Sharp Objects: Adora

Schön, wenn eine Film- bzw. Serienadaptation ihrer Buchvorlage gerecht wird! Im Falle der HBO-Serie (in Deutschland bei Sky zu sehen) Sharp Objects, basierend auf dem gleichnamigen (in Deutschland als „Scharfe Schnitte“ oder „Cry Baby“ erhältlichen) Roman der großartigen Psychothriller-Autorin Gillian Flynn, ist das vollständig gelungen. Die Serie ist, ebenso wie das Buch, wunderbar düster, makaber, unheimlich, spannend, schockierend, grausam und traurig. 
Die Königin und heimliche Hauptfigur dieser düsteren Familiendystopie ist Adora, die Königin von Windgap. Schon bevor wir von den tödlichen Auswirkungen ihrer Fürsorge erfahren, lässt uns ihr Umgang mit ihren Kindern erschaudern. Dramatische Inszenierungen und Selbstbeschreibungen als grenzenlos liebende und bedingungslos aufopfernde Mutter, stehen einer erschreckenden Empathielosigkeit und erbarmungsloser Manipulation durch Vorwürfe, Schuldgefühle, Moralisierung und Invalidierung (Missachten, Verneinen oder Verdrehen von Wahrnehmungen, Bedürfnissen oder Gefühlen) ihrer Kinder gegenüber. 
Den Kindern wird, entgegen Adoras Beteuerung, die wahrscheinlich tatsächlich ihr verzerrtes Selbstbild wiedergeben, vermittelt, dass ihr einziger Daseinszweck darin besteht, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen und auf diese Weise für deren Glück oder Unglück gleichsam alleine verantwortlich zu sein. In der Sprache der Psychoanalyse werden die Kinder von Adora zu Selbstobjekten gemacht, die nicht als eigenständige Individuen, sondern nur für die Erhaltung bzw. Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls von Interesse sind. 
Dieses Erziehungsverhalten führt zu den massiven Problemen beider noch lebender Töchter im Bezug auf die Regulation des eigenen Selbstwertgefühls (bei Camille in Form eines phasenweise extrem negativen Selbstbildes, bei Emma in Form eines krankhaften Narzissmus, der keine Konkurrenz, keine Widersprüche und keine Empathie erlaubt) und der eigenen Emotionen, welche nicht adäquat geäußert und verarbeitet werden können und sich in der Folge immer wieder impulsiv, ohne ausreichende Beachtung der Konsequenzen, ausagiert werden müssen, z.B. in Suchtmittelmissbrauch, Selbstverletzung oder Mord. 
Tatsächlich haben Kinder psychisch kranker Eltern (in Deutschland etwa jedes vierte Kind und 18 Jahren) ein drei- bis viermal höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. (Zur oft beklemmenden und verstörenden Lebenssituation von Kindern schwer psychisch kranker Eltern, empfehle ich den auf Youtube frei zugänglichen Kurzfilm Lilli). 
Allerdings gehört zum vollständigen Bild auch, dass die überwiegende Mehrheit psychisch erkrankter Eltern mit der eigenen Erkrankung verantwortungsvoll und transparent umgehen und genauso gute Eltern sind, wie psychisch Gesunde und dass es eine Vielzahl von Risiko- und Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt, so dass sich hier vorschnelle, eindimensionale Rückschlüsse verbieten. 
Jedenfalls leidet Adora, die selbst als Kind offenbar emotionalen Missbrauch erlebt hat, in der Folge unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, welche sich nach ICD-10 (F60.4) durch mindestens vier der Folgenden zeit- und situationsübergreifenden Merkmale definiert: 
  • Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch Andere oder durch Ereignisse (Umstände)
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen
Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung, fehlende Bezugnahme auf andere, leichte Verletzbarkeit der Gefühle und andauerndes manipulatives Verhalten treten nicht selten begleitend auf, sind aber für die Diagnose nicht erforderlich. 
Adoras massives Bedürfnis nach dramatischer Selbstdarstellung, in diesem Fall als fürsorglich aufopfernde Mutter, in Kombination mit ihrer Unfähigkeit, sich tatsächlich warmherzig und empathisch auf andere Menschen einzulassen und sich diesen zu öffnen, führen zu einer weiteren Störung, dem sogenannten Münchhausen by proxy– bzw. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer Spezialform des Münchhausen-Syndroms, welches in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F68.1) unter der Bezeichnung Artifizielle Störung als das „absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen“ definiert wird. Während beim Münchhausen-Syndrom Symptome durch Simulation oder Schädigung beim Betroffenen selbst erzeugt werden, häufig mit der unbewussten Motivation, sich Zuwendung und Versorgung durch andere Personen zu sichern, werden diese beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bei einer anderen Person, oft den eigenen Kindern, herbeigeführt, um selbst eine versorgende und damit moralisch und bezüglich des eigenen Selbstwerts höherwertige Position einnehmen zu können. 
Das Münchhausen-Syndrom gilt als eine der psychischen Störungen mit der höchsten Dunkelziffer. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass Opfer einer Person mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in fünf bis 35% der Fälle an den Folgen sterben. 
In der Vorgeschichte von Personen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom findet sich nicht selten selbstverletzendes Verhalten, so auch bei Adora, die sich in Situationen erhöhter emotionaler Anspannung die Wimpern ausreißt, anstatt ihre Emotionen angemessen zulassen, ausdrücken und verarbeiten zu können. 
So ist Sharp Objects in erster Linie ein, in den Auswirkungen sicherlich extremes, aber in den Mechanismen der transgenerationalen Bindungsstörungen beängstigend nachvollziehbares Familiendrama, das zum Besten gehört, was es derzeit zu sehen gibt. 
*Mehr zu Sharp Objects gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast.
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Sons of Anarchy: Gemma



Gemma Teller-Morrow ist die Matriarchin des Motorradclubs Sons of Anarchy aus der gleichnamigen TV-Serie. Sie ist die Witwe des verstorbenen Clubgründers John Teller und die Frau des Präsidenten Clay Morrow. Ihr Sohn Jax Teller, der im Mittelpunkt der Serie steht, ist Vizepräsident des Clubs.
Gemma ist eine eindrucksvolle Erscheinung, wirkt stark und selbstsicher und ist mit Anfang 50 außerordentlich attraktiv. Sie ist stets perfekt zurechtgemacht, mit Make-Up und Strähnchen, trägt enge Jeans und tiefe Ausschnitte. Sie ist die einzige Frau, vor der alle Männer des Clubs großen Respekt haben und sie zieht im Hintergrund die Fäden, um die ständig drohende Vernichtung des Clubs durch rivalisierende Gangs, die Polizei oder interne Intrigen, abzuwenden.

Die schillernde, bewunderte, verführerische, manipulativ kontrollierende Gemma zeigt dabei Züge einer histrionischen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.4), d. h. eines überdauernden, durch Egozentrismus und Theatralik geprägten, Erlebens- und Verhaltensmusters. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 mindestens vier der folgenden Merkmale zeit- und situationsübergreifend vorliegen:

  • dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen 
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch andere oder durch Ereignisse/Umstände
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisches Erscheinen oder Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen

Der theatralische, übertrieben wirkende Gefühlsausdruck zeigt sich bei Gemma selten in heftigen Gefühlsausbrüchen. Allerdings können diese auch vorkommen, z.B. wenn sie einer jungen Konkurrentin aus Eifersucht mit einem Skateboard die Nase bricht. Häufiger jedoch wird Gemmas dramatisches Gefühlserleben in ihren eigenen Aussagen deutlich: Familie und Club seien ihr Leben, sie würde töten um sie zu schützen, lieber sterben als ihre Enkel nicht mehr zu sehen, etc.
Durch andere besonders beeinflussbar ist Gemma hingegen nicht, vielmehr manipuliert sie ihrerseits gekonnt und rücksichtslos alle möglichen anderen, um ihre Ziele zu erreichen. Dabei zeigt sie ein breites Spektrum intensiver Gefühle, welche sich dem Zuschauer aber häufig als aufgesetzt und kalkuliert offenbaren.
Eine ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten (Sensation Seeking) können wir in Gemmas direktem Verhalten nicht grundsätzlich feststellen, eine zwischenzeitliche Phase von exzessivem Alkoholkonsum und ausschweifender Promiskuität erweist sich als nur vorübergehend.
Allerdings können wir wohl ein unbewusstes Sensation Seeking-Motiv darin erkennen, dass Gemma sich immer wieder an Männer bindet, die kriminellen und gewalttätigen Gangs vorstehen, und dass sie, im Gegensatz zu den anderen Frauen des Clubs, beim Spiel mit Gewalt, Drogen, Waffen, Prostitution, Betrug, Mord und Vertuschung kräftig aktiv mitmischt. Alltagsroutine droht da nicht.
Durch diese herausgehobene Position sichert sich Gemma auch die bewundernde, zum Teil regelrecht anhimmelnde, Aufmerksamkeit all der wilden und starken Männer, mit denen sie sich gern umgibt.
Gemmas zweifellos verführerisches Auftreten als unangemessen zu bezeichnen, wäre wohl ein wenig übertrieben. Dass sie aber äußersten Wert auf eine betont weibliche, erotische und jugendliche Erscheinung legt, davon können wir uns in jeder Episode überzeugen. 



Histrionischen Persönlichkeitszügen liegt häufig ein sogenannter ödipaler Konflikt zugrunde, also eine Störung der psychosexuellen Identität, die zu einer Unausgewogenheit in der Wahrnehmung und Verkörperung der eigenen Geschlechtsrolle führt.
Da die inneren Bilder der eigenen und der gegensätzlichen Geschlechtsrolle in der Regel vor allem durch die Beobachtung und Interaktion mit den eigenen Eltern geprägt werden, könnte uns Gemmas Beziehung zu ihren Eltern mehr über ihren inneren Konflikt verraten: Wir erfahren im Verlauf von Sons of Anarchy, dass Gemma kein gutes Verhältnis zu ihrer inzwischen verstorbenen Mutter Rose hatte. Diese sei ein Kontrollfreak gewesen, habe stets versucht ihren Willen durchzusetzen und sei zu Gemma streng gewesen. Dadurch gab es zwischen Mutter und Tochter viel Streit, bis Gemma schließlich alt genug war, um ihr Elternhaus zu verlassen und sich so dem Einflussbereich ihrer Mutter zu entziehen. Dagegen hegt Gemma gegenüber ihrem Vater Nate starke liebevolle Gefühle. Es wird deutlich, wie sehr sie sich auch als erwachsene Frau noch seine Nähe und Zuneigung wünscht und wie sehr es sie verletzt, dass er sie, inzwischen durch eine Demenz schwer gezeichnet, zeitweise nicht erkennt.

Um eine reife Geschlechtsidentität zu entwickeln bedürfen Mädchen der Mutter zunächst als Vorbild und Identifikationsfigur, mit der sie in späteren Phasen der Entwicklung auch um die Anerkennung des Vaters wetteifern und konkurrieren können. Der „Glanz im Auge des Vaters“ dient dabei als Rückmeldung und Bestätigung.
So wie Gemma ihre Mutter erlebt hat, herrschsüchtig und kontrollierend, mochte sie sich kaum mit ihr identifizieren, auch können wir annehmen, dass Rose der kleinen Gemma wenig Raum für das Experimentieren und Entwickeln einer eigenen Persönlichkeit ließ.Auch Nate konnte sich offenbar gegen die dominante Rose nicht behaupten. Vielmehr unterwarf er sich ihr in passiver Verehrung und hatte daneben wenig Aufmerksamkeit für seine Tochter übrig. Vielleicht zog er sich unbewusst auch deshalb von Gemma zurück, weil er ahnte, dass da eine zweite Rose heranwuchs, wo er es ja mit einer schon schwer genug hatte. 
Und tatsächlich, wenngleich Gemma nach Kräften gegen ihre Mutter und das familiäre Machtgefüge anzukämpfen versuchte, unbewusst übernahm sie doch die Rollenbilder die ihr vorgelebt wurden: So wurde sie selbst zu einer alles kontrollierenden, manipulativen Über-Mutter und obwohl die Männer die sie als Partner wählt nach außen hin Stärke und Männlichkeit verkörpern, hält sie sie in ihrem Innern doch für so schwach und verletzlich, dass sie getrieben ist von der ständigen Sorge um sie und dem verzweifelten Wunsch, sie zu beschützen.

Gemmas betont weiblich-verführerisches Auftreten können wir demnach als Reinszenierung des Versuchs des kleinen Mädchens sehen, in der Rolle der Frau um den Stolz und die Anerkennung des Vaters zu werben. Tragisch dabei ist, dass Gemma, bei all der Resonanz, die sie von der Männerwelt erhält (vom offenen Stolz ihres Mannes Clay auf die Schönheit und Stärke seiner „Old Lady“, über den bewundernden Respekt der Clubmitglieder und deren heimliche ödipale MILF-Fantasien, bis hin zu der bedingungs- und anspruchslosen Verehrung des örtlichen Polizeichefs Wayne), von ihrem Vater, der zwischen dementer Umnachtung und dem Festklammern an der Erinnerung an seine verstorbene Frau gefangen scheint, noch immer kaum wahrgenommen wird.

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