Vikings: Ivar & Floki

Ivar der Knochenlose – was für ein schrecklicher Name! Nicht nur weil der arme Junge wie ein Ikea-Regal heißt, nein, viel schlimmer ist sein Beiname der auf die ständige gnadenlose Diskriminierung verweist, die ihm wegen seiner körperlichen Behinderung im Kreise der auf Stärke und Nahkampffähigkeiten basierenden Wikingergesellschaft zuteil wird. 
 

 
Dass diese, seit frühester Kindheit ständig erlebte Entwertung und Kränkung im Selbstwertgefühl eines Menschen tiefste Schäden anrichten kann, ist keine Überraschung.  Selbst sein eigener Vater Ragnar, enttäuscht davon, dass der Sohn nicht dem erwünschten Kriegerideal entspricht, möchte ihn zunächst zum Sterben im Wald aussetzen und straft ihn später, die gesamte Kindheit über, mit Ignoranz und Verachtung. Diese sind mittelbar über Ivar auch an dessen Mutter, Ragnars Frau Aslaug, gerichtet. Oberflächlich betrachtet, weil sie ihm nicht den erwünschten Stammhalter „geschenkt“ hat. Eigentlich geht es jedoch um wesentlich tiefer liegende Eheprobleme, welche die beiden, die sich längst in gekränkter Sprachlosigkeit voneinander zurückgezogen haben, jedoch nie bearbeiten werden. Da ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, dass Aslaug, als liebende Mutter, ihrem gefährdeten und benachteiligten Sohn besonders viel Liebe, Fürsorge und Schutz zuteil werden lassen will. 
Was die ohnehin schon sehr schwierige und eine gesunde Selbstwertentwicklung erschwerende Situation jedoch noch zusätzlich verkompliziert, ist, dass sie dabei über ihr eigentliches Ziel völlig hinausschießt. Statt liebevolle Unterstützung, die Ivar einerseits ein Gefühl von Sicherheit Geborgenheit und Wertigkeit vermittelt, andererseits aber auch seine persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten ernstnimmt und fördernd zur Entfaltung bringt, behandelt Arslaug ihn bis in die Jugend wie das zerbrechliche, völlig schutzlose und abhängige Baby, als welches sie ihn am schwierigen Anfang seines Lebens wahrgenommen hat. Auch von ihr erhält Ivar somit kein realistisches Feedback über seine persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, aber auch Fehler oder Schwächen, welche als Ausgangspunkt für eine psychische und emotionale Weiterentwicklung dienen könnten. Aslaugs Infantilisierung und Idealisierung Ivars, zeigt sich unter anderen daran, dass sie ihn übermäßig lange stillt und erreicht ihren tragischen Höhepunkt, als sie ihn selbst dann noch völlig unkritisch in Schutz nimmt, als er einem anderen Kind mit der Streitaxt den Schädel spaltet („es ist nicht deine Schuld, es ist nicht deine Schuld!“).
Natürlich sollten Eltern ihre Kinder immer lieben, selbst dann wenn diese schreckliche Fehler machen, aber eine adäquate Rückmeldung über das Verhalten (z. B.: „Ivar, mein Sohn, du weißt ich liebe dich und werde immer hinter dir stehen, aber anderen Kindern den Schädel zu spalten ist wirklich überhaupt nicht in Ordnung und ich möchte, dass du das zukünftig unterlässt“), ist wichtig um sich persönlich und sozial gesund weiterentwickeln zu können.
Ivar jedoch lebt in einer überaus verwirrenden Diskrepanz zwischen einerseits totaler Entwertung durch die Gemeinschaft und andererseits völlig überzogener Idealisierung durch seine Mutter. Für seine innere Welt bedeutet dies, dass es nur die absolut überlegenen und die absolut wertlosen Menschen gibt und er als körperlich Benachteiligter ganz besonders davon bedroht ist, in die zweite Kategorie gesteckt zu werden. Somit ist Ivars Selbstwertgefühl ständig von absoluter Zerstörung bedroht und die einzige Rettung davor scheint absolute Überlegenheit zu sein. Eine gesunde Selbstwertregulation (z.B.: „Ich bin im großen und ganzen ganz okay, habe einige besondere Talente, andere Dinge gelingen mir dagegen häufig nicht so gut wie anderen, bisweilen passieren mir schreckliche Fehler, doch ich besitze auch ausreichend positive Charaktereigenschaften und Fähigkeiten um mein Bestes zu geben um daraus zu lernen…“) ist dadurch kaum möglich. 

Psychopathologisch können sich schwere Selbstwertstörungen symptomatisch auf verschiedene Weise manifestieren, z.B. als stark von Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Depressionen. Eine weitere Form von Selbstwertstörung ist die heutzutage berühmt-berüchtigte narzisstische Persönlichkeitsstörung
Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass sogenannte Narzissten sich mit ihrer Störungen wohlfühlen und es nur die anderen seien die darunter leiden würden. Das ist jedoch eine viel zu oberflächliche Sichtweise. Vielmehr ist es so, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung unter einer ständigen latenten aber totalen Bedrohung ihres Selbstwertgefühls leiden. Wie bei Ivar gibt es nur großartig oder absolut wertlos. Daher sind sie sozusagen darauf angewiesen sich selbst stets der eigenen Grandiosität und Größe zu versichern um sich vor der absoluten Selbstwertzerstörung zu schützen. Das resultiert dann in der Überhöhung der eigenen Eigenschaften und Leistungen und häufig auch in der Entwertung anderer. Beziehungen können dann rein instrumentell sein, d.h. andere dienen dazu erniedrigt zu werden (z.B. Ivars Bruder Hvitserk) oder werden nur solange als Gegenüber akzeptiert, wie sie dem eigenen Selvsteert durch Idealisierung dienlich sind (z.B. Ivars Frau Freydis).
 
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) kann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden, wenn mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen: 
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten 
 
Bei Ivar können wir alle genannten Kriterien erkennen und ihm somit eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Ob seine Störung so weit geht, dass er sich tatsächlich selbst für einen Gott hält, oder es lediglich genießt, wenn andere dies tun, bleibt offen. 
 
Apropos Götter: Floki, der Vikings-Charakter, nach dem ich am häufigsten gefragt werde, ist bis Staffel 5 gar nicht verrückt, bloß ein bisschen exzentrisch und sehr religiös. Erst später, nach dem Verlust aller Menschen die ihm wirklich etwas bedeutet haben, hat es den Anschein, dass er eine wahnhafte Störung (ICD 10: F22.0) entwickelt. Andererseits kann in der Welt von Vikings auch nicht ausgeschlossen werden, dass er vielleicht einfach eine Inkarnation des mythischen Loki (Wikipedia) ist und die Götter tatsächlich zu ihm sprechen. Wer weiß das schon? 
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You – Du wirst mich lieben: Joe

Leute sind schon irgendwie ´ne Enttäuschung. Du auch, Beck, du auch?“ 
Dieser Satz von Joe, dem Protagonisten der Netflix-Serie You – Du wirst mich lieben lässt bereits nach 4:59 Minuten der ersten Folge tief blicken. Hier ist jemand offenbar so tief und global von seiner sozialen Umwelt enttäuscht, dass es ihm als absolute Ausnahme erscheint, auf jemanden zu treffen, der keine Enttäuschung darstellt. Entsprechend wird die Möglichkeit einer solchen Begegnung idealisiert überhöht. 
Die Überzeugung grundsätzlich besonders oder einzigartig zu sein und auch nur von den wenigen anderen besonderen oder bedeutsamen Menschen verstanden zu werden und verkehren zu können, ist ein Kernmerkmal narzisstischer Persönlichkeitsstörungen (ICD-10: F60.80). Ebenso wie Phantasien idealer und grenzenloser Liebe, ein Mangel an Empathie und eine Tendenz zu ausbeuterischem Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen. 
Joe weist also deutliche narzisstisch gestörte Züge auf. Die Frage, ob er da klinische Vollbild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bei ihm erfüllt ist, ist ein Grenzfall und für das Verständnis seines Verhaltens von untergeordneter Wichtigkeit, weshalb ich sie hier nicht weiter diskutieren will. 
Viel relevanter scheint Joes Bindungsstörung zu sein. Diese ist keine Diagnose nach ICD-10, sondern vielmehr ein grundlegendes, tief in der Persönlichkeit verankertes Erlebens- und Verhaltensmuster, dass verschiedenen pathologischen Verhaltensweisen zugrunde liegen kann. Joes gestörter Bindungsstil wird alsunsicher-ambivalent bezeichnet. Er hat von Beginn seines Lebens an erlebt, dass er sich auf wichtige Bezugspersonen nicht verlassen kann. Entweder wurde er im Stich gelassen, oder gar misshandelt. 
Dass er die Hoffnung auf Liebe nicht vollständig verloren hat, liegt an der Begegnung mit der ersten Person, die sich seiner angenommen hat: Mr. Mooney. Leider war Mr. Mooney ein autoritärer und jähzorniger Mann, der von Joe absoluten Gehorsam und uneingeschränkten Zuspruch erwartet und diese auch mit psychischer und physischer Gewalt erzwungen hat. 
Joes prägende Beziehungserfahrungen legen ihm also nahe, dass die meisten Beziehungen enttäuschend sind, während das seltene Glück einer stabilen, Orientierung und Zugehörigkeit bietenden Beziehung mit absoluter Unterwerfung und Selbstaufgabe bezahlt werden muss. Folglich bleibt seine Vorstellung von Liebe davon geprägt, dass man sich dem anderen entweder uneingeschränkt und grenzenlos hingibt, oder die Beziehung eben gar keinen Wert hat. 
Dass die meisten anderen Menschen, trotz eines vorhandenen Wunsches nach verlässlichen Beziehungen, Wert auf ihre individuelle Freiheit legen, kann sich Joe nur so erklären, dass sie, im Gegensatz zu ihm, die Falschheit und Brüchigkeit der meisten Beziehungen noch nicht durchschaut haben und den Wert bedingungsloser Selbstaufgabe daher nicht erkennen. Es ist folglich seine Pflicht, den Menschen, den er liebt, zu seinem Glück – der perfekten, exklusiven, ewigen Liebe – zu zwingen, so wie er von Mr. Mooney zu seinem Glück gezwungen wurde. 
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Sharp Objects: Adora

Schön, wenn eine Film- bzw. Serienadaptation ihrer Buchvorlage gerecht wird! Im Falle der HBO-Serie (in Deutschland bei Sky zu sehen) Sharp Objects, basierend auf dem gleichnamigen (in Deutschland als „Scharfe Schnitte“ oder „Cry Baby“ erhältlichen) Roman der großartigen Psychothriller-Autorin Gillian Flynn, ist das vollständig gelungen. Die Serie ist, ebenso wie das Buch, wunderbar düster, makaber, unheimlich, spannend, schockierend, grausam und traurig. 
Die Königin und heimliche Hauptfigur dieser düsteren Familiendystopie ist Adora, die Königin von Windgap. Schon bevor wir von den tödlichen Auswirkungen ihrer Fürsorge erfahren, lässt uns ihr Umgang mit ihren Kindern erschaudern. Dramatische Inszenierungen und Selbstbeschreibungen als grenzenlos liebende und bedingungslos aufopfernde Mutter, stehen einer erschreckenden Empathielosigkeit und erbarmungsloser Manipulation durch Vorwürfe, Schuldgefühle, Moralisierung und Invalidierung (Missachten, Verneinen oder Verdrehen von Wahrnehmungen, Bedürfnissen oder Gefühlen) ihrer Kinder gegenüber. 
Den Kindern wird, entgegen Adoras Beteuerung, die wahrscheinlich tatsächlich ihr verzerrtes Selbstbild wiedergeben, vermittelt, dass ihr einziger Daseinszweck darin besteht, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen und auf diese Weise für deren Glück oder Unglück gleichsam alleine verantwortlich zu sein. In der Sprache der Psychoanalyse werden die Kinder von Adora zu Selbstobjekten gemacht, die nicht als eigenständige Individuen, sondern nur für die Erhaltung bzw. Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls von Interesse sind. 
Dieses Erziehungsverhalten führt zu den massiven Problemen beider noch lebender Töchter im Bezug auf die Regulation des eigenen Selbstwertgefühls (bei Camille in Form eines phasenweise extrem negativen Selbstbildes, bei Emma in Form eines krankhaften Narzissmus, der keine Konkurrenz, keine Widersprüche und keine Empathie erlaubt) und der eigenen Emotionen, welche nicht adäquat geäußert und verarbeitet werden können und sich in der Folge immer wieder impulsiv, ohne ausreichende Beachtung der Konsequenzen, ausagiert werden müssen, z.B. in Suchtmittelmissbrauch, Selbstverletzung oder Mord. 
Tatsächlich haben Kinder psychisch kranker Eltern (in Deutschland etwa jedes vierte Kind und 18 Jahren) ein drei- bis viermal höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. (Zur oft beklemmenden und verstörenden Lebenssituation von Kindern schwer psychisch kranker Eltern, empfehle ich den auf Youtube frei zugänglichen Kurzfilm Lilli). 
Allerdings gehört zum vollständigen Bild auch, dass die überwiegende Mehrheit psychisch erkrankter Eltern mit der eigenen Erkrankung verantwortungsvoll und transparent umgehen und genauso gute Eltern sind, wie psychisch Gesunde und dass es eine Vielzahl von Risiko- und Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt, so dass sich hier vorschnelle, eindimensionale Rückschlüsse verbieten. 
Jedenfalls leidet Adora, die selbst als Kind offenbar emotionalen Missbrauch erlebt hat, in der Folge unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, welche sich nach ICD-10 (F60.4) durch mindestens vier der Folgenden zeit- und situationsübergreifenden Merkmale definiert: 
  • Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch Andere oder durch Ereignisse (Umstände)
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen
Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung, fehlende Bezugnahme auf andere, leichte Verletzbarkeit der Gefühle und andauerndes manipulatives Verhalten treten nicht selten begleitend auf, sind aber für die Diagnose nicht erforderlich. 
Adoras massives Bedürfnis nach dramatischer Selbstdarstellung, in diesem Fall als fürsorglich aufopfernde Mutter, in Kombination mit ihrer Unfähigkeit, sich tatsächlich warmherzig und empathisch auf andere Menschen einzulassen und sich diesen zu öffnen, führen zu einer weiteren Störung, dem sogenannten Münchhausen by proxy– bzw. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer Spezialform des Münchhausen-Syndroms, welches in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F68.1) unter der Bezeichnung Artifizielle Störung als das „absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen“ definiert wird. Während beim Münchhausen-Syndrom Symptome durch Simulation oder Schädigung beim Betroffenen selbst erzeugt werden, häufig mit der unbewussten Motivation, sich Zuwendung und Versorgung durch andere Personen zu sichern, werden diese beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bei einer anderen Person, oft den eigenen Kindern, herbeigeführt, um selbst eine versorgende und damit moralisch und bezüglich des eigenen Selbstwerts höherwertige Position einnehmen zu können. 
Das Münchhausen-Syndrom gilt als eine der psychischen Störungen mit der höchsten Dunkelziffer. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass Opfer einer Person mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in fünf bis 35% der Fälle an den Folgen sterben. 
In der Vorgeschichte von Personen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom findet sich nicht selten selbstverletzendes Verhalten, so auch bei Adora, die sich in Situationen erhöhter emotionaler Anspannung die Wimpern ausreißt, anstatt ihre Emotionen angemessen zulassen, ausdrücken und verarbeiten zu können. 
So ist Sharp Objects in erster Linie ein, in den Auswirkungen sicherlich extremes, aber in den Mechanismen der transgenerationalen Bindungsstörungen beängstigend nachvollziehbares Familiendrama, das zum Besten gehört, was es derzeit zu sehen gibt. 
*Mehr zu Sharp Objects gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast.
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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Dr. House: Dr. House

Seit ich vor fast vier Jahren angefangen habe, diesen Blog zu schreiben, wurde mir immer wieder Dr. House aus der gleichnamigen Serie nahegelegt. Für den Charakterneurosen-Podcast habe ich mich jetzt mal mit ihm befasst.

Eines gleich vorweg: Nein, Dr. House hat keine Narzisstische Persönlichkeitsstörung! Von den Diagnosekriterien nach ICD-10 (F60.80) erfüllt er nicht die für die Diagnose notwendigen fünf, sondern allenfalls drei:

  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten

Das Gefühl von Grandiosität bezieht sich nur auf seine Fähigkeiten als medizinischer Diagnostiker, wo es tatsächlich adäquat ist. Als Kriterium einer Persönlichkeitsstörung müsste es sich jedoch situationsübergreifend zeigen. Gleiches gilt für das dritte Kriterium. Intensive narzisstische Phantasien, Bedürfnis nach Bewunderung und Neid können wir ausschließen. Auch ist House nicht wirklich empathieunfähig, er bemüht sich nur um eine möglichst distanzierte Haltung gegenüber seinen Patienten, um rationaler diagnostisch entscheiden zu können. Bleiben Anspruchsdenken, ausbeuterische Haltung (mit Einschränkungen) und arrogante Verhaltensweisen (aber Hallo!).

Doch dass wir die narzisstische Persönlichkeitsstörung ausschließen können, bedeutet nicht, dass Dr. House ein gesunder Mann wäre.

Zunächst einmal fällt die, in der Serie auch immer wieder thematisierte, Schmerzstörung ins Auge. Dr. House hat eine Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren (ICD-10: F45.41). Diese ist definiert durch „einen mindestens 6 Monate andauernden intensiven und quälenden Schmerz in einem Körperteil, der nicht ausreichend durch eine körperliche Störung oder ein physiologisches Geschehen erklärt werden kann“.

Seine Schmerzen sind die Folge einer missglückten Operation am Bein, zeigen jedoch auch deutliche Zusammenhänge mit seinem emotionalen Befinden: Je einsamer, pessimistischer, misanthropischer und vor allem weniger verbunden mit seiner sozialen Umwelt er sich fühlt, umso stärker scheint er sie zu erleben und auch zu thematisieren, wohingegen er in Phasen erhöhten Selbstwertgefühls aufgrund beruflicher Herausforderungen und Leistungen oder in seltenen Momenten wahrer zwischenmenschlicher Verbundenheit, deutlich weniger eingeschränkt erscheint.

Aus der Chronischen Schmerzstörungen scheinen sich sekundär zwei weitere psychische Störungen zu ergeben

Erstens, eine Abhängigkeit von dem opioidhaltigen starken Schmerzmittel Vicodin. Eine Opioidabhängigkeit ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F11.2) gekennzeichnet durch drei oder mehr der folgenden Kriterien:

  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung von Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen

Zweitens, scheint Dr. House unter einem Syndrom zu leiden, das als Male Depression, also „männliche Depression“, bezeichnet wird. Die klassischen Depressionssymptome Niedergeschlagenheit, Interessens- und Freudverlust sowie Antriebslosigkeit treten statistisch gesehen doppelt so häufig bei Frauen wie bei Männern auf, was dazu führt, dass Depressionen bei Männern vermutlich häufiger übersehen werden. Männer hingegen zeigen häufiger andere, weniger offensichtliche depressive Symptome, wie

  • Gereiztheit
  • Zynismus
  • Aggressivität
  • Dissoziales/delinquentes Verhalten
  • Risikoverhalten
  • exzessives Arbeiten („Flucht in die Arbeit“)
  • Suchtmittelmissbrauch

Diese können wir bei Dr. House deutlich erkennen. Der Zusammenhang zwischen der Schmerzstörung und der Depression besteht vermutlich in einem sogenannten depressiven Schmerzkreis: House ist enttäuscht von seiner sozialen Umwelt. Seine Frau und seine Ärzte haben ihn, seiner Ansicht nach, falsch behandelt, damit sein Leid verursacht und mit diesem letztlich alleine gelassen.

Dr. House zeigt die typisch depressive negative Weltsicht, die als kognitive Triade bezeichnet wird:

  • Negatives Selbstbild
  • Negatives Bild von der Welt
  • Negative Erwartungen für die Zukunft
Deutlich wird diese in seinem charakteristischen Satz: „Jeder Mensch lügt“.

Die Wahrnehmung seiner sozialen Umwelt als insuffizient und unehrlich führt zu emotionalem Rückzug und Feindseligkeit, welche wiederum Ablehnung und Gegenaggression auslösen. Dadurch chronifiziert sich ein Zustand von Einsamkeit und dem Erleben, nicht dazuzugehören und nicht gemocht zu werden. Wie hartnäckig diese Selbstwahrnehmung ist, zeigt sich unter anderem darin, dass Dr. House mit Komplimenten, Freundlichkeit oder Fürsorge kaum umgehen kann und reflexhaft zynisch oder aggressiv reagiert. Letztendlich verstärkt aber diese soziale Isolation durch das Zurückgeworfensein auf das eigene innere Erleben die Beschäftigung mit dem Schmerz und steigert somit dessen wahrgenommene Intensität. Der Versuch, diese mit Vicodin zu lindern, führt zu zusätzlichen sozialen Problemen.

Psychodynamisch erfüllt der Schmerz hier auch die Funktion, die Gefühle, welche Dr. House in seiner bewussten Selbstwahrnehmung schon lange resigniert aufgegeben hat, wie seine Wünsche nach Liebe, Versorgung, Zuneigung und auch die Hoffnung, diese noch zu erleben, im Unbewussten weiter artikulieren zu können. Die Selbstinszenierung als Leidender, Kranker, körperlich Schwacher („Krüppel“ wie Dr. House sagen würde) erlaub unbewusst die Identifikation mit der eigenen emotionalen Bedürftigkeit und ein heimliches Signal an die Umwelt: Helft mir!




Mehr über Dr. House gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu hören

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The Walking Dead: Negan

Negan aus The Walking Dead ist ein beeindruckender Bösewicht. Schon vor seinem ersten Auftritt in der Serie wurde viel über die aus den Comics bekannten Figur spekuliert und auch in der Serie selbst schien sich die Präsenz eines mächtigen Gegenspielers sich bereits im Vorfeld subtil atmosphärisch abzuzeichnen.

Dann, in der letzten Folge der sechsten Staffel, hat er seinen ersten Auftritt und dieser wird in einem gut zehnminütigen Monolog zelebriert. 

Aus psychotherapeutischer Sicht ist das erste Kennenlernen einer Person, im Falle der Therapie die sogenannte Eingangsszene, von großem Interessen, da wir davon ausgehen, dass Patienten uns im ersten Kontakt besonders deutlich die Informationen liefern, welche sie – bewusst oder unbewusst – als wichtige Angaben über sich selbst und damit als relevant für die Therapie erachten. 

Dabei unterscheidet man drei Formen von Information:

  1. Objektive Informationen: Fakten und Daten, die objektiv überprüfbar sind
  2. Subjektiv Information: Die emotionale Bedeutung, die der Patient bestimmten Daten und Fakten persönlich verleiht. Diese ist ihm bewusst und kann dem Therapeuten (ggf. auf Nachfrage) mitgeteilt werden.
  3. Szenische Informationen: Durch die Gestaltung der Szene, also durch Auftreten, Körpersprache, Ausdrucksweise etc. teilt der Patient unbewusst Informationen über sich selbst mit. Diese können mit den objektiven und subjektiven Informationen übereinstimmen, oder aber diesen widersprechen.
Aus der aufmerksamen Registrierung aller drei Informationsquellen versucht der Therapeut, ein möglichst umfassendes Bild des Patienten, seiner Persönlichkeit und der zentralen Themen und Konflikte zu gewinnen.

Betrachten wir Negans ersten Auftritt unter diesen Gesichtspunkten erhalten wir eine Menge objektiver, subjektiver und szenischer Informationen.
Objektive Informationen sind beispielsweise sein Name, Negan, der Name seines Baseballschlägers, Lucille, oder auch die vielen Regeln und Konsequenzen, die er verkündet. Dieses sind Fakten. Sie können richtig oder falsch, gut oder böse sein, sind aber objektiv überprüfbar und bedürfen zur Überprüfung keiner subjektiven Einordnung oder Erklärung.
Relevante subjektive Informationen sind zum Beispiel, dass Negan verärgert darüber ist, dass die Gruppe um Rick viele seiner Leute getötet hat. Hier benennt er ein Gefühl, keinen Fakt. Niemand außer ihm kann dieses Gefühl überprüfen. Jemand anderes könnte infolge derselben objektiven Information (Negans Leute wurden getötet) andere Gefühle haben, ohne dass dadurch Negans Gefühl falsifiziert wäre. Oder die Tatsache, dass Negan Lucille großartig findet. Auch hier könnten Andere anderer Meinung sein.
Häufig am interessantesten sind die szenischen Informationen, da diese erst durch Interpretation erschlossen werden müssen und in Teilen meist der Person selbst nicht bewusst sind. Die offensichtlichste szenische Information, die Negan vermittelt, ist, dass er die mächtigste anwesende Person ist und diese Macht zur Kontrolle der anderen einsetzen möchte, was zur objektiven Information der von ihm aufgestellten Regeln und Konsequenzen passt. Negan vermittelt diesen Machtanspruch durch seine aufrechte, breitbeinige Körperhaltung, während die anderen knien müssen. Weitere typische Inszenierungen eines überlegenen Status sind seine langsame, ruhige, mittellaute Sprechweise, der intensive Blickkontakt und das räumliche Eindringen in den persönlichen Bereich seines Gegenübers, wenn er unangenehm nahe an sie herantritt.
Eine weitere wichtige szenische Information ist seine vermeintliche Unberechenbarkeit. Niemand soll sich allzu sicher fühlen. Daher wird er immer wieder überraschend laut, wechselt die Gangrichtung, wendet sich mal dem einen, dann spontan dem anderen zu, täuscht Angriffe an um sie wieder abzubrechen oder doch überraschend an anderer Stelle zuzuschlagen. Auch diese Information sendet Negan bewusst und absichtlich.
Wer jedoch genau hinsieht, kann auch szenische Informationen entdecken, die Negan offenbar unbewusst sendet, da sie nicht zu seiner bewussten Inszenierung als eiskalter und unberechenbarer Gewaltherrscher passen.
So ist zum Beispiel einen kurzen Moment lang seine Anerkennung, vielleicht sogar Bewunderung für Darryl, der versucht ihm Paroli zu bieten, sichtbar, bevor er schnell wieder in sein gewohntes Auftreten zurückfindet. Gleiches gilt für eine kurzen Moment mit Carl, als Negan sich zu ihm auf die Knie begibt um Augenhöhe zu dem Jungen, der immerhin eines seiner Gewehre erbeutet hat, herzustellen.
Hier zeigt sich eine wichtige unbewusste Seite Negans, die auch deshalb relevant ist, weil sie ihm möglicherweise zum Verhängnis werden könnte: Negan ist entgegen Selbstwahrnehmung sehr abhängig von der Bewunderung anderer Menschen. Insbesondere von Menschen, die er selbst respektiert, meist weil sie sich als mutig oder willensstark erwiesen haben, möchte er eben nicht nur gefürchtet, sondern vielmehr unbedingt bewundert werden.
Dadurch handelt er immer wieder irrational, z.B. wenn er extrem viel Zeit darauf verwendet, Darryl oder Carl zu beeindrucken. Auch schätzt er dadurch bestimmte Situationen falsch ein. Während fast alle anderen, inklusive der Saviors und deren Arbeitern, ausschließlich Angst vor ihm empfinden, interpretiert er deren Unterwürfigkeit als Respekt. Dies verleitet ihn immer wieder, sich leichtfertig in Situationen zu begeben, in denen er durchaus angreifbar wäre, weil er mehr positive Bewunderung und Zuneigung vermutet, wo meist nur Angst, aber auch eine gehörige Menge Hass sind.
So zeigt uns Negan bereits in der Eingangsszene, und ohne es zu wollen, zwei wichtige Merkmale seiner narzisstischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80):
  • Das exzessive Bedürfnis nach Bewunderung und
  • das Gefühl nur mit einigen wenigen, ebenfalls besonderen Personen auf Augenhöhe sein zu können.
Weitere Symptome sind:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Intensives Streben nach Erfolg und Macht
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Die Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Wir werden im weiteren Verlauf von The Walking Dead erfahren, ob ihm diese stark verzerrte Selbstwahrnehmung nicht irgendwann noch zum Verhängnis wird… 

Mit The Walking Dead und Negan befassen wir uns auch im Charakterneurosen-Podcast


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Under the Dome: Big Jim

James „Big Jim“ Rennie aus Under The Dome ist das Paradebeispiel eines Menschen mit Narzisstischer Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.80). Von den überdauernden Erlebens- und Verhaltensweisen, die dieser Störung zugeordnet werden, erfüllt er nicht nur die für die Diagnosestellung nötigen fünf Kriterien, sondern gleich alle Neune.

  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen 
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Allerdings weiß man bei Under The Dome ja nie so genau, welche der Überzeugungen, Visionen und Vorahnungen, die Psychologen in unserer Welt als Realitätsverzerrung oder sogar als Wahn klassifizieren würden, sich unter der Kuppel letztlich als wahr erweisen.
Vielleicht ist Big Jim ja doch der Auserwählte…

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Tatort Münster: Prof. Boerne

Die jüngste Folge des Münsteraner Tatorts war die erfolgreichste Tatortepisode seit über zwanzig Jahren. Allgemein erzielen Hauptkommisar Frank Thiel und Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne regelmäßig Bestquoten. 

Dass die Münsteraner Ermittler so beliebt sind, liegt sicher nicht an der Spannung oder dem Einfallsreichtum der Mordfälle, sondern es sind Boernes exzentrische Marotten, Thiels fassungslose Gereiztheit und der daraus entstehende Schlagabtausch, die Fernsehdeutschland am Sonntagabend nach Münster locken. 
Prof. Dr. Boernes Eigenheiten lassen sich dabei allesamt im Krankheitsbild der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wiederfinden, die nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) durch mindestens fünf der folgenden Kriterien definiert wird:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Boernes Herkunft aus einer altehrwürdigen Akademikerdynastie sowie seine spätere Sozialisation im Medizinstudium und einer schlagenden Studentenverbindung dürften ein an Status und Erfolg orientiertes Welt- und Menschenbild begünstigt haben. Vielleicht hat er die Erfahrung gemacht, nicht um seiner selbst willen, sondern nur für Wissen, Leistung und Ehrgeiz respektiert und geliebt zu werden. 
Boernes hypochondrische Ängste spiegeln seinen Egozentrismus auf körperlicher Ebene wider.
Um mit sich selbst zufrieden sein zu können, muss er nicht nur stets der Beste, Klügste und Erste sein, sondern auch die Anderen klein halten, übertrumpfen und ihnen ihre Fehler und Unzulänglichkeiten unter die Nase reiben, um selbst noch großartiger dazustehen. 
Dabei sind seine bevorzugte Opfer die ihm am nächsten stehenden Menschen: Thiel und Alberich. Mit ihnen teilt der Zuschauer die Befremdung, den Ärger, manchmal die schiere Fassungslosigkeit über Boernes Arroganz – und auch die Schadenfreude, wenn sich der Herr Professor mal wieder verrannt hat.
Und dennoch lieben wir – genau wie Thiel und Alberich – insgeheim unseren verrückten Professor Boerne. 
Warum?
Weil er unseren eigenen heimlichen Narzissmus stellvertretend auf der ganz großen Bühne auslebt – und das auch noch im Dienste der Gerechtigkeit!
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Das Böse in House of Cards & The Shield

Francis „Frank“ Underwood aus House of Cards und Detective Vic Mackey aus The Shield – Gesetz der Gewalt verbindet auf den ersten Blick nicht viel. Hier der aalglatte Spitzenpolitiker, stets in Anzug und Krawatte, dort der raubeinige Cop, laut, aggressiv und respektlos. 

Bereits der zweite Blick offenbart jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Jeder der beiden ist in seiner Welt (der des politischen Establishments und der des Polizeiapparates und der Straßengangs) bewundert und gefürchtet zugleich. Sowohl Frank als auch Vic sind in höchstem Maße berechnend, kaltherzig, gierig und manipulativ. Nichts und Niemand scheint ihnen heilig zu sein. Prinzipien wie Personen verraten sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Das schlechte Gewissen, der innere Konflikt zwischen egoistischen Bedürfnissen und allgemeingültigen Moralvorstellungen, welcher viele Film- und Seriencharaktere stellvertretend für uns umtreibt, spielt für Frank und Vic keine Rolle. Sie lügen, drohen, erpressen und morden mit schockierender Gleichgültigkeit. Sie verfolgen ausschließlich ihre persönlichen Ziele und stellen diese ganz selbstverständlich über alles andere. Frank selbst formuliert es so: „Der Weg an die Macht ist mit Heuchelei gepflastert und Kollateralschäden. Kein Platz für Reue!“
Diese Kombination aus Narzissmus, Dissozialität, Aggression und Misstrauen gegenüber anderen wird als Maligner Narzissmus bezeichnet. Maligner Narzissmus ist eine spezielle und seltene Variante der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zwar deren Kriterien erfüllt, aber darüber hinaus noch die zusätzlichen Merkmale Dissozialität, Aggressivität und eine misstrauische Grundhaltung voraussetzt.
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe 
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung 
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung 
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Frank Underwood und Vic Mackey erfüllen den Großteil dieser Kriterien. Beide fühlen sich ihren Kollegen und Konkurrenten überlegen und leiten aus ihrer idealisierten Selbstwahrnehmung das Recht ab, die eigenen Interessen (Frank: Macht; Vic: Macht und Geld) ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen. Beide idealisieren ihre Ehen und sind blind dafür, dass sie ihre Frauen, genau wie alle anderen, manipulieren und verletzen. Die wenigen Freundschaften, die sie pflegen (Frank: Freddy, Doug; Vic: Shane, Lem, Ronnie), bestehen ausschließlich zu Menschen, die hinsichtlich Status und Hierarchie unterlegen sind. Dies dient der Sicherung der eigenen Überlegenheit und der Bewunderung durch die weniger Privilegierten. Doch selbst diese werden fallengelassen, sobald es der eigenen Sache dient. 
Alle, die höher in der Nahrungskette stehen (Frank: Präsident Walker; Vic: Captain Aceveda), werden als unfähig erlebt, um ihre Position beneidet und mit allen Mitteln und ohne Mitleid bekämpft.
Neben der ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, weisen Frank und Vic auch die weiteren Merkmale maligner Narzissten auf: Dissozialität, Aggressivität und Misstrauen. Erst diese Kombination macht ihren individuellen Narzissmus so maligne, so verheerend für ihre Feinde, Freunde, Kontrahenten und Familien.
Die ausgeprägte Dissozialität (d.h. Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Normen und Gefühlen anderer) bewirkt, dass es nicht bei Neid- und Hassgefühlen auf all jene, die die eigene Grandiosität nicht anerkennen oder den eigenen Zielen im Wege stehen, bleibt, sondern dass diese auch aktiv, unter Missachtung jeglicher gesellschaftlicher Regeln, bis aufs Blut bekämpft werden, wobei sich ein hohes Maß an Aggressivität zeigt: Jeder (vermeintliche) Angriff wird massiv vergolten, jede kleinste Provokation heftigst erwidert. Bei Kränkungen wird impulsiv und unverhältnismäßig zurückgeschossen, nichts wird je vergessen oder vergeben.
Die hohe Kränkbarkeit hängt auch mit der per se misstrauischen Grundhaltung zusammen. Aus der eigenen Bereitschaft, jeden jederzeit dem eigenen Vorteil zu opfern, leitet sich die Erwartung ab, dass auch andere letztlich illoyal und ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Daher müssen alle Beziehungen durch Macht oder Manipulation kontrolliert und das Gegenüber in Angst, blindem Gehorsam und Abhängigkeit gehalten werden.
Beunruhigend an den Darstellungen des malignen Narzissmus in House of Cards und The Shield ist allerdings weniger die Tatsache, dass es solche Menschen gibt, sondern vielmehr, dass diese (zumindest für lange Zeit und mit verheerenden Folgen) erfolgreich und prägend in zentralen gesellschaftlichen Institutionen tätig sind. Es sieht sogar so aus, als wären es gerade die pathologischen Persönlichkeitsaspekte, die den Aufstieg und die Triumphe von Frank und Vic in oft zunächst ausweglos erscheinenden Situationen erst ermöglichen. Der maligne Narzissmus scheint einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen darzustellen, die entweder durch Prinzipien, Anstand, Skrupel, Mitgefühl oder Gemeinsinn gebunden sind.
Die meisten von ihnen verzweifeln irgendwann an der Verdorbenheit des Systems, versuchen schließlich mit ebenso illegalen Mitteln zurückzuschlagen, scheitern aber an ihren auf diesem Gebiet überlegenen narzisstischen Kontrahenten und werden schließlich entweder von ihnen vernichtet oder stehen geschlagen und beschämt da. Dieses düstere Bild wird in House of Cards und The Shield bei weitem nicht nur von Politik und Polizei gezeichnet, sondern zeigt sich genauso in Medien, Gewerkschaften, Kirchen sowie sozialen und gemeinnützigen Organisationen.
Muss man also ein maligner Narzisst sein, um sich in den hierarchisch-bürokratischen Gesellschaftsstrukturen zu behaupten? Lässt der gesellschaftliche Leistungs- und Konkurrenzdruck die Menschen gar erst zu malignen Narzissten werden? (Immerhin wissen wir kaum etwas über Franks und Vics Vorgeschichten)
Oder ist es in echt gar nicht so schlimm, wie im Fernsehen…?
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Star Trek: Spock & Kirk

Die Star Trek Filme von J. J. Abrams, Star Trek (2009) und Star Trek Into Darkness (2013), rücken das Kennenlernen und die beginnende Freundschaft der beiden Hauptcharaktere Captain James T. Kirk und Commander Spock in dem Mittelpunkt der Handlung.

Wenngleich die beiden eigentlich viel gemeinsam haben (Stolz, beruflicher Ehrgeiz, Verlust eines Elternteils, Schwäche für Lieutenant Uhura…), wird vor allem ihr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Umgang mit Emotionen thematisiert und sorgt immer wieder für Diskussionen und Konflikte zwischen beiden.

Spock, der halb Mensch, halb Vulkanier ist, wurde nach vulkanischem Brauch erzogen. Wie wir von Spocks Vater lernen, haben Vulkanier nicht etwa keine oder weniger Emotionen als Menschen, sondern im Gegenteil, viel stärkere. Durch Wissen und Logik versuchen sie, ihre Emotionen zu kontrollieren, um nicht von ihnen kontrolliert zu werden. Die Indoktrination mit der vulkanischen Philosophie beginnt von klein auf, sodass Spock niemals lernte, Emotionen wahrzunehmen, zu differenzieren oder zu regulieren, sondern nur, sie radikal zu unterdrücken.

Diesen, von den Vulkaniern angestrebten Zustand kennt die Psychologie als psychopathologisches Symptom mit dem Namen Alexithymie, was so viel bedeutet wie Unfähigkeit zum Gefühlsausdruck.
Alexithymie kommt durch Verdrängung zustande. Verdrängung wiederum ist ein psychischer Abwehrmechanismus, mit dem sich das Ich vor unaushaltbaren Emotionen schützt, indem diese ins Unbewusste verdrängt werden. Verdrängung kann komplette Erinnerungssequenzen, z. B. traumatische Erlebnisse, betreffen, oder auch nur die Gefühle, die mit einem Erlebnis verknüpft sind. Im letzteren Fall spricht man auch von Affektisolierung. Diese liegt der Alexithymie zugrunde, bei der die Personen zwar über schmerzhafte Erlebnisse berichten können, aber scheinbar ohne emotionale Beteiligung.
Am Beispiel von Spock, der den Prozess der Verdrängung, welcher beim Menschen in der Regel unwillkürlich und unbewusst abläuft, aktiv trainiert und praktiziert, können wir beobachten, dass Verdrängung nicht mit vollständigem Vergessen oder Löschen gleichzusetzen ist. Spocks Emotionen (sowohl die aktuellen, wie auch die Erinnerungen an vergangene, besonders schmerzhafte) sind in den Tiefen seines Bewusstseins weiter vorhanden und können unvermittelt hervorbrechen, zum Beispiel wenn er provoziert wird.

Es wird deutlich, dass die Verdrängung von Gefühlen und die Fokussierung auf Logik und Rationalität Spocks Leistung im beruflichen Alltag verbessert und ihm dadurch kaum Fehler unterlaufen. 
Diese funktionale Komponente macht den psychischen Abwehrmechanismus der Verdrängung auch für uns Menschen so wichtig, da er uns ermöglicht, rational, konsequent und zielorientiert Leistung zu erbringen, wenn es sein muss, und unseren Affekten und Impulsen nicht ständig ausgeliefert zu sein.
Dies ist jedoch auf Dauer anstrengend und wenn es nicht gelingt, Ventile für die (vorrübergehend) verdrängten Gefühle zu schaffen (Genuss, Spiel, Entspannung, oder die bewusste Auseinandersetzung mit ihnen – aus vulkanischer Sicht allesamt unlogisch…), steigt der innere Druck und kann, wie bei Spock, zu umso heftigeren spontanen Gefühlsausbrüchen kommen, oder, wie häufig bei alexithymen Patienten, zu körperlichen Symptomen und Schmerzen infolge der psychischen Anspannung.

Darüber hinaus unterschätzt Spock die soziale Funktion von Emotionen. Seine radikale Affektisolierung, macht ihn für sein (menschliches) Umfeld suspekt, für Rivalen (Kirk) und Feinde (Khan) berechenbar und für seine Freundin (Uhura) unnahbar. Indem er den Kontakt zu seinen Gefühlen blockiert, trennt er die Verbindung zu seinen Mitmenschen, die zu großen Teilen auf emotionsbasierter verbaler und nonverbaler Kommunikation beruht.
Erst als er anfängt zu seinen Gefühlen zu stehen und sie zunehmend zuzulassen wird er von den Seinen akzeptiert (offenbar auch von den Vulkaniern, denn schließlich wird er später deren Botschafter) und kann seine Feinde besiegen.

Wenn Spock (zunächst) das Extrem von Logik, Besonnenheit und der Unterdrückung von Gefühlen verkörpert, stellt Kirk in diesem Punkt seinen diametralen Gegenpol dar. Rationalität und Reflektion sind seine Sache nicht. Häufig handelt er, anstatt nachzudenken und hört dabei auf sein Bauchgefühl.
In Ausnahmesituationen und angesichts scheinbar übermächtiger (aber selbst nicht rational handelnder) Gegner und aussichtsloser Lagen, hat er damit, dank maximalen Einsatzes, hohen Risikos und des Überraschungsmoments oft Erfolg.
Allerdings ist auch er in seinem Verhalten wenig flexibel und zeigt daher auch im Alltag ein von Emotionalität und Impulsivität geprägtes Verhalten, welches ihn hier wiederholt in beträchtliche Schwierigkeiten bringt.

Es entsteht der Eindruck, dass Kirk Emotionen nicht nur nicht vermeidet, sondern im Gegenteil vielmehr ständig auf der Suche nach möglichst intensiven Erfahrungen und Gefühlen ist. Er ist das, was die Psychologie einen Sensation Seeker nennt. Ebenso wie bei der Alexithymie handelt es sich bei Sensation Seeking nicht um eine Krankheit, sondern um eine Verhaltenstendenz, die, je nach Ausprägung, mehr oder weniger Beeinträchtigungen der Alltagsfunktionalität und des Wohlbefindens mit sich bringen kann.

Sensation Seeking kann sich beispielsweise anhand folgender Verhaltensweisen äußern:

  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren etc.
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. durch einen nonkonformistischen Lebensstil
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. durch promiskuitives Verhalten oder Rauschmittel
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten


Kirk hatte bereits als Kind ein Faible für schnelle Autos und Regelübertretungen. Er pflegt ganz und gar nicht den Lebensstil, der allgemein für einen Sternenflottenoffizier als angemessen erachtet wird. Seine Freizeit verbringt er bevorzugt mit Saufen, Kneipenschlägereien und sexuellen Affären mit möglichst exotischen Geschöpfen anderer Spezies. Die Aussicht, bei irgendeinem gefährlichen Einsatz nicht an vorderster Front mitzumischen, scheint für ihn nahezu unerträglich zu sein.

Die Tendenz zum Sensation Seeking ist wahrscheinlich überwiegend genetisch determiniert. Sensation Seeker haben an sich ein eher geringes Grunderregungsniveau (im Gegensatz also zu Vulkaniern!) und benötigen daher starke äußere Reize, um ein angenehmes Maß an Stimulation zu empfinden (sonst drohen Unterforderung und Langeweile).

Hinzu kommt, dass Kirk ohne seinen Vater, dafür aber in dessen übermenschlich heldenhaftem Schatten aufgewachsen ist. Damit ist er von klein auf zum Heldentum verdammt, Mittelmaß und Normalität sind gleichbedeutend mit Versagen.
Dieser narzisstische Konflikt, der Beste sein zu müssen, oder sich als Versager zu fühlen, treibt Kirk beständig dazu an, Rekorde zu brechen, das Unmögliche zu versuchen, sich über Regeln und Wahrscheinlichkeiten hinwegzusetzen.
Da er als Kind nur eine Heldenschablone, aber keinen echten Vater hatte, der ihm Anleitung gab und Grenzen setzte, empfindet er, der zu Großem Geborene, das später fast immer als Kränkung und hat ständig Schwierigkeiten mit Autoritäten.
So ist Kirk mit seinem Alltag als Mitglied eines hierarchischen Militärapparates chronisch überfordert, während er in Ausnahmesituationen, welche die meisten Menschen vor Angst lähmen würden, zu Hochform aufläuft.

Der Streit zwischen Kirk und Spock darüber, ob der Weg des Bauchgefühls oder der Logik der bessere ist, bleibt letztlich unentschieden. Wichtiger scheint zu sein, dass sich beide im selben Moment der Grenzen ihrer jeweiligen Strategien bewusst werden: Als der Macher Kirk (am Ende von Star Trek Into Darkness) alles ihm Mögliche getan hat und alle retten konnte, außer sich selbst, wird er sich seiner Sterblichkeit und der Tatsache bewusst, dass er doch nicht über allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit steht und er bekommt, vermutlich erstmals seit langem, bewusst Angst. Von Spock, dessen Rationalismus sich über die Niederungen der menschlichen Gefühle erhoben zu haben scheint, will er wissen, wie man es schafft keine Angst zu empfinden, doch Spock muss in ebendiesem Moment erkennen, dass er gegen die Angst um seinen Freund, zu dem er nur unfreiwillig eine emotionale Bindung aufgebaut hat, ebenso machtlos ist.

In diesem Sinne können wir die Freundschaft zwischen Spock und Kirk und die Veränderung der beiden durch ihre Freundschaft, als Hinweis zum Umgang mit der uns allen eigenen, innerpsychischen Dialektik von Denken und Fühlen, von Verdrängen und Annehmen, von Reflektieren und Agieren sehen.

Es geht, könnten uns die Filme sagen wollen, nicht darum, die eine Position zugunsten der anderen gänzlich aufzugeben, so wie Kirk und Spock zunächst versuchen, über den jeweils anderen zu triumphieren und ihn so von der Überlegenheit des eigenen Ansatzes zu überzeugen. 
Vielmehr liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, die Stärken beider Ansätze zu nutzen, ihre Grenzen anzuerkennen und sie situationsangemessen bestmöglich komplementär einzusetzen. Faszinierend!

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