Tatort Münster: Prof. Boerne

Die jüngste Folge des Münsteraner Tatorts war die erfolgreichste Tatortepisode seit über zwanzig Jahren. Allgemein erzielen Hauptkommisar Frank Thiel und Prof. Dr. Karl-Friedrich Boerne regelmäßig Bestquoten. 

Dass die Münsteraner Ermittler so beliebt sind, liegt sicher nicht an der Spannung oder dem Einfallsreichtum der Mordfälle, sondern es sind Boernes exzentrische Marotten, Thiels fassungslose Gereiztheit und der daraus entstehende Schlagabtausch, die Fernsehdeutschland am Sonntagabend nach Münster locken. 
Prof. Dr. Boernes Eigenheiten lassen sich dabei allesamt im Krankheitsbild der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung wiederfinden, die nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) durch mindestens fünf der folgenden Kriterien definiert wird:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Boernes Herkunft aus einer altehrwürdigen Akademikerdynastie sowie seine spätere Sozialisation im Medizinstudium und einer schlagenden Studentenverbindung dürften ein an Status und Erfolg orientiertes Welt- und Menschenbild begünstigt haben. Vielleicht hat er die Erfahrung gemacht, nicht um seiner selbst willen, sondern nur für Wissen, Leistung und Ehrgeiz respektiert und geliebt zu werden. 
Boernes hypochondrische Ängste spiegeln seinen Egozentrismus auf körperlicher Ebene wider.
Um mit sich selbst zufrieden sein zu können, muss er nicht nur stets der Beste, Klügste und Erste sein, sondern auch die Anderen klein halten, übertrumpfen und ihnen ihre Fehler und Unzulänglichkeiten unter die Nase reiben, um selbst noch großartiger dazustehen. 
Dabei sind seine bevorzugte Opfer die ihm am nächsten stehenden Menschen: Thiel und Alberich. Mit ihnen teilt der Zuschauer die Befremdung, den Ärger, manchmal die schiere Fassungslosigkeit über Boernes Arroganz – und auch die Schadenfreude, wenn sich der Herr Professor mal wieder verrannt hat.
Und dennoch lieben wir – genau wie Thiel und Alberich – insgeheim unseren verrückten Professor Boerne. 
Warum?
Weil er unseren eigenen heimlichen Narzissmus stellvertretend auf der ganz großen Bühne auslebt – und das auch noch im Dienste der Gerechtigkeit!
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The Big Bang Theory: Sheldon

Der Physiker Dr. Dr. Sheldon Cooper ist eine der Hauptfiguren der Comedyserie The Big Bang Theory. Er lebt mit seinem Kollegen und Freund Dr. Leonard Hoffstatter in einer Wohngemeinschaft in Californien. Weitere wichtige Bezugspersonen sind der Astrophysiker Dr. Rajesh Koothrappali, der Ingenieur Howard Wolowitz und Sheldons Nachbarin Penny.
Sheldon Cooper ist nicht nur intellektuell hochbegabt, er erfüllt auch die diagnostischen Kriterien* eines angeborenen Asperger-Syndroms. Diese tiefgreifende Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach ICD-10 (F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
 
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sheldons mangelnder Empathiefähigkeit, seinem scheinbaren Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen seiner Mitmenschen sowie in seinen Schwierigkeiten, Humor und Sarkasmus zu verstehen.
Sheldons Aktivitäten unterliegen einem zwanghaft bis in Detail durchorganisierten Ablauf. Abweichungen von der Routine versetzen ihn in höchste Anspannung, weshalb er stets bemüht ist, seiner Umwelt seine Abläufe und Rituale aufzuzwingen. Ebenfalls charakteristisch für das Asperger-Syndrom sind seine Spezialinteressen und sein detailversessenes Wissen bzgl. Naturwissenschaften, Science Fiction und Modelleisenbahnen.
Die beiden letztgenannten Diagnosekriterien (fehlende allgemeine und sprachliche Entwicklungsverzögerung) dienen v.a. der Abgrenzung des Asperger-Syndroms vom frühkindlichen Autismus (sog. Kanner-Autismus). Dass Sheldon durch eindeutig überdurchschnittliche intellektuelle (IQ von 187) und sprachliche Fähigkeiten imponiert, stützt die Diagnose des Asperger-Syndroms.
 
Sheldon wuchs, gemeinsam mit einer Zwillingsschwester, in einer Familie der amerikanischen Mittel- bis Unterschicht auf. Weder Eltern noch Schwester scheinen seine intellektuellen Begabungen und wissenschaftlichen Interessen geteilt zu haben. Es gibt viele Hinweise darauf, dass er von Beginn an sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie als Sonderling galt. Sheldons Vater konnte mit dem Sohn, welcher seine Interessen (Football und Jagen) nicht teilte, offenbar nichts anfangen und zog sich enttäuscht von ihm zurück. Es lässt sich vermuten, dass auch seine attraktive und mutmaßlich in der Peergroup beliebte Schwester nicht unbedingt den engen Kontakt zu ihrem sonderbaren und schwierigen Bruder suchte.
 
So blieben Sheldon als primäre Bezugspersonen eine nicht näher charakterisierte Omi und seine Mutter, Mary. Mary verwöhnte ihren Sohn auf einer oral-regressiven Ebene, kochte ihm sein Lieblingsessen (Pasta mit Würstchen) und bemutterte ihn, wenn er krank war. Allerdings forderte sie dafür von ihm die widerspruchslose Unterordnung unter ihr konservativ-religiös geprägtes Normen- und Wertesystem und strafte Abweichungen und Widerspruch durch harsche Kritik. Somit konnte sich Sheldon mit seinen Interessen und intellektuellen Leistungen auch bei ihr nicht akzeptiert und aufgrund seines wahren Ichs geliebt fühlen.
 
In dem allgegenwärtigen Bewusstsein, anders als alle anderen zu sein, von diesen nicht wirklich angenommen zu werden und nicht dazuzugehören, zieht Sheldon seine immer wieder enttäuschten Beziehungswünsche von den Mitmenschen ab und sucht Erfüllung im eigenen intellektuellen Binnenraum, wo er wissenschaftliche Höchstleistungen vollbringt und sich in die Rolle der (gerade aufgrund ihrer Andersartigkeit) allseits bewunderten Superhelden seiner Comics und Computerspiele phantasiert.
Seine intellektuelle Überlegenheit nutzt er immer wieder dazu, verdrängte Selbstzweifel zu unterdrücken, häufig auch auf Kosten Anderer, die er durch seine narzisstische Selbstüberhöhung kränkt.
 
Ein heimlicher unbewusster Versuch, sich doch noch die ersehnte liebevolle Zuwendung seiner Bezugspersonen zu sichern, ist für Sheldon (entsprechend den frühen Erfahrungen mit seiner Mutter) die Krankenrolle. So drückt sich der verdrängte Versorgungswunsch als manifeste Hypochondrie (ICD-10: F45.2) aus:
  • Beharrliche Beschäftigung mit der Möglichkeit, an einer oder mehreren schweren und fortschreitenden körperlichen Krankheiten zu leiden
  • Anhaltende körperliche Beschwerden oder anhaltende Beschäftigung mit ihren körperlichen Phänomenen
  • Interpretation normaler oder allgemeiner Körperwahrnehmungen und Symptome als abnorm und belastend 

 
Im Falle einer tatsächlichen Erkrankung (z.B. Erkältung) reagiert Sheldon übertrieben regressiv und fordert von seinen Bezugspersonen maximale Betreuung und Zuwendung ein. Auch hier verlangt er die Einhaltung eines bis ins Detail festgelegten Verfahrensablaufs (Zubereiten von Hühnersuppe, Einreiben der Brust, Singen des Katzentanzlieds), was dem Bedürfnis des Asperger-Autisten nach Routine und Stereotypisierung entspricht.

 
Psychodynamisch-interaktionell wird hier Sheldons Versuch deutlich, den Kontakt zu anderen Menschen soweit zu standardisieren (Mitbewohnervereinbarung, Beziehungsrahmenvereinbarung), dass er stets vollständige Kontrolle über die Regulation von Nähe und Distanz hat, um nicht Gefahr zu laufen, durch zu große Nähe zu Anderen von diesen beschämt und gekränkt zu werden, wie er es seit frühester Kindheit immer wieder erlebt hat. Auch die radikale Verleugnung jeglicher sexuellen Bedürfnisse erklärt sich dadurch.

 
* In einer früheren Version dieses Beitrags schrieb ich, dass Sheldon Cooper unter einem Asperger-Syndrom „leidet“. Dankenswerterweise wurde ich darauf hingewiesen, dass Menschen mit Asperger-Syndrom unter dieser Diagnose nicht zwangsläufig leiden müssen. Siehe dazu auch hier.

 

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