Resilienz und Überlebenswillen. Trotz ihrer schwierigen Ausgangslage gelingt es ihr in späteren Staffeln, ihre alte Rolle abzulegen und ihre eigene Zukunft erfolgreich zu gestalten.

Lip Gallagher: In Franks Fußstapfen

Phillip Ronan „Lip“ Gallagher ist das zweitälteste Kind der Gallagher Familie. In der Serie sticht Lip vor allem durch seine Intelligenz hervor. Mit einem GPA von 4.6 ist er das begabteste Familienmitglied.

Lips außergewöhnliche Intelligenz könnte ihm den Weg aus seinem sozialen Milieu ebnen, doch statt sein Potenzial voll auszuschöpfen, sabotiert er sich selbst immer wieder – sei es durch promiskuitive Beziehungen oder seinen exzessiven Alkoholkonsum.

So wird Lip bereits zu Beginn der Serie oft beim Rauchen von Zigaretten und Marihuana gezeigt. Doch während seiner Zeit am College wird deutlich, dass er auch ein immer problematischeres Verhältnis zum Alkohol entwickelt.

Zu den ersten sichtbaren Folgen gehört der Verlust seiner Stelle in der Studentenvereinigung. Auch seinen Job als Teaching Assistant verliert er aufgrund seines Alkoholkonsums. Langfristig führt Lips destruktives Verhalten schließlich zum Collegeverweis.

Lips Trinkverhalten erfüllt mehrere Kriterien für eine Alkoholabhängigkeit gemäß der ICD-10 (F10.2):

  • Starkes Verlangen nach Alkohol: Sein Drang zu trinken ist so stark, dass er ihn nicht kontrollieren kann.
  • Kontrollverlust: Lip trinkt übermäßig und hat Schwierigkeiten, seine Konsummenge zu regulieren.
  • Fortgesetzter Konsum trotz negativer Konsequenzen: Trotz der gravierenden Auswirkungen auf seine akademische und berufliche Laufbahn setzt er seinen Alkoholmissbrauch fort.

Lips Probleme spiegeln ein typisches Muster wider, das häufig bei Kindern suchtkranker Eltern zu beobachten ist. Kinder aus alkoholbelasteten Familien stellen eine Hochrisikogruppe für Suchterkrankungen dar.

Studien zeigen, dass etwa ein Drittel dieser Kinder im Erwachsenenalter selbst stofflich abhängig wird, und sie haben ein 4-6-fach erhöhtes Risiko für Suchtprobleme im Vergleich zu Kindern aus nicht-suchtkranken Haushalten.

Die Ursachen hierfür sind sowohl genetisch als auch psychosozial:

  • Genetische Veranlagung: Alkoholismus ist vererbbar, und Kinder von Alkoholikern tragen eine biologische Anfälligkeit für Suchterkrankungen.
  • Chaotisches Umfeld: Suchtprobleme führen häufig zu Instabilität in der Familie, die Kinder extremem Stress aussetzt. Für Lip bedeutete dies, in einem Umfeld aufzuwachsen, das von Vernachlässigung und emotionaler und materieller Unsicherheit geprägt war.
  • Frühes Lernen problematischer Bewältigungsstrategien: Kinder wie Lip sehen früh, wie Eltern Alkohol als Mittel zur Stressbewältigung nutzen, und übernehmen diese Muster unbewusst.

Glücklicherweise entscheidet Lip trotz der Parallelen zu seinem Vater, dass er nicht denselben Weg einschlagen will. Nachdem er die verheerenden Folgen seines Alkoholmissbrauchs erlebt hat, sucht er sich schließlich Hilfe. Schließlich gelingt es ihm, sein Leben wieder in geordnete Bahnen zu lenken – wenngleich er nie wieder ein College besuchen wird.

Carl Gallagher: Das Problemkind

Carl Francis Hashish Gallagher ist das zweitjüngste Kind der Gallagher-Familie. Carl wird zu Serienbeginn als das „Problemkind“ der Familie eingeführt. Mit einer Vorliebe für Chaos, Gewalt und Gefahr zeigt er in den frühen Staffeln zahlreiche antisoziale Tendenzen: Er verstümmelt Spielzeug, quält Tiere und hat Schwierigkeiten, Regeln zu akzeptieren.

Im Verlauf der Serie taucht Carl immer tiefer in kriminelle Machenschaften ein. Er wird zum Drogenhändler, arbeitet für lokale Gangs und wird schließlich zu einer Jugendstrafe verurteilt.

Nach seiner Entlassung aus dem Jugendgefängnis nimmt sein antisoziales Verhalten weiter zu: Er verkauft Waffen und adoptiert einen Gangster-Lebensstil, der selbst seiner Familie zunehmend missfällt.

Wie im Beitrag Shameless: Frank & Carl festgestellt, weist Carls Verhalten auf eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) hin, die ADHS-Symptome (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität, Impulsivität) mit normverletzendem Verhalten kombiniert. Zu den typischen Merkmalen gehören Wutausbrüche, unüberlegtes Handeln und das Brechen von Regeln – alles Verhaltensweisen, die Carl regelmäßig zeigt.

Studien zeigen, dass Kinder von alkoholkranken Eltern deutlich häufiger eine ADHS haben als Kinder aus unbelasteten Familien (Maher et al., 2023). Zusätzlich zeigen die Kinder eher sogenannte externalisierende Verhaltensweisen (Hussong et al, 2014; Eiden et al., 2007) – das bedeutet, sie reagieren auf inneren Stress und Unsicherheit mit aggressivem, impulsivem oder sozial störendem Verhalten.

Dieses Verhalten ist eine Art emotionaler Schutzmechanismus, der die Kinder kurzfristig durch den Abbau innerer Anspannung entlastet, aber langfristig zu gravierenden Problemen führen kann. So kanalisiert Carl seine Unsicherheiten und die Vernachlässigung durch seine Eltern in destruktive Handlungen, was ihn früh auf einen kriminellen Pfad führt.

Wie Fiona entspricht auch Carl damit einer Rolle, die in der Literatur über Kinder aus suchtbelasteten Familien beschrieben wird: die des „Schwarzen Schafs“ oder „Sündenbocks“ (Wegscheider, 1988; Black, 1988).

Während Fiona auf die familiäre Dysfunktion reagiert, indem sie die Verantwortung für Stabilität und Ordnung übernimmt, verinnerlicht Carl das Chaos der Familie und lebt es durch auffälliges, destruktives Verhalten aus. Durch sein provokatives Verhalten wird Carl zum sichtbaren Symptom der inneren Konflikte innerhalb der Familie.

Antisoziale Verhaltensweisen, wie sie Carl in seiner Jugend zeigt, halten bei Kindern alkoholkranker Eltern oftmals bis ins Erwachsenenalter an (Harter, 2000). Doch Carl gelingt es, den gefährlichen Pfad zu durchbrechen. Nach einem traumatischen Vorfall, der ihm die Konsequenzen seines kriminellen Lebensstils vor Augen führt, beginnt er, seine Zukunft neu zu überdenken.

Er entscheidet sich, eine Militärschule zu besuchen, wo er Disziplin und Struktur kennenlernt – etwas, das ihm in seiner Kindheit gefehlt hat. Diese Erfahrungen formen ihn zu einem gereiften jungen Mann, der schließlich den Weg zum Polizisten einschlägt – und dort die Fähigkeiten, die ihn einst in Schwierigkeiten brachten, nutzt, um Gutes zu bewirken.

Ingesamt zeigen die Geschichten der Gallagher-Kinder eindrucksvoll, wie sich die Schatten elterlicher Suchterkrankungen auf die nachfolgenden Generationen auswirken können. Doch trotz der Herausforderungen, die Fiona, Lip und Carl bewältigen müssen, sind sie auch ein Beispiel für Resilienz, Einfallsreichtum und die Kraft, sich selbst neu zu erfinden.

Jeder von ihnen geht seinen eigenen, oft steinigen Weg, doch sie alle beweisen, dass Veränderung möglich ist – sei es durch das Streben nach einem besseren Leben, den Mut, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, oder durch die Fähigkeit, aus Fehlern zu lernen. Shameless zeigt uns, dass selbst in den widrigsten Umständen die Chance auf Wachstum und eine bessere Zukunft besteht.

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Quellen für Fiona:

Caritas Augsburg. (o. D.). Rollenmuster. Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://www.caritas-augsburg.de/hilfeberatung/suchtberatungbehandlungundkrankenhilfe/kiasu-projekt/rollenmuster/rollenmuster

BKK Bundesverband. (2007, Juli). Kindern von Suchtkranken Halt geben – durch Beratung und Begleitung: Leitfaden für Multiplikatoren. NACOA Deutschland. Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://nacoa.de/sites/default/files/images/stories/pdfs/freundeskreise%20multiplikatorenleitfaden.pdf

Fandom. (o. D.). Fiona Gallagher (US) – Season 6. Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://shameless.fandom.com/wiki/Fiona_Gallagher_(US)#Season_6

Quellen für Lip:

NACOA Deutschland. (o. D.). Fakten und Zahlen. Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://nacoa.de/infos/fakten/zahlen

Fandom. (o. D.). Lip Gallagher (US). Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://shameless.fandom.com/wiki/Lip_Gallagher_(US)

Quellen für Carl:

Hussong, A. M., Wirth, R. J., Edwards, M. C., Curran, P. J., Chassin, L. A., & Zucker, R. A. (2007). Externalizing symptoms among children of alcoholic parents: Entry points for an antisocial pathway to alcoholism. Journal of abnormal psychology116(3), 529–542. https://doi.org/10.1037/0021-843X.116.3.529

Eiden, R. D., Edwards, E. P., & Leonard, K. E. (2007). A conceptual model for the development of externalizing behavior problems among kindergarten children of alcoholic families: role of parenting and children’s self-regulation. Developmental psychology43(5), 1187–1201. https://doi.org/10.1037/0012-1649.43.5.1187

Maher, B.S., Bitsko, R.H., Claussen, A.H. et al. Systematic Review and Meta-analysis of the Relationship Between Exposure to Parental Substance Use and Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder in Children. Prev Sci 25 (Suppl 2), 291–315 (2024). https://doi.org/10.1007/s11121-023-01605-2

Harter S. L. (2000). Psychosocial adjustment of adult children of alcoholics: a review of the recent empirical literature. Clinical psychology review20(3), 311–337. https://doi.org/10.1016/s0272-7358(98)00084-1
Fandom. (n.d.). Carl Gallagher (US). Abgerufen am 10. Januar 2025, von https://shameless.fandom.com/wiki/Carl_Gallagher_(US)
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Southpark: Depression als zynisches A****loch

Die Depression ist nicht nur eine der häufigsten, sondern wahrscheinlich auch die bekannteste psychische Erkrankung. Im Gegensatz zu den ebenfalls sehr häufigen Angststörungen, welche in viele verschiedene Unterformen differenziert werden, wird bei Depressionen nach der aktuell gebräuchlichen diagnostischen Klassifikation lediglich nach Schweregrad unterschieden, was dazu führt, das sich ein und dieselbe Diagnose – ICD-10 F32: Depressive Episode (bei erstmaliger Erkrankung) oder F33: Rezidivierende depressive Störung (bei wiederholtem Auftreten) – zum Teil sehr unterschiedlich darstellt. Während die drei Hauptsymptome
  • Niedergeschlagenheit
  • Antriebslosigkeit
  • Freud- und Interessensverlust
fast immer vorliegen, variiert die Begleitsymptomatik individuell erheblich. Gereiztheit und Aggressivität können ebenso auftreten, wie Selbsthass und Suizidalität. Extreme Müdigkeit und exzessives Schlafen, ebenso wie Schlaflosigkeit und Unruhe. Grübeln sowie Vergesslichkeit und Konzentrationsstörungen. Sozialer Rückzug und Scham ebenso wie übersteigerte Kompensation durch Feiern, Sex, Alkohol und Drogen.
Da wundert es nicht, dass ebenso bunt und vielseitig wie die realen Erscheinungsformen der Depression auch deren Darstellungen in der Popkultur sind.
Da gibt es ziemlich realitätsnahe Darstellungen von Depressionen, wie z.B. in Bojack Horseman, Fleabag oder auch dem immer wieder sehenswerten Film Little Miss Sunshine. Es gibt Depressionen in Welten, in denen es eigentlich gar keine Depressionen gibt, wie z.B. die von König Theoden in Herr der Ringe. Und es gibt jede Menge originelle Metaphern, wie den berühmten schwarzen Hund schwarzen Hund (WHO) oder die  Dementoren aus Harry Potter (themighty.com).
 
Auf eine weitere, ziemlich spezielle Sichtweise von Depressionen wurde ich neulich aufmerksam gemacht: In einer Doppelfolge von Southpark (S15E7+8) leidet Stan nach der Trennung seiner Eltern, welche das Ende seiner unbeschwerten Kindheit markiert unter dem Cynical Asshole Syndrome.
Er ist permanent niedergeschlagen (Kernsymptom 1 der Depression), findet keinen Antrieb mehr, um z.B. etwas mit seinen Freunden zu unternehmen (2) und – ganz Southpark – sein Lieblingsessen schmeckt auf einmal wie Scheiße, seine Lieblingsmusik klingt wie Scheiße, Kinofilme sind scheiße (Kernsymptom 3: Freud-/Interessensverlust). Er wird zynisch, gereizt, in sich gekehrt, fühlt sich unverstanden und entfremdet, zieht sich sozial zurück: Häufige Begleitsymptome depressiver Störungen. Stan hat eine handfeste Depression – und nicht etwa das ihm in der Serie fehldiagnostizierte Asperger- („Ass-Burger-„) Syndrom.
Wer nun auf ein Happy End, oder such nur die Erwähnung konstruktiver Behandlungs- oder Bewältigungsansätze hofft, ist in der falschen Serie gelandet. An Stans Gefühl, dass alles scheiße ist und ihn niemand versteht, ändert sich nichts mehr. Wie nicht wenige Menschen mit unbehandelten und unverstanden Depressionen legt er sich eine fröhliche Fassade zu und betäubt seine echten Gefühle mit Alkohol. Cheers, Stan!

Angebote zur Soforthilfe bei Depressionen und Suizidalität gibt es hier: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/wo-finde-ich-hilfe/krisendienste-und-beratungsstellen 
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13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 2

Es war irgendwie klar, dass es eine zweite Staffel von 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) geben würde, angesichts des Erfolgs der ersten Staffel und der Ungerührtheit Netflix´ gegenüber der berechtigten Kritik. Alles, was an Staffel 1 gut war, wird in Staffel 2 erfolgreich fortgesetzt: Die (relative) Authentizität, das Gespür für die Wahrnehmungen, Themen und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen, die ungewohnt mutige Darstellung und Reflektion schwieriger Themen. Zudem hat sich Netfilx bemüht, durch Warnhinweise und Statements einiger Darsteller nachträglich auf die Kritik angesichts des hohen Risikos von Werther-Effekten zu reagieren – was zwar grundsätzlich löblich, jedoch in dieser Hinsicht völlig unzureichend ist, da es sich um rationale Information handelt, welche der in hohem Maße zu emotionaler Identifikation einladenden Darstellung der Hannah aus Staffel 1 im Zweifel wenig entgegenzusetzen hat. 

Jedoch scheinen die Serienmacher*innen tatsächlich aus den Fehlern von Staffel 1 gelernt zu haben. Hannahs Suizid wird in Staffel 2 wesentlich kritischer und differenzierter betrachtet. Sie selbst wird nicht mehr posthum zur idealisierten Hauptidentifikationsfigur stilisiert, ihre Ratlosigkeit, Unzulänglichkeit, Überforderung und auch ihr jugendlicher Egozentrismus, werden in den durch Clay imaginierten Dialogen deutlicher. Es ist spürbarer, dass Hannah nicht mehr aktiv am Geschehen teilnimmt, sondern nur ein Bild für Clays innere Zerrissenheit ist. Die zweite Staffel wird nicht mehr aus ihrer, sondern aus mehreren Perspektiven, allesamt lebender Personen, erzählt. Schließlich wird auch Hannahs eigene Ambivalenz durch eine Liste mit elf Gründen gegen den Suizid zumindest angedeutet – wenngleich das Problem, dass Suizide selten so rational abgewogene Handlungen sind, wie es bei Hannah den Anschein hat, hierdurch weiter bestehen bleibt.
Ein sehr wichtiger Unterschied zu Staffel 1 besteht außerdem darin, dass Auswege aus vielen schwierigen, und manchmal zunächst ausweglos erscheinenden, Situationen aufgezeigt werden: Justins Drogenabhängigkeit, Jessicas sexuelles Trauma, Skyes psychische Erkrankung, Alex´ Suizidalität, selbst Tylers Rachephantasien. Die Serie macht an diesen Beispielen deutlich, dass es immer Möglichkeiten gibt, auch in schwierigsten Lebenssituationen Hilfe zu bekommen und Verbesserungen zu erreichen. Gleichzeitig schaffen es die Autor*innen, dabei nicht in Beschönigung oder Verharmlosung zu verfallen: Der Weg ist steinig, von Rückschlägen und Verzweiflung begleitet und, ja, er kann auch scheitern. Aber alleine die Darstellung unterschiedlichster Möglichkeiten, von professioneller psychiatrischer Behandlung, Selbsthilfegruppen, Antiaggressionstraining, bis zum Beistand durch Freund*innen und Eltern (bis auf Justin und Monty haben die Kids ja recht bemühte und funktionale Eltern) ermöglicht gerade jugendlichen Zuschauer*innen eine wesentlich differenziertere und auch realitätsnähere Sicht auf den Umgang mit persönlichen, sozialen und psychischen Problemen. Während die erste Staffel also hinsichtlich Suizidprävention so ziemlich alles falsch gemacht hat, wird in der zweiten Staffel von Lösungsmöglichkeiten und konstruktiven Alternativen zum Suizid berichtet, was wiederum Zuschauer*innen, die selbst von suizidalen Gedanken betroffen sind, Hoffnung machen und dazu anregen, sich Hilfe zu suchen – und zwar durch die emotionale Identifikation mit den handelnden jugendlichen Charakteren, deren Lebens- und Gedankenwelt vertraut scheint, was wirksamer ist, als die bloße Information darüber, dass es Notfallhotlines gibt und wie man sie erreicht (welche natürlich dennoch notwendig ist). Diesen quasi umgekehrten Werther-Effekt bezeichnet man nach Mozart als Papageno-Effekt
Insofern ist Clays Reflektion in der letzten Folge, dass durch Liebe Licht in diese oft als dunkel empfundene Welt gebracht werden kann, so wahr wie an dieser Stelle wichtig. Liebe im weitesten Sinne: Aufmerksamkeit, Respekt, das Bemühen darum die Perspektive der/s anderen einzunehmen und zu verstehen, vorgefasste Meinungen und Urteile zu überprüfen und die eigenen Anteile sowie die gesellschaftlichen Einflüsse auf das zwischenmenschlichen Geschehen zu reflektieren. Gesprächsbereit zu bleiben, sich selbst und anderen zweite und dritte Chancen zu geben. Natürlich geht Clay selbst dabei oft zu weit: Einem schwer Bewaffneten sollte man sich niemals so in den Weg stellen, wie er es tut. Diese letzte Szene sollten wir eher als Metapher dafür sehen, das Gegenüber nicht aufzugeben, im konkreten Fall aber das Verhandeln den Profis überlassen. 
Es ist, wie bereits erwähnt, richtig und wichtig, dass die Serie in dieser Staffel professionelle psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung als hilfreiche Option beschreibt. Deutlich wird das an Skye, die sich in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung begibt. Es wird eine bipolar affektive Störung (ICD-10: F31) diagnostiziert, welche durch einen Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen gekennzeichnet ist. Hinweise auf depressive Phasen sind Skyes Selbstverletzung und der Eindruck, dass ihr suizidale Gedanken per se nicht ganz fremd sind. Manisches, also in pathologischer Weise antriebsgesteigertes, enthemmtes und kontaktfreudiges Verhalten, wird in der Szene, in welcher sie bei Clays Eltern eingeladen ist, angedeutet. Meinem Eindruck nach könnte man auch eine emotional instabile Persönlickeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.31) diagnostizieren. Auch diese würde Skyes Selbstverletzung und Stimmungsschwankungen erklären, zudem ihre Unsicherheit in der Beziehung zu Clay, die impulsive Eifersucht auf Hannah und auch ihre Aussage, dass sie „all diese Gefühle“ in sich habe und diese schwer kontrollieren könne. Letztlich müssten wir noch mehr über Skye wissen, um die Frage in ihrem speziellen Fall beantworten zu können.
Auch Jessica begibt sich, wenn auch zunächst widerwillig, in professionelle Hilfe: Eine Gesprächsgruppe für Opfer sexueller Gewalt. Sie erlebt hier die heilsame Wirkung von Gruppentherapie, die bereits in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beschrieben wurde. Durch den Austausch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, macht sie die in diesem Moment intensiv emotional spürbare Erfahrung, nicht alleine zu sein, was mehr ist, als das bloße rationale Wissen darum, dass es natürlich andere Opfer sexueller Gewalt gibt. Darüber hinaus erlebt Jessica durch andere Gruppenmitglieder, die in ihrem therapeutischen Prozess bereits weiter fortgeschritten sind, dass es Hoffnung auf Linderung und auf ein Leben mit weniger starken Beeinträchtigungen gibt, als sie es aktuell führt und sieht ganz konkrete Modelle, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Schließlich gelingt es Jessica, detailliert über ihr Trauma zu sprechen. In der Serie geschieht das, wohl auch aus dramaturgischen Gründen, vor Gericht. Das muss aber nicht unbedingt so sein. Die Entscheidung, ob ein sexuell traumatisierter Mensch Anzeige erstattet und den (in der Realität im Ergebnis leider oft ebenso wie in der Serie enttäuschenden) juristischen Weg beschreitet, ist hochindividuell und niemandes Entscheidung, als die des Betroffenen selbst. So findet auch Jessica erst durch den Gruppenprozess – in diesem Fall vor allem den Entwicklungsprozess in der Gruppe ihrer Freunde, welche es endlich schaffen, sich vorbehaltlos hinter sie zu stellen, statt sie in die eine oder andere Richtung drängen zu wollen – zu dem Mut und der Kraft, für sich die Entscheidung zu treffen, Bryce anzuzeigen und auszusagen. Hierdurch erlebt sie die befreiende Wirkung des vollständigen Sich-Öffnens in einer vertrauten sozialen Umgebung und fühlt sich dadurch befreit. Diesen Effekt bezeichnet die Psychoanalyse als Katharsis (Reinigung): Dadurch, dass sie ihr Schweigen bricht, gewinnt sie Kontrolle über die Auswirkungen ihres Traumas im Hier und Jetzt zurück, fühlt sich dadurch freier und handlungsfähiger, wo sie zuvor durch Flashbacks und die Vermeidung bestimmter Situationen (z.B. körperlicher Nähe oder sich selbst nackt zu betrachten) – Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) – stark eingeschränkt war. Deshalb ist es für sie auch weniger bedeutsam, dass der Richter ein viel zu mildes Urteil fällt – sie hat ohnehin nicht wirklich zu ihm oder Bryce, sondern zu sich selbst und den Menschen, die in ihrem Leben auch weiterhin wichtig sein sollen, gesprochen.
Und dann ist da noch die Gewaltspirale, deren Eskalation, neben dem Prozess um Hannah, die zweite Haupthandlung der zweiten Staffel darstellt. Es gibt noch immer keine treffendere Beschreibung, als die von Yoda aus Star Wars Episode I: Furcht führt zu Wut. Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid. In Staffel 2 von 13 Reasons Why lernen wir, dass dieser Prozess schon sehr früh begonnen hat. Er beginnt beim kleinen Bryce, dessen Eltern nicht präsent sind, um ihm Grenzen zu setzen und Empathie zu vermitteln. Beim kleinen Justin, der früh mit Minderwertigkeitsgefühlen und drohender Ausgrenzung aufgrund seiner familiären Herkunft zu kämpfen hat, beim kleinen Monty, dessen Vater ihn misshandelt und ihn damit in einer Welt aufwachsen lässt, die sich in Starke und Schwache, Täter und Opfer teilt und in der es sicherer ist, möglichst oft der Starke, der Täter zu sein, um möglichst nicht Opfer zu werden. Bei allen dreien, ja, auch Bryce, ist es das früh gesäte Minderwertigkeitsgefühl, dass es notwendig macht, sich ständig über andere zu erheben, um sich der eigenen Wertigkeit in Form sozialer Abwärtsvergleiche zu versichern: Wenn die anderen klein genug gemacht werden, kann selbst der Unsicherste sich groß und stark fühlen. Was bei Monty und Justin offensichtlich ist – auch bei Marcus, dessen Vater bedingungslosen Ehrgeiz und Erfolg fordert und sich dabei selbst als gleichsam unerreichbares Vorbild geriert – ist der Minderwertigkeitskomplex offensichtlich, bei Bryce weniger. Doch auch seine psychische Entwicklung nimmt Schaden, dadurch dass er keine wirkliche empathische Spiegelung, also ein verlässliches, authentisches, differenziertes Eingehen auf seine Gefühlsäußerungen und sein Verhalten erfährt. Er scheint kaum Möglichkeiten zu haben, sich die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu sichern. Alles was er hierfür tut, führt lediglich zur Bewunderung durch andere, auf die es aber zunächst gar nicht ankommt. Auch weil diese Bewunderung vergiftet ist durch seinen sozialen Status. Er kann sich nie sicher sein, ob er als Person gemeint ist, oder nur sein Reichtum, der familiäre Einfluss oder die bloße Angst vor ihm oder seinem Vater. Symptomatisch ist die Szene, in welcher das ganz Stadion seinen Sieg beim Football bejubelt, er jedoch einsam und verloren wirkt, weil niemand da zu sein scheint, der sich auch für ihn interessieren würde, wenn der Erfolg ausbleibt. Seine Eltern hatten mal wieder keine Zeit zum Spiel zu kommen… 
Sie alle stabilisieren ihr eigenes, fragiles Selbstwertgefühl auf Kosten anderer, vorzugsweise der vermeintlich Schwächsten, um sich im Vergleich stark und sicher zu fühlen. Viele bekommen das zu spüren, am stärksten Tyler. Je mehr er gemobbt wird, umso unsicherer wird er, was wiederum dazu führt, dass er sozial gehemmt und ungeschickt agiert und sich neuem Spott aussetzt. Auch er beginnt nach Möglichkeiten zu suchen, sich einmal stark und mächtig zu fühlen und verfällt immer stärker Gewaltphantasien. Dabei zeigt auch seine Entwicklung, dass es eben nicht vergeblich ist, sich um andere, die am Rand stehen und sich gegen die Gesellschaft zu wenden drohen, zu kümmern. Immer wieder schöpft Tyler Hoffnung, versucht sich zu integrieren, sich zu öffnen, Freunde und Liebe zu finden. Manchmal ist es Pech, manchmal Zufall, manchmal auch die Boshaftigkeit derer, die ihren Schmerz auf einen Schwächeren projizieren müssen, die Tyler letzten Endes doch immer weiter in die Isolation treiben. Dieser Prozess wird glaubhaft dargestellt. Zum Glück scheint er auch am Ende noch nicht zu Ende zu sein…

HILFE BEI SUIZIDGEDANKEN, MOBBING UND ANDEREN KRISEN FINDEST DU IN DER KLINIK FÜR (KINDER- UND JUGEND-) PSYCHIATRIE IN DEINEM LANDKREIS ODER ANONYM BEI DER TELEFONSEELSORGE!

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Tigermilch: Nini

Am 17. August 2017 kommt Tigermilch (Trailer) in die Kinos, die Verfilmung des gleichnamigen großartigen Jugendromans von Stefanie de Velasco (Wikipedia). Dass die Autorin am Film mitgearbeitet hat, lässt hoffen, dass die emotionale Intensität, die einzigartig authentische Sprache und das tiefe psychologische Gespür des Romans in den Film gerettet werden konnten.
So oder so: Leseempfehlung!
Die beiden vierzehnjährigen Protagonistinnen von Tigermilch, Nini und Jameelah, schlagen sich mit Mut, Kreativität, Humor und der Kraft ihrer Freundschaft durch ein Leben voller sozialer Probleme: Armut, Gewalt, Migration, Angst vor Abschiebung, soziale Stigmata, Sexismus, Sucht und Depressionen. Das bleibt nicht folgenlos: Sie selbst klauen, rauchen, trinken, schwänzen und lassen sich leichtfertig auf sexuelle Experimente ein, ohne die emotionalen Folgen abzusehen.
Tigermilch (benannt nach Ninis und Jameelahs Lieblingsdrink: Milch, Maracujasaft und Mariacron) versteht und beschreibt diesen Zusammenhang einfühlsam und klug. Für das Verständnis (und ggf. die Therapie) von Kindern und Jugendlichen, die normabweichendes Verhalten zeigen, ist kaum eine Erkenntnis so zentral, wie diese, die der Psychoanalytiker Alfred Adler (Wikipedia) prägnant so formuliert hat:
Bevor ein Kind Schwierigkeiten macht, hat es welche.
Ninis Schwierigkeiten beginnen mit denen ihrer Eltern. An einer der berührendsten Stellen des Romans beschreibt sie ihre schwer depressive Mutter:
Mama liegt eigentlich immer auf dem Sofa. Meistens hat sie die Augen zu, aber wenn ich nach Hause komme, dann schlägt sie sie manchmal auf und fragt, wo warst du. Wenn sie die Augen aufschlägt, sieht sie immer furchtbar müde aus, so als wäre sie von weit her gereist und dabei nur zufällig auf dem Sofa gelandet, hier bei uns im Wohnzimmer. Eine Antwort will sie, glaube ich, gar nicht haben. Ich hingegen wüsste schon gern, wo sie war, wo sie hinter ihren geschlossenen Augen immer hinreist, all die Stunden, die sie allein auf dem Sofa liegt. Mamas Sofa ist eine Insel, auf der sie lebt. Und obwohl diese Insel mitten in unserem Wohnzimmer steht, versperrt dicker Nebel die Sicht. An Mamas Insel kann man nicht anlegen.
Ninis Vater ist weg (ob tot oder abgehauen weiß ich nicht mehr). Was ihr bleibt ist die Erinnerung und die Sehnsucht nach jemandem, der sie hält und beschützt. Auf ihrer Suche danach, orientiert sie sich an dem, was sie kennt und wo sie vor langer Zeit einmal eine Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit hatte, das sich seither nicht mehr einstellen will:
Komisch, irgendwie riechen alle Männer, die ich mag, nach Alkohol und Zigaretten. Papa hat auch immer so gerochen.
Kinder psychisch erkrankter Eltern haben, je nachdem welche Erkrankungen vorliegen und ob ein oder beide Elternteile erkrankt sind, ein mehr oder weniger stark erhöhtes Risiko selbst psychische Störungen zu entwickeln (Mattejat, 2012).
Zentrale Belastungsfaktoren für Kinder psychisch kranker Eltern, die keinen konstruktiven Umgang mit der gemeinsamen Stresssituation finden sind Desorientierung („Was ist mit Mama/Papa los?“), Schuldgefühle („Ist Mama/Papa so traurig/wütend, weil ich böse war“), Tabuisierung („Über Familienangelegenheiten spricht man nicht mit Außenstehenden“) und schließlich Isolierung: Die Kinder werden zu Geheimnisträgern, schämen sich für ihre Familie und ziehen sich daher zunehmend aus dem Kontakt mit Außenstehenden zurück um nicht ständig lügen und bagatellisieren zu müssen oder sich als Verräter zu fühlen. Häufig übernehmen die Kinder in solchen Fällen Verantwortung und Aufgaben der Erwachsenen, um das Funktionieren der Familie und den äußeren Schein aufrecht zu erhalten, womit sie jedoch langfristig überfordert sind. Eindrücklich wird dieser Prozess in dem Kurzfilm Lilli von Jan Buttler gezeigt.

Nini ist noch nicht psychisch krank. Gefährdet ist sie aber durchaus. Sie balanciert ihren Alkoholkonsum, dissoziale Verhaltensweisen (Klauen, Lügen, Schule schwänzen) und ein erhöhtes Risiko durch ihren Umgang und ihre unbeschwert offensive Sexualität traumatische Erfahrungen zu machen am Rande eines Abgrunds, den sie ahnt, aber nicht wirklich sieht. Wie auch? – Sie kennt kein anderes Leben.
Dass sie sich bislang so gut durchgeschlagen hat, liegt an wesentlichen Ressourcen, die ihr, bei allen Risiken, gegeben sind. Fähigkeiten, Kenntnisse, Begabungen und soziale Beziehungen, die bei der Bewältigung von emotionalen Belastungen hilfreich sind und damit die Gesundheit schützen, nennt man Resilienzfaktoren.
Ninis wichtigste Resilienzfaktoren sind:
  • Intelligenz, die ihr hilft, zumindest manche Situationen richtig zu verstehen und einzuordnen und immer wieder kreative Problemlösungen zu finden.
  • Humor, der ihr hilft, viele der belastenden, aber durch sie selbst nicht veränderbaren Lebensumstände besser auszuhalten.
  • Freundschaft: Mindestens eine stabile, positiv empfundene Bindung an eine Bezugsperson stellt einen der wichtigsten Resilienzfaktoren dar. Für Nini ist das ihre Freundin Jameelah. Zumindest solange diese nicht abgeschoben wird…
Wenn jetzt noch ein aufmerksamer Lehrer, ein wohlwollender Nachbar, ein engagierter Jugendamtsmitarbeiter oder – natürlich – ein vernünftiger Psychotherapeut ins Spiel käme, wäre die Prognose für Ninis weitere emotionale und soziale Entwicklung gar nicht so schlecht.

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Dr. House: Dr. House

Seit ich vor fast vier Jahren angefangen habe, diesen Blog zu schreiben, wurde mir immer wieder Dr. House aus der gleichnamigen Serie nahegelegt. Für den Charakterneurosen-Podcast habe ich mich jetzt mal mit ihm befasst.

Eines gleich vorweg: Nein, Dr. House hat keine Narzisstische Persönlichkeitsstörung! Von den Diagnosekriterien nach ICD-10 (F60.80) erfüllt er nicht die für die Diagnose notwendigen fünf, sondern allenfalls drei:

  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten

Das Gefühl von Grandiosität bezieht sich nur auf seine Fähigkeiten als medizinischer Diagnostiker, wo es tatsächlich adäquat ist. Als Kriterium einer Persönlichkeitsstörung müsste es sich jedoch situationsübergreifend zeigen. Gleiches gilt für das dritte Kriterium. Intensive narzisstische Phantasien, Bedürfnis nach Bewunderung und Neid können wir ausschließen. Auch ist House nicht wirklich empathieunfähig, er bemüht sich nur um eine möglichst distanzierte Haltung gegenüber seinen Patienten, um rationaler diagnostisch entscheiden zu können. Bleiben Anspruchsdenken, ausbeuterische Haltung (mit Einschränkungen) und arrogante Verhaltensweisen (aber Hallo!).

Doch dass wir die narzisstische Persönlichkeitsstörung ausschließen können, bedeutet nicht, dass Dr. House ein gesunder Mann wäre.

Zunächst einmal fällt die, in der Serie auch immer wieder thematisierte, Schmerzstörung ins Auge. Dr. House hat eine Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41). Diese ist definiert durch „einen mindestens 6 Monate andauernden intensiven und quälenden Schmerz in einem Körperteil, der nicht ausreichend durch eine körperliche Störung oder ein physiologisches Geschehen erklärt werden kann“.

Seine Schmerzen sind die Folge einer missglückten Operation am Bein, zeigen jedoch auch deutliche Zusammenhänge mit seinem emotionalen Befinden: Je einsamer, pessimistischer, misanthropischer und vor allem weniger verbunden mit seiner sozialen Umwelt er sich fühlt, umso stärker scheint er sie zu erleben und auch zu thematisieren, wohingegen er in Phasen erhöhten Selbstwertgefühls aufgrund beruflicher Herausforderungen und Leistungen oder in seltenen Momenten wahrer zwischenmenschlicher Verbundenheit, deutlich weniger eingeschränkt erscheint.

Aus der Chronischen Schmerzstörungen scheinen sich sekundär zwei weitere psychische Störungen zu ergeben

Erstens, eine Abhängigkeit von dem opioidhaltigen starken Schmerzmittel Vicodin. Eine Opioidabhängigkeit ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F11.2) gekennzeichnet durch drei oder mehr der folgenden Kriterien:

  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung von Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen

Zweitens, scheint Dr. House unter einem Syndrom zu leiden, das als Male Depression, also „männliche Depression“, bezeichnet wird. Die klassischen Depressionssymptome Niedergeschlagenheit, Interessens- und Freudverlust sowie Antriebslosigkeit treten statistisch gesehen doppelt so häufig bei Frauen wie bei Männern auf, was dazu führt, dass Depressionen bei Männern vermutlich häufiger übersehen werden. Männer hingegen zeigen häufiger andere, weniger offensichtliche depressive Symptome, wie

  • Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggressivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Suchtmittelmissbrauch

Diese können wir bei Dr. House deutlich erkennen. Der Zusammenhang zwischen der Schmerzstörung und der Depression besteht vermutlich in einem sogenannten depressiven Schmerzkreis: House ist enttäuscht von seiner sozialen Umwelt. Seine Frau und seine Ärzte haben ihn, seiner Ansicht nach, falsch behandelt, damit sein Leid verursacht und mit diesem letztlich alleine gelassen.

Dr. House zeigt die typisch depressive negative Weltsicht, die als kognitive Triade bezeichnet wird:

  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft
Deutlich wird diese in seinem charakteristischen Satz: „Jeder Mensch lügt“.

Die Wahrnehmung seiner sozialen Umwelt als insuffizient und unehrlich führt zu emotionalem Rückzug und Feindseligkeit, welche wiederum Ablehnung und Gegenaggression auslösen. Dadurch chronifiziert sich ein Zustand von Einsamkeit und dem Erleben, nicht dazuzugehören und nicht gemocht zu werden. Wie hartnäckig diese Selbstwahrnehmung ist, zeigt sich unter anderem darin, dass Dr. House mit Komplimenten, Freundlichkeit oder Fürsorge kaum umgehen kann und reflexhaft zynisch oder aggressiv reagiert. Letztendlich verstärkt aber diese soziale Isolation durch das Zurückgeworfensein auf das eigene innere Erleben die Beschäftigung mit dem Schmerz und steigert somit dessen wahrgenommene Intensität. Der Versuch, diese mit Vicodin zu lindern, führt zu zusätzlichen sozialen Problemen.

Psychodynamisch erfüllt der Schmerz hier auch die Funktion, die Gefühle, welche Dr. House in seiner bewussten Selbstwahrnehmung schon lange resigniert aufgegeben hat, wie seine Wünsche nach Liebe, Versorgung, Zuneigung und auch die Hoffnung, diese noch zu erleben, im Unbewussten weiter artikulieren zu können. Die Selbstinszenierung als Leidender, Kranker, körperlich Schwacher („Krüppel“ wie Dr. House sagen würde) erlaub unbewusst die Identifikation mit der eigenen emotionalen Bedürftigkeit und ein heimliches Signal an die Umwelt: Helft mir!




Mehr über Dr. House gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören

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Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



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Into the Badlands: Trauma als Chance

Die erste Staffel von Into the Badlands scheint erst der Auftakt zu einer längeren Geschichte zu sein und lässt uns über die weitere Handlung und die tieferen Themen, zugunsten des Schwerpunkts auf Ästhetik und Martial Arts-Action, zunächst noch im Unklaren.
Es scheint sich aber eine Reise, möglicherweise eine Art Odyssee, anzukündigen. Die Odyssee im Speziellen und das Motiv der Reise im Allgemeinen werden psychologisch meist als Metapher für die Entwicklung der Persönlichkeit gesehen, bei welcher ebenfalls richtige Wege gefunden, Probleme gelöst, aus Fehlern gelernt, Hürden überwunden und gegen Widerstände beharrt und trotz Frustration und Verzweiflung weitergegangen werden muss. Meist lockt am Ende die Heimkehr, gleichsam die Selbstfindung, und mit der einen wie der anderen ein relativer, zumindest für einige Zeit stabiler, Seelenfrieden.

Wohin die Reisen von Sunny und M.K. in Into the Badlands führen werden, wissen wir noch nicht – die erste Staffel scheint eher dem Zweck zu dienen uns klar zu machen, woher, sprich: Aus welcher äußeren und inneren Situation, die beiden kommen. Die Welt von Into the Badlands ist eine Welt des Traumas, wie uns bereits im Intro der ersten Folge vermittelt wird: Die Kriege liegen so lange zurück, dass sich niemand mehr an sie erinnert. Dunkelheit und Angst regierten das Land… Diese Welt wurde auf Blut errichtet. Hier ist niemand mehr unschuldig

Nahezu alle Protagonisten sind traumatisiert, das heißt, sie waren Erlebnissen und Erfahrungen von außergewöhnlicher Bedrohung und emotionaler Belastung ausgesetzt. 
  • Sunny ist ein Waisenkind und Kindersoldat, der bereits als Knabe töten musste um nicht selbst getötet zu werden und bis heute unzählige Male dazu gezwungen war.
  • Gleiches gilt für Quinn.
  • M.K. wurde entführt, seine Angehörigen ermordet.
  • Auch Ryder wurde entführt und dabei noch gefoltert.
  • Tilda wurde sexuell missbraucht.
  • Veil verliert ihre Eltern auf brutale Weise.
Und das ist nur das, was wir bisher wissen…
In der Psychopathologie unserer Welt werden verschiedene psychische Störungen beschrieben, die als Reaktion auf ein Trauma auftreten können.

Die wohl geläufigste in diesem Zusammenhang ist die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), die sich unter anderem durch Alpträume, Flashbacks (lebhafte, traumartige Erinnerungen während des Wachseins), erhöhte Schreckhaftigkeit, innere Anspannung, Reizbarkeit und Impulsivität auszeichnet, so wie wir sie bei Sunny und M.K. beobachten können.
Bei länger andauernden oder wiederholten Traumatisierungen kann anstelle oder infolge einer Posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) auftreten. Diese kann durch eine feindselige oder misstrauische Grundhaltung, sozialen Rückzug, chronische innere Anspannung sowie Gefühle von Bedrohung durch Andere, Entfremdung, Leere, Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel gekennzeichnet sein. Ein solches Symptombild erkennen wir bei Ryder, der das Trauma seiner Entführung vielleicht deshalb so schlecht verarbeitet hat, weil er zusätzlich den ständigen Zweifeln und Entwertungen seines Vaters ausgesetzt war.
Ebendieser Vater, Quinn, wiederum zeigt eine weitere psychische Störung, deren Auftreten durch traumatische Erlebnisse zumindest begünstigt werden kann. Indem er seine eigenen Gefühle mit Opium betäubt und sich so das für seine Gewaltherrschaft nötige Selbstbewusstsein künstlich zuführt hat er ein Opioid-Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F11.2) entwickelt.


Zumindest für Sunny und M.K. besteht allerdings noch Hoffnung. Der Leidensdruck des unverarbeiteten Traumas ist der Motor des Aufbruchs zur Veränderung. Ob man die Badlands verlassen will, oder sich seinen Traumata in einer Psychotherapie stellen muss, immer ist der Erfolg ungewiss und die Vorstellung vom Ziel allenfalls vage. Doch nur wer sich auf die Reise begibt, hat die Chance, zu sich selbst zu finden.
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Mr. Robot: Elliot

SPOILERWARNUNG: Wer die erste Staffel von Mr. Robot noch nicht bis zum Ende gesehen hat, sollte hier nicht weiterlesen, da der Text überraschende Wendungen zum Ende der Staffel vorwegnimmt.

Elliot Alderson aus Mr. Robot hat zunächst eine recht typische soziale Phobie, das heißt er hat Angst vor sozialen Situationen, also Essenseinladungen, Small-Talk usw. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F40.1) ist diese durch die folgenden Symptome definiert: 
  • Deutliche Furcht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Deutliche Vermeidung im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder von Situationen, in denen die Furcht besteht, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten
  • Mindestens zwei Angstsymptome in den gefürchteten Situationen, z.B. Erröten, Zittern, Schwitzen etc.
  • Deutliche emotionale Belastung durch die Angstsymptome oder das Vermeidungsverhalten.
  • Einsicht dass die Symptome oder das Vermeidungsverhalten übertrieben und unvernünftig sind
  • Die Symptome beschränken sich ausschließlich oder vornehmlich auf die gefürchteten Situationen oder auf Gedanken an diese
Elliots Vermeidungsverhalten, also sein weitgehender sozialer Rückzug, macht ihn jedoch so einsam, dass er seine Gefühle mit Drogen dämpfen muss. Dadurch gerät er in einen Teufelskreis aus Angst, Vermeidung und Selbstvorwürfen. Elliot nimmt vor allem Morphin, ein stark wirksames Schmerz- und Betäubungsmittel aus der Gruppe der Opioide, ein, konsumiert aber auch Cannabis, Extasy und das ebenfalls opioidhaltige Entzugsmittel Suboxone. Während er die leichteren Drogen scheinbar eher unter Kontrolle hat, zeigt Elliot deutliche Anzeichen einer Opioidabhängigkeit (ICD-10: F11.2):
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung von Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Die erwünschte Wirkung der Drogen ist natürlich immer nur vorübergehend. Als zu dieser ohnehin sehr belastenden Situation auch noch immer mehr Stress hinzukommt, entwickelt Elliot eine multiple Persönlichkeitsstörung. Diese schwere und seltene Störung wird diagnostiziert, wenn die folgenden Kriterien vorliegen (ICD-10: 44.81):
  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
Elliot erfüllt diese Kriterien. Dass beide Persönlichkeiten gleichzeitig aktiv sind und auch noch so lebhafte Dialoge führen, wie das in Mr. Robot dargestellt wird, ist dagegen eher unrealistisch.  

Dass Elliots multiple Persönlichkeitsstörung ausbricht, hängt maßgeblich mit der Angst und dem Stress zusammen, die er aufgrund seiner sozialen Phobie hat. Auch der Drogenmissbrauch könnte hierzu beigetragen haben. Als er sich immer mehr einsam, verlassen und überfordert fühlt, spaltet er einen Teil seiner Persönlichkeit unbewusst innerlich ab. Dieser Persönlichkeitsanteil erhält die Gestalt seines Vaters, vor dem er zwar große Angst hat, den er aber auch als stark und mächtig erlebt hat. Ohne es zu wissen, erhofft er sich von seinem Vater, dass diese seine Probleme löst und die großen Herausforderungen bewältigt.

Dieser Mechanismus, der zwar hoch pathologisch ist, in sich aber dennoch eine gewisse Logik hat, ist ein gutes Beispiel dafür, dass psychiatrische Symptome, so eigenartig sie auch wirken mögen, sehr häufig auch eine bestimmte Funktion erfüllen. Man nennt dies Krankheitsgewinn. Nur ist es im echten Leben meist so, dass der psychische und/oder soziale Schaden, der für die betroffene Person dadurch entsteht, schnell den Nutzen überwiegt.
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Shameless: Frank & Carl



In Shameless wird nicht nur die schwere Alkoholabhängigkeit von Frank Gallagher dargestellt, sondern auch die weitreichenden und gravierenden Auswirkungen, die seine Erkrankung auf alle Mitglieder seiner Familie hat.

Um eine Alkoholabhängigkeit diagnostizieren zu können, müssen laut internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F10.2) mindestens drei der folgenden sechs Diagnosekriterien über einen längeren Zeitraum hinweg erfüllt sein:
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Frank Gallagher erfüllt deutlich mehr als die drei für die Diagnose notwendigen Kriterien einer Alkoholabhängigkeit.
Sein starkes, geradezu zwanghaftes Verlangen, Alkohol zu trinken, wird immer wieder eindrücklich dargestellt. Es gibt kaum ein Hindernis, eine Regel oder eine moralische Grenze, die Frank nicht mit aller verfügbaren Energie zu überwinden versuchen würde, um an Alkohol oder an Geld für Alkohol zu kommen.
Der für die Sucht typische Kontrollverlust über den Alkoholkonsum lässt Frank kompromisslos solange trinken, wie Nachschub verfügbar oder aufzutreiben ist – stets bis zur Bewusstlosigkeit.
Die seltenen Versuche Franks, abstinent zu bleiben, sind von körperlichen Entzugserscheinungen begleitet (Psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen, aggressive Impulsivität, Erektionsstörungen), wenngleich diese für einen Alkoholiker von Franks Kaliber eher harmlos dargestellt werden.
Eine Toleranzentwicklung ließe sich bei Frank nur eindeutig nachweisen, wenn bekannt wäre, wie sein Konsum zu Beginn der Suchterkrankung ausgesehen hat. Angesichts der großen Mengen, die er, nach Möglichkeit ununterbrochen, trinkt, können wir jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer deutlichen Toleranzsteigerung im Laufe der Jahre ausgehen.
Deutlich erkennbar ist hingegen Franks vollständige gedankliche Einengung auf den Alkoholkonsum. Es scheint in seinem Leben nichts mehr zu geben, was ihn interessiert oder was er auch nur wahrnimmt, außer den Alkohol und die Mittel und Wege, an diesen heranzukommen. Insbesondere für die Bedürfnisse seiner Kinder bringt er keinerlei Einfühlungsvermögen auf, sondern manipuliert auch diese immer wieder schamlos, um Geld für Alkohol aufzutreiben.
Ebenso offensichtlich sind die eindeutig schädlichen Folgen, die Frank für seine Trinkerei in Kauf nimmt. Nicht nur, dass er sich selbst körperlich und sozial völlig zugrunde richtet. Auch die psychische Gesundheit, das soziale Ansehen und die materielle Existenzgrundlage seiner Kinder opfert er ohne mit der Wimper zu zucken.


Was Shameless neben der überzeugenden Darstellung von Franks Alkoholsucht interessant macht, ist aber vor allem die erstaunliche Fähigkeit seiner Kinder, mit ihrer außerordentlich schwierigen Lebenssituation umzugehen. In einem Armutsviertel aufgewachsen, von ihrer Mutter verlassen und von ihrem alkoholkranken Vater immer wieder enttäuscht und ausgenutzt, meistern sie ihr Leben doch mit bewundernswertem Optimismus und Erfolg.
Die Fähigkeit, unter erschwerten äußeren Bedingungen zurecht zu kommen und Krisen durch den Einsatz der eigenen Fähigkeiten zu bewältigen, ohne dabei psychisch krank zu werden, nennt die Psychologie Resilienz. Verschiedene Faktoren können als Ressourcen fungieren, die die Resilienz einer Person steigern. Franks Kinder weisen viele dieser Faktoren auf:
So gelten stabile inner- und außerfamiliäre Beziehungen als wichtige Resilienzfaktoren. Auch wenn ihre Eltern sie völlig im Stich lassen, so halten die Gallagher-Kinder frag- und kompromisslos zusammen und haben sich zudem ein verlässliches außerfamiliäres Netzwerk von treuen Freunden geschaffen, von denen sie in Notlagen konkrete Unterstützung erwarten können.
Auch Intelligenz gilt als wichtiger Faktor für eine hohe Resilienz. Alle Gallagher-Kinder wirken recht intelligent, was auch bedeutet, dass sie die Schwangerschaften ihrer ebenfalls suchtkranken Mutter unbeschadet überstanden haben. Lip ist sogar überdurchschnittlich intelligent und trägt dadurch häufig entscheidend zum Gelingen der Pläne der Gallagher-Kinder bei.
Ein weiterer wichtiger Resilienzfaktor kann das Eingebundensein in soziale Verpflichtungen sein, das auch in Zeiten großer Schwierigkeiten das Gefühl, gebraucht zu werden und einem höheren Sinn zu dienen, sicherstellen kann. Die Verpflichtung gegenüber ihren jüngeren Geschwistern scheint zum Beispiel Fiona immer wieder die nötige Kraft und den Mut zu verleihen, um für diese Übermenschliches zu leisten.
Das einzige Kind, das in den ersten Staffeln weniger hochfunktional wirkt, ist Carl, der vermutlich eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) hat, also ein ADHS (Unaufmerksamkeit + Hyperaktivität + Impulsivität) mit der Tendenz zu normverletzendem Verhalten (Wutausbrüche, Regeln brechen, unüberlegtes Handeln, Tiere quälen, Eigentum anderer beschädigen, etc.). Während Carl sich in den späteren Staffeln zunehmend fängt, ergeben sich phasenweise immer wieder auch gravierende Probleme bei den anderen Kindern: Lip wird, wie sein Vater, Alkoholiker, scheint seine Sucht aber mithilfe einer Selbsthilfegruppe wieder in den Griff zu bekommen. Auch Fiona trinkt zeitweise viel zuviel. Bei ihr scheint eher ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) als eine vollwertige Abhänigkeit vorzuliegen, so dass sie auch ohne Selbsthilfegruppe und Entzugsbehandlung den Absprung schafft. Ian erkrankt, wie seine Mutter, an einer bioplaren Störung (ICD-10: F31), wodurch er auf eine dauerhafte Medikamentöse Behandlung angewiesen ist.
Dennoch meistern die Gallaghers ihr an Belastungen und Hürden reiches Leben mit letztlich doch unverbrüchlichem Optimismus, Einfallsreichtum und Humor. Letzterer, ebenfalls ein wichtiger Resilienzfaktor, scheint allen Gallagher-Kindern eigen zu sein – vielleicht das einzige, das sie von Frank geerbt haben.
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Breaking Bad: Jesse



Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.

Jesse stammt aus guten, fast schon wohlhabend zu nennenden, Verhältnissen. Seine Eltern leben in einem ansehnlichen Vorstadthaus, sind offenbar gebildet und musisch interessiert und scheinen großen Wert auf die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu legen. Jesse wächst zunächst als Einzelkind auf, sein einziger Bruder Jake ist deutlich jünger als er. Während die Eltern auf Jake große Stücke halten und er offenbar überwiegend in der Lage ist, ihre hohen Anforderungen an Leistung und Auftreten zu erfüllen, wird immer wieder deutlich, dass Jesse in den Augen seiner Eltern eine einzige Enttäuschung darstellt und auch schon in seiner Kindheit dargestellt hat. Wir erfahren von schlechten Schulleistungen und frühen Drogenvergehen.
Die Wurzel der beiderseits enttäuschenden Eltern-Kind-Beziehung liegt aber wahrscheinlich noch früher, nämlich in der Wechselwirkung von Jesses Neigung zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität und der strengen, enttäuschten und verurteilenden Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten. 
Jesse erfährt, dass er, so wie er ist – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht richtig ist und nicht der Sohn, den sich seine Eltern gewünscht hätten. Für einen Jungen wie Jesse, sind das sterile, auf Anstand, Disziplin und Ordnung ausgerichtete Leben seiner Eltern und deren nüchterne, rationalistische Beziehungsgestaltung schwer zu ertragen. Vielmehr bräuchte er intensive Zuwendung, Zuspruch und Anerkennung für seine Vitalität und das Interesse seiner Eltern an ihm und seinen Stärken. Da ihm all das fehlt, versucht er es immer wieder einzufordern, wofür ihm allerdings wenig andere Mittel zur Verfügung stehen, als immer wieder durch Krawall und Regelverstöße auf sich aufmerksam zu machen, was natürlich zu der gewohnten elterlichen Reaktion führt. Dass Jesse, bei angemessener Förderung, durchaus zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage ist, zeigt die Anekdote über das Holzkästchen welches er unter Anleitung eines wohlwollenden und engagierten Lehrers geschreinert hat. 
Diese negative Wechselwirkung ist, neben Jesses biologischer Disposition, der Grund dafür, dass er ein, bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickelt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird dieses Krankheitsbild als Hyperkinetische Störung bezeichnet. In Jesses Fall liegt die Kombination eines ADHS mit delinquentem (regelverletzendem) Verhalten vor, so dass er die Diagnosekriterien einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) erfüllt.

Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
1. Unaufmerksamkeit
  • Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
  • Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
  • Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
  • Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
2. Hyperaktivität
  • Zappeln mit Händen und Füßen
  • Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
  • Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
3. Impulsivität
  • Unterbrechen oder stören anderer
  • Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
  • Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
Die Störung des Sozialverhaltens kann sich in vielerlei Verhaltensweisen äußern, bei Jesse sind dies vor allem:
  • Hinwegsetzen über Regeln
  • Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
  • Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
  • Wutausbrüche
  • Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
  • Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
  • Einsatz von Waffen
  • Zerstörung fremden Eigentums
  • Diebstahl, Einbruch

Wie viele Jugendliche mit einer ähnlichen Symptomatik gerät Jesse mit der Zeit in einen zweiten Teufelskreis: Während er durch sein lebhaftes und getriebenes Verhalten die erwünschte positive Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen nicht bekommt, erlebt er sich bei seinen ersten Drogenerfahrungen auf einmal ruhig, gelassen und sogar konzentrierter als sonst. Jesses Einstiegsdrogen sind, typischerweise, Cannabis und Amphetamine. Cannabis wird von vielen hyperaktiven Jugendlichen als angenehm beruhigend und entspannend empfunden. Amphetamine, zu denen auch das von Jesse und Walt hergestellte Crystal Meth gehört, kann als leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und anregend erlebt werden. Das Amphetaminderivat Methylphenidat wird wegen dieser Eigenschaften in der Behandlung von ADHS eingesetzt und ist unter dem Handelsnamen Ritalin berühmt geworden. Jesses Drogenmissbrauch (ICD-10: F19.1) ist somit, zumindest in seiner Entstehungsgeschichte, auch als unbewusster Versuch einer Selbstmedikation zu sehen. 
Während Jesses Lösungsversuche im Bezug auf die Anerkennung und Liebe seiner Eltern höchst dysfunktional sind und ihn von diesen nur umso mehr entfremden, machen ihn die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen und sein Wissen über das Drogenmilieu zum idealen Partner für Walter, der in diesen Dingen zunächst noch unerfahren ist.
Walter, der Meister der Manipulation, erkennt Jesses tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und nutzt es aus, indem er genau die Fähigkeiten von Jesse würdigt, die seine Eltern am meisten verurteilt haben. Gleichzeitig hält er Jesse klein, entzieht ihm seine Anerkennung und Zuneigung immer wieder, so dass dieser sich auch weiterhin nicht sicher fühlen kann und dazu angetrieben wird, sich Walters Respekt immer wieder neu zu verdienen. Selbst wenn es seine Würde, sein Gewissen, seine Liebe, vielleicht sogar sein Leben kostet. 

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