Und wieder widmet sich ein Netflix-Original ganz direkt einer psychischen Störung. Nach den Serien 13 Reasons Why (Depression/Suizidalität) und Atypical (Autismus) behandelt der Spielfilm To the Bone das Thema Essstörungen, genauer Anorexia nervosa.
Unter dieser Störung leidet die jugendliche Protagonistin Ellen offenbar schon seit Jahren, als sie sich in die Spezialklinik von Dr. Beckham, die eher einer therapeutischen Wohngemeinschaft ähnelt, in Behandlung begibt.
Alle Symptome der Anorexia nervosa (ICD-10: F50.0) werden relativ realistisch gezeigt und thematisiert:
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Der Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt durch Vermeidung von hochkalorischer Nahrung
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Ellen hat eine Körperschemastörung, nimmt ihren viel zu dünnen Körper weiterhin als „zu fett“ wahr
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Ellens Periode bleibt schon lange aus, als Folge der durch Nährstoffmangel entstandenen endokrinen Störung. Dieses Symptom nennt man Amenorrhoe.
Neben diesen für die Diagnosestellung erforderlichen Kriterien, zeigen sich weitere typische Krankheitsmerkmale. So wird zum Beispiel Ellens verstärkter Haarwuchs auf Armen und Rücken, die sog. Lanugo-Behaarung, thematisiert und erklärt, dass diese ein Schutzmechanismus des Körpers gegen Kälte ist. Lanugo-Behaarung tritt eigentlich bei Neugeborenen auf, bei Erwachsenen schützt normalerweise die Fettschicht unter der Haut ausreichend vor Kälte, was jedoch bei chronischem starkem Untergewicht nicht mehr gegeben ist.
Ebenso sind Ellens intensive gedankliche Beschäftigung mit Essen und Kalorienzählen („Kalorien-Asperger“ wie es ihre Schwester nennt) und das exzessive heimliche Sporttreiben (Sit-ups, Treppensteigen) häufige Merkmale der Anorexia nervosa.
Ein weiterer authentischer Punkt, der nicht schlecht, wenn vielleicht auch ein wenig klischeehaft, dargestellt wird, ist die enge Verknüpfung zwischen Ellens Krankheit und ihrem Familiensystem. Essstörungen werden häufig als systemische, also eng mit familiären Konflikten im Zusammenhang stehende, Störungen betrachtet, was natürlich nicht immer der Fall sein muss, aber sich doch häufig bestätigt.
Auf ihre jeweils eigene Art gelingt es beiden Eltern nicht, Ellen Aufmerksamkeit, Interesse und Wertschätzung entgegenzubringen. Wir können mutmaßen, dass der Vater schon vor Ellens Krankheit oft abwesend, die Mutter emotional instabil gewesen sind. Im Film wirkt es so, als hätte sich dies möglicherweise noch verschärft, weil beide Eltern vor der Verantwortung und Überforderung mit Ellens Krankheit fliehen – der Vater in die Arbeit, die Mutter in einen esoterisch-egozentrierten Lebensentwurf, der die eigene Schonungsbedürftigkeit zur Maxime macht. Bleibt die Stiefmutter, die für Ellen aber nur ein bitterer Trostpreis ist, der ihr ständig vor Augen führt, dass ihre Eltern nicht für sie da sind.
Dr. Beckhams Behandlungskonzept, eine kleine vollstationäre Gruppe von jugendlichen Patient*innen, die viel Verantwortung für ihre eigene Therapie und füreinander übernehmen müssen, ist überzeugend. Gute Kliniken hierzulande arbeiten ähnlich – wenngleich die wenigsten ein eigenes Wohnhaus dafür zur Verfügung stellen. Richtig und wichtig ist auch die Regel, dass nicht über Essen, Gewicht und Kalorien gesprochen werden soll, denn wie wir an Ellens Beispiel sehen, sind viele Menschen die unter Essstörungen leiden, davon ohnehin schon über die Maßen eingenommen und – wie wir ebenfalls bei Ellen sehen können – ist das Essen selbst nicht das Problem sondern nur das Symptom. In Ellens Fall von sehr unbefriedigenden sozialen Beziehungen und einem schwachen Selbstwertgefühl, das nie ausreichend elterlichen Zuspruch bekommen hat, um wachsen zu können.
Soweit so gut. Was mir indes an To the Bone nicht gefällt, ist das Ende. Dieses vermittelt mal wieder die beliebte, aber unrealistische Vorstellung, dass ein einziger Moment der Einsicht und Klarheit die entscheidende Wende in einer Psychotherapie bringt. So etwas mag es im Einzelfall geben – die Regel ist es aber ganz sicher nicht. Immerhin kehrt Ellen ganz am Ende des Films in die Klinik zurück. Es wirkt, als sei sie jetzt bereit, sich wirklich auf die Therapie einzulassen. Es wäre schön gewesen, wenn auch dieser eigentlich entscheidende Teil der Geschichte gezeigt würde.