Safe (ZDF): Resilienz und Selbstwirksamkeit

Foto: ZDF/Julia Vietinghoff

Es ist ein Geschenk, dass mich fast jeden Wochentag mit Freude und Dankbarkeit erfüllt, meinen Lebensunterhalt mit etwas verdienen zu können, was derart erfüllend, sinnvoll, interessant, abwechslungsreich und spannend ist, wie Psychotherapie. Ich fühle mich da oft, wie Ernest Lash, der Protagonist aus Irvin D. Yaloms großem Psychotherapieroman Lying on the Couch (Die rote Couch):

Ernest liebte es, Psychotherapeut zu sein. Tag für Tag ließen ihn seine Patienten in den verborgensten Winkeln ihres Lebens stöbern, Tag für Tag tröstete er sie, teilte ihre Sorgen und linderte ihre Verzweiflung. Wofür er seinerseits bewundert und gehätschelt wurde. Und auch bezahlt, obwohl er auch ohne Honorar als Therapeut gearbeitet hätte, wenn er auf das Geld nicht angewiesen gewesen wäre.

Glücklich der, der seine Arbeit liebt. Und Ernest schätzte sich tatsächlich glücklich. Mehr als glücklich. Gesegnet. Er war ein Mann, der seine Berufung gefunden hatte – ein Mann, der sagen konnte, ich bin genau da, wo ich hingehöre, im Auge des Sturms, wo meine Talente, meine Interessen, meine Passionen gebündelt sind.

Ernest war kein religiöser Mensch. Aber wenn er morgens seinen Terminkalender aufschlug und die Namen der acht oder neun Lieben sah, mit denen er den Tag verbringen würde, wurde er von einem Gefühl überwältigt, das er nur als religiös bezeichnen konnte. In diesen Momenten verspürte er ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit allem gegenüber, das ihn zu seiner Berufung geführt hatte.“

Kein Wunder, dass unser Beruf, der sich sowohl um die alltäglichen als auch um die fast unglaublichen wahren Geschichten im Leben von Menschen dreht, immer auch schon interessant als Schablone für spannende fiktionale Geschichten war.

In Filmen des zwanzigsten Jahrhunderts war das Bild von psychotherapeutischen und psychiatrisch Tätigen dabei noch meist von Ängsten und Befürchtungen geprägt, die mit der Vorstellung eines so tiefen und exklusiven Vertrauensverhältnisses, wie es Psychotherapien erfordern, verbunden sein können: Psychiater und Psychotherapeuten waren meist nicht nur weiß, männlich und alt, sondern überdies in der Regel selbst mehr oder weniger verrückt. Von vertrottelten Neurotikern bis zu manipulativen Serienmördern und Menschenfressern (hier ein Review dazu: www.psychiatrictimes.com/articles/stigma-continues-hollywood).

In den moderneren Filmen und Serien des 21. Jahrhunderts hat sich die fiktionale Kolleg*innenschaft diversifiziert und ist realistischer geworden: Meist sind die Psychotherapeut*innen einigermaßen kompetent und wohlwollend, häufig haben sie eher „normale“ Probleme im Privatleben, die mit der gruseligen Mysthifizierung des Berufsstandes brechen und die Psychotherapeut*innen menschlich und relateable machen.

Eine besonders realitätsnahe Darstellung psychotherapeutischer Arbeit und auch der dazugehörigen Reflexionsprozesse ist dem ZDF mit Safe geglückt. Zudem zeigt die Serie Kinder- und Jugendlichentherapien, was recht selten ist, meist sind in Serien Erwachsene die Patient*innen. Die Darstellung der psychoanalytisch ausgerichteten Therapien in der Serie ist sogar so realistisch, dass Kolleg*innen sie zum Teil empfunden haben, als würde man sich selbst bei der Arbeit zusehen. Ein bisschen ging es mir auch so.

Ganz besonders hat mich natürlich die Szene gefreut, in welcher der Therapeut Tom einen Film nutzt, um seinem jugendlichen Patienten Sam etwas zu vermitteln: „Nichts steht geschrieben!“ sagt Lawrence von Arabien in dem gleichnamigen Filmklassiker von 1962 und widerspricht damit seinen fatalistischen Gefährten, die es für aussichtslos halten, den in der unbarmherzigen Wüste verschollenen Kameraden noch retten zu wollen. „Es (das Schicksal) steht geschrieben“ sagen sie. „Nichts steht geschrieben“ entgegnet Lawrence.

Dieses Zitat soll Sam veranschaulichen, dass auch sein Schicksal nicht vorherbestimmt und festgelegt ist. Ja, eine Vulnerabilität, d.h. ein gewisses Risiko bestimmte, auch psychische, Krankheiten zu entwickeln, ist genetisch determiniert und wird somit vererbt. Aber eben nur im Sinne einer erhöhten statistischen Wahrscheinlichkeit. Ebenso sind Temperament und bestimmte Persönlichkeitseigenschaften, wie Sams Impulsivität, in der Tendenz angeboren.

Welche Persönlichkeit ein Mensch jedoch letztendlich ausbildet und ob eine bestimmte Krankheit, in Sams Fall vielleicht eine Depression oder emotional-instabile Persönlichkeitsstörung, tatsächlich ausbricht, hängt auch noch von anderen, biographisch-sozialen Faktoren, wie z.B. den frühen Bindungserfahrungen ab. Man spricht daher vom bio-psycho-sozialen Modell von Krankheit bzw. Gesundheit. (bio = vererbte genetische Anlagen, psycho = angeborene Temperaments-/Persönlichkeitseigenschaften, sozial = prägende biographische Ereignisse und Lebensumstände).

Wenn ein Kind bspw. seine frühe soziale Umwelt als sicher und verlässlich erlebt, entwickelt es Urvertrauen in sich selbst und andere, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwert und wird dadurch resilienter, d.h. widerstandsfähiger, auch gegen psychische Erkrankungen. Und letztlich spielen auch die Lebensumstände in der späteren Entwicklung eine Rolle: Chronischer Stress, Armut, Gewalterfahrungen und andere traumatische Erlebnisse wirken sich ungünstig auf die Gesundheit im Allgemeinen aus und können den Ausbruch von Krankheiten triggern.

Nun scheint es für Sam auf allen Ebenen – Genetik, frühe Bindungen und spätere Lebensereignisse – nicht gerade günstig auszusehen: Seine Eltern waren offenbar beide psychisch krank, die Mutter verlor er durch Suizid und er hat viel Ablehnung und Kritik aufgrund seiner Impulsivität und Regelverstöße erfahren. Genau darum ist das Filmbeispiel, das Sams Therapeut in Safe wählt, so passend: Auch für Lawrence von Arabien stehen die Chancen nicht gut. Und dennoch steht das Schicksal nicht geschrieben! Lawrence kann hier und jetzt seine persönlichen Ressourcen – Mut, Entschlossenheit, Reitkunst… – in die Waagschale werfen, um das Unwahrscheinliche möglich zu machen. Ebenso kann auch Sam sich entscheiden, kein Schläger oder Dieb zu sein und sich bei aller Frustration und Verzweiflung nicht umzubringen. Er kann die Hilfe seines Therapeuten und seiner Pflegeeltern annehmen und mit Mut, Entschlossenheit und Offenheit auf das Mädchen zugehen, das er mag. Er kann, um es mit Sensei Johnny Lawrence aus Cobra Kai zu sagen, „das Drehbuch umschreiben (flip the script)“, oder, in den Worten eines der lebensweisesten Philosophen aller Zeiten, des Stoikers Epiktet: „Vergegenwärtige dir einen Charakter, ein Musterbild, wonach du zu leben dir vornimmst, sowohl im privaten, als im öffentlichen Leben“ und sich somit selbst das Drehbuch, die Leitlinie seines eigenen Lebens – auch angesichts widriger Umstände – kreieren.

Der amerikanische Psychotherapeut Stanton Samenow, auf dessen Buch über Psychotherapie mit Straftäter*innen sich sogar Dr. Melfi in den Sopranos bezieht, hält auf seinem Blog selbst für dieses sicher sehr schwierige Patient*innenklientel fest: Es gibt immer Hoffnung auf Veränderung (hier der Link zum Post: www.psychologytoday.com/intl/blog/inside-the-criminal-mind/202102/does-psychotherapy-make-criminals-worse)

Fazit: Nicht nur wegen dieser sehr gelungenen Therapiesequenz ist Safe absolut sehenswert. Das zumindest steht geschrieben!

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Vikings: Ivar & Floki

Ivar der Knochenlose – was für ein schrecklicher Name! Nicht nur weil der arme Junge wie ein Ikea-Regal heißt, nein, viel schlimmer ist sein Beiname der auf die ständige gnadenlose Diskriminierung verweist, die ihm wegen seiner körperlichen Behinderung im Kreise der auf Stärke und Nahkampffähigkeiten basierenden Wikingergesellschaft zuteil wird. 
 

 
Dass diese, seit frühester Kindheit ständig erlebte Entwertung und Kränkung im Selbstwertgefühl eines Menschen tiefste Schäden anrichten kann, ist keine Überraschung.  Selbst sein eigener Vater Ragnar, enttäuscht davon, dass der Sohn nicht dem erwünschten Kriegerideal entspricht, möchte ihn zunächst zum Sterben im Wald aussetzen und straft ihn später, die gesamte Kindheit über, mit Ignoranz und Verachtung. Diese sind mittelbar über Ivar auch an dessen Mutter, Ragnars Frau Aslaug, gerichtet. Oberflächlich betrachtet, weil sie ihm nicht den erwünschten Stammhalter „geschenkt“ hat. Eigentlich geht es jedoch um wesentlich tiefer liegende Eheprobleme, welche die beiden, die sich längst in gekränkter Sprachlosigkeit voneinander zurückgezogen haben, jedoch nie bearbeiten werden. Da ist es zunächst einmal nicht verwunderlich, dass Aslaug, als liebende Mutter, ihrem gefährdeten und benachteiligten Sohn besonders viel Liebe, Fürsorge und Schutz zuteil werden lassen will. 
Was die ohnehin schon sehr schwierige und eine gesunde Selbstwertentwicklung erschwerende Situation jedoch noch zusätzlich verkompliziert, ist, dass sie dabei über ihr eigentliches Ziel völlig hinausschießt. Statt liebevolle Unterstützung, die Ivar einerseits ein Gefühl von Sicherheit Geborgenheit und Wertigkeit vermittelt, andererseits aber auch seine persönlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Entwicklungsmöglichkeiten ernstnimmt und fördernd zur Entfaltung bringt, behandelt Arslaug ihn bis in die Jugend wie das zerbrechliche, völlig schutzlose und abhängige Baby, als welches sie ihn am schwierigen Anfang seines Lebens wahrgenommen hat. Auch von ihr erhält Ivar somit kein realistisches Feedback über seine persönlichen Eigenschaften, Fähigkeiten, Fertigkeiten, aber auch Fehler oder Schwächen, welche als Ausgangspunkt für eine psychische und emotionale Weiterentwicklung dienen könnten. Aslaugs Infantilisierung und Idealisierung Ivars, zeigt sich unter anderen daran, dass sie ihn übermäßig lange stillt und erreicht ihren tragischen Höhepunkt, als sie ihn selbst dann noch völlig unkritisch in Schutz nimmt, als er einem anderen Kind mit der Streitaxt den Schädel spaltet („es ist nicht deine Schuld, es ist nicht deine Schuld!“).
Natürlich sollten Eltern ihre Kinder immer lieben, selbst dann wenn diese schreckliche Fehler machen, aber eine adäquate Rückmeldung über das Verhalten (z. B.: „Ivar, mein Sohn, du weißt ich liebe dich und werde immer hinter dir stehen, aber anderen Kindern den Schädel zu spalten ist wirklich überhaupt nicht in Ordnung und ich möchte, dass du das zukünftig unterlässt“), ist wichtig um sich persönlich und sozial gesund weiterentwickeln zu können.
Ivar jedoch lebt in einer überaus verwirrenden Diskrepanz zwischen einerseits totaler Entwertung durch die Gemeinschaft und andererseits völlig überzogener Idealisierung durch seine Mutter. Für seine innere Welt bedeutet dies, dass es nur die absolut überlegenen und die absolut wertlosen Menschen gibt und er als körperlich Benachteiligter ganz besonders davon bedroht ist, in die zweite Kategorie gesteckt zu werden. Somit ist Ivars Selbstwertgefühl ständig von absoluter Zerstörung bedroht und die einzige Rettung davor scheint absolute Überlegenheit zu sein. Eine gesunde Selbstwertregulation (z.B.: „Ich bin im großen und ganzen ganz okay, habe einige besondere Talente, andere Dinge gelingen mir dagegen häufig nicht so gut wie anderen, bisweilen passieren mir schreckliche Fehler, doch ich besitze auch ausreichend positive Charaktereigenschaften und Fähigkeiten um mein Bestes zu geben um daraus zu lernen…“) ist dadurch kaum möglich. 

Psychopathologisch können sich schwere Selbstwertstörungen symptomatisch auf verschiedene Weise manifestieren, z.B. als stark von Selbsthass und Minderwertigkeitsgefühlen geprägte Depressionen. Eine weitere Form von Selbstwertstörung ist die heutzutage berühmt-berüchtigte narzisstische Persönlichkeitsstörung
Ein weit verbreitetes Missverständnis besteht darin, dass sogenannte Narzissten sich mit ihrer Störungen wohlfühlen und es nur die anderen seien die darunter leiden würden. Das ist jedoch eine viel zu oberflächliche Sichtweise. Vielmehr ist es so, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung unter einer ständigen latenten aber totalen Bedrohung ihres Selbstwertgefühls leiden. Wie bei Ivar gibt es nur großartig oder absolut wertlos. Daher sind sie sozusagen darauf angewiesen sich selbst stets der eigenen Grandiosität und Größe zu versichern um sich vor der absoluten Selbstwertzerstörung zu schützen. Das resultiert dann in der Überhöhung der eigenen Eigenschaften und Leistungen und häufig auch in der Entwertung anderer. Beziehungen können dann rein instrumentell sein, d.h. andere dienen dazu erniedrigt zu werden (z.B. Ivars Bruder Hvitserk) oder werden nur solange als Gegenüber akzeptiert, wie sie dem eigenen Selvsteert durch Idealisierung dienlich sind (z.B. Ivars Frau Freydis).
 
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) kann eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden, wenn mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen: 
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten 
 
Bei Ivar können wir alle genannten Kriterien erkennen und ihm somit eine schwere narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizieren. Ob seine Störung so weit geht, dass er sich tatsächlich selbst für einen Gott hält, oder es lediglich genießt, wenn andere dies tun, bleibt offen. 
 
Apropos Götter: Floki, der Vikings-Charakter, nach dem ich am häufigsten gefragt werde, ist bis Staffel 5 gar nicht verrückt, bloß ein bisschen exzentrisch und sehr religiös. Erst später, nach dem Verlust aller Menschen die ihm wirklich etwas bedeutet haben, hat es den Anschein, dass er eine wahnhafte Störung (ICD 10: F22.0) entwickelt. Andererseits kann in der Welt von Vikings auch nicht ausgeschlossen werden, dass er vielleicht einfach eine Inkarnation des mythischen Loki (Wikipedia) ist und die Götter tatsächlich zu ihm sprechen. Wer weiß das schon? 
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Joker: Im Kern ein Charakterdrama

Ein Gastbeitrag von M.Sc. Psych. Christiane Attig 
Im Genre der Superheldenfilme existieren gefühlt zwei Lager: zum einen gibt es die quietschbunten, CGI-überladenen, humorgespickten Heldengeschichten wie Guardians of the Galaxy oder The Avengers, die vorrangig im alles überschattenden Marvel Cinematic Universe beheimatet sind. Zum anderen gibt es die dunkleren, psychologischeren, ernsthafteren Streifen, die sich weniger um mit Superkräften ausgestattete Helden drehen, sondern die persönlichen Geschichten und Beweggründe ihrer Protagonist*innen in den Fokus rücken. Christopher Nolans Dark Knight-Trilogie, James Mangolds Logan oder M. Knight Shyamalans Split kann man in letztere Kategorie fassen, die nun mit Todd Phillips‘ Joker einen weiteren Eintrag erhält.
Joker erzählt die Geschichte von Arthur Fleck, der gemeinsam mit seiner Mutter Penny in einem wirtschaftlich schlecht gestellten Stadtteil von Gotham City lebt – die Stadt, die Batman ebenfalls seine Heimat nennt und die dieser immer wieder von Kriminalität, Gewalt und Korruption zu reinigen versucht. In Joker existiert Batman allerdings noch gar nicht, denn dieser Film zeigt uns, wie aus Arthur Fleck der Joker wurde: der Erzfeind Batmans, der offenbar aus reiner Freude heraus wahllos Menschen tötet und dadurch Angst und Chaos in Gotham verbreitet. 
Die Darstellung dieser Entwicklung verfügt anscheinend über eine gewisse Brisanz, denn über wenige Filme wurde in den letzten Jahren intensiver sowohl im deutschen und internationalen Feuilleton als auch in der Filmpodcast-Landschaft diskutiert. Kritische Stimmen werfen dem Drehbuch Ideenlosigkeit und Stigmatisierung psychisch kranker Personen vor. Wohlwollende Stimmen sprechen von gelungener Kritik am kapitalistischen System und einer rührenden Darstellung des Protagonisten, die seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Aus der Perspektive der Klinischen Psychologie ist die Entwicklung Arthur Flecks hin zum Joker aber vor allem eines: realistisch. Und vielleicht ist gerade das der Punkt, weswegen die Entwicklung wie „Küchenpsychologie“ wirkt. Achtung: ab hier wird massiv gespoilert! 
In der ersten Szene des Films sehen wir Arthur, der sich für seinen Job vorbereitet: er schminkt sich zum Clown, um in den Straßen Gothams Werbeschilder zu halten und so die Bewohner der Stadt zum Konsum anzuregen. Gleichzeitig erfahren wir durch die Nachrichten, die im Hintergrund laufen, dass sich der Müll in den Straßen der Stadt türmt. Die Regierung spart an den falschen Stellen, die Reichen stecken sich immer mehr Geld in die eigenen Taschen und die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Doch das Leben an der Armutsgrenze ist nicht Arthurs einziges Problem: neben seiner neurologischen Störung, die in Stresssituationen ein Tic-artiges unwillkürliches und ununterdrückbares Lachen hervorruft, leidet er außerdem an Depressionen (und möglicherweise weiteren Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als er von seiner Therapeutin erfährt, dass die finanziellen Mittel sowohl für seine Gesprächs- als auch Pharmakotherapie gestrichen werden, gesteht er ihr, dass es ihm nicht nur schlecht ginge, nein: er habe ausschließlich negative Gedanken. Während er diese jedoch bisher relativ gut im Griff hatte, beginnen diese ihn nach dem erzwungenen Absetzen seiner Psychopharmaka und Psychotherapie zu übermannen. Die soziale Zurückweisung und das Mobbing, das er im Grunde (abgesehen von seiner Mutter und einem seiner Arbeitskollegen) von jeder Person in seinem Umfeld erfährt, kann nicht mehr abgefedert werden und entlädt sich in mörderischen Wutanfällen. Seine ersten Opfer sind mobbende Wallstreet-Yuppies. Ein Dreifachmord im Affekt, der negativ verstärkt wird: die Täter sind tot, die Schmerzen verschwunden.
Im späteren Verlauf des Films erfahren wir mit Arthur, worin seine neurologische Störung und seine psychischen Probleme begründet sind. Einer der früheren Partner seiner Mutter misshandelte Arthur als er ein Kind war, und fügte ihm dabei eine schwere Kopfverletzung zu – ein Trauma, das Arthur bis zur Gegenwart verdrängt hatte. Außerdem war seine Mutter Penny in der Vergangenheit wegen eigener psychischer Störungen in Gothams berühmter psychiatrischen Klinik, dem Arkham Asylum, untergebracht; hier wird eine familiäre Vorbelastung angedeutet. Doch das ist nicht alles: Jahrzehntelang belog Penny ihn bezüglich seiner Herkunft. Arthur, der ohnehin Bindungsprobleme aufweist, fühlt sich letztlich von der einzigen Person, von der er sich geliebt fühlte, verraten. Die Abwärtsspirale, die schon in vollem Gange ist, wird dadurch weiter angeheizt: suizidale Tendenzen und Rachegedanken manifestieren sich immer stärker und gipfeln in der Ermordung seines Idols vor laufenden Kameras. Ein Mord, der eine einzige Inszenierung ist. Ein Mord, der als politisches Zeichen instrumentalisiert wird. Ein Mord, für den Arthur positive Verstärkung in Form von Bewunderung und Glorifizierung erhält. Arthur ist tot, lang lebe der Joker. 
Was wir hier über zwei Stunden zu Gesicht bekommen, ist eine prototypische Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells zur Entstehung psychischer Störungen. Dieses besagt, dass zur Entwicklung solcher Störungen eine angeborene oder erworbene Vulnerabilität die Stressverarbeitungsressourcen des Individuums dauerhaft verringern. Erlebt das Individuum später akute Stressoren, die die Coping-Ressourcen übersteigen ohne dass schützende Resilienzfaktoren vorhanden sind, dann kommt es zur Manifestation der Störung. Arthur ist von Kindesbeinen an beeinträchtigt: er kommt aus wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen, lebt mit einer psychisch beeinträchtigten Mutter, erlebt Kindesmisshandlungen und erwirbt dadurch eine Behinderung, die ihn sozial ausgrenzt. All das hat vermutlich zur Entstehung der Depression beigetragen. Dank Psychopharmaka und Psychotherapie schafft er es jedoch, ein relativ geordnetes Leben zu führen. Als diese Ressourcen wegfallen, sinkt seine Stressverarbeitungskapazität jedoch wieder. Psychische und körperliche Gewalt, Einsamkeit und Wut können nicht mehr adäquat verarbeitet werden und Arthur wird zum Joker.
Joker zeigt somit eine nachvollziehbare und psychologisch plausible Entwicklung seines Protagonisten, mit der die Zuschauenden mitfühlen können. Arthur ist Opfer seiner Umstände: seines sozialen Umfelds, seiner Behinderung, des Wirtschaftssystems, der Regierung. All das ist eine Erklärung, nicht jedoch eine Entschuldigung: Die Verantwortung für seine Taten bleibt stets einzig bei Arthur. Die Verantwortung für den Weg dorthin aber nicht nur. So klagt der Film auch ganz Gotham an, insbesondere die, die die Fäden der kapitalistischen Stadt in der Hand halten, wie die Familie Wayne. Und das bedient letztlich das allgemeine Narrativ der Batman-Geschichte: Gotham bringt den Joker hervor, der Joker und Batman bedingen sich gegenseitig. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.  
„Madness, as you know, is like gravity. All it takes is a little push”, das sagte schon der von Heath Ledger verkörperte Joker in The Dark Knight. Dass dieser Joker, der durch eine dissoziale Persönlichkeitsstörung charakterisiert ist, die logische Fortführung der neuen, von Joaquin Phoenix verkörperten Joker-Iteration sein könnte, ist durchaus denkbar. Einige Einstellungen aus Todd Phillips‘ Film sind sogar offensichtliche Hommagen an The Dark Knight. So kann die Jokergenese über Filme und Inszenierungen hinweg weitergedacht werden. 
Vielleicht ist Joker für manche Menschen zu viel Erklärung. Vielleicht ist manchen Menschen ein mysteriöser Joker lieber. Einer, von dem man überhaupt nicht weiß, warum er so agiert wie er es tut. Einer, von dem man behaupten kann, dass er nun mal einfach „irre“ sei. Joker zeigt aber durch die Nachvollziehbarkeit: Arthur wurde nicht böse geboren. Das Böse gibt es nicht. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu bösen Handlungen in sich. Und letztlich sind wir alle verantwortlich dafür, dass nicht das Böse Überhand gewinnt, sondern Solidarität, Mitgefühl und Verständnis, füreinander und sich selbst.
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Sharp Objects: Adora

Schön, wenn eine Film- bzw. Serienadaptation ihrer Buchvorlage gerecht wird! Im Falle der HBO-Serie (in Deutschland bei Sky zu sehen) Sharp Objects, basierend auf dem gleichnamigen (in Deutschland als „Scharfe Schnitte“ oder „Cry Baby“ erhältlichen) Roman der großartigen Psychothriller-Autorin Gillian Flynn, ist das vollständig gelungen. Die Serie ist, ebenso wie das Buch, wunderbar düster, makaber, unheimlich, spannend, schockierend, grausam und traurig. 
Die Königin und heimliche Hauptfigur dieser düsteren Familiendystopie ist Adora, die Königin von Windgap. Schon bevor wir von den tödlichen Auswirkungen ihrer Fürsorge erfahren, lässt uns ihr Umgang mit ihren Kindern erschaudern. Dramatische Inszenierungen und Selbstbeschreibungen als grenzenlos liebende und bedingungslos aufopfernde Mutter, stehen einer erschreckenden Empathielosigkeit und erbarmungsloser Manipulation durch Vorwürfe, Schuldgefühle, Moralisierung und Invalidierung (Missachten, Verneinen oder Verdrehen von Wahrnehmungen, Bedürfnissen oder Gefühlen) ihrer Kinder gegenüber. 
Den Kindern wird, entgegen Adoras Beteuerung, die wahrscheinlich tatsächlich ihr verzerrtes Selbstbild wiedergeben, vermittelt, dass ihr einziger Daseinszweck darin besteht, die Erwartungen ihrer Mutter zu erfüllen und auf diese Weise für deren Glück oder Unglück gleichsam alleine verantwortlich zu sein. In der Sprache der Psychoanalyse werden die Kinder von Adora zu Selbstobjekten gemacht, die nicht als eigenständige Individuen, sondern nur für die Erhaltung bzw. Erhöhung des eigenen Selbstwertgefühls von Interesse sind. 
Dieses Erziehungsverhalten führt zu den massiven Problemen beider noch lebender Töchter im Bezug auf die Regulation des eigenen Selbstwertgefühls (bei Camille in Form eines phasenweise extrem negativen Selbstbildes, bei Emma in Form eines krankhaften Narzissmus, der keine Konkurrenz, keine Widersprüche und keine Empathie erlaubt) und der eigenen Emotionen, welche nicht adäquat geäußert und verarbeitet werden können und sich in der Folge immer wieder impulsiv, ohne ausreichende Beachtung der Konsequenzen, ausagiert werden müssen, z.B. in Suchtmittelmissbrauch, Selbstverletzung oder Mord. 
Tatsächlich haben Kinder psychisch kranker Eltern (in Deutschland etwa jedes vierte Kind und 18 Jahren) ein drei- bis viermal höheres Risiko, selbst psychisch zu erkranken. (Zur oft beklemmenden und verstörenden Lebenssituation von Kindern schwer psychisch kranker Eltern, empfehle ich den auf Youtube frei zugänglichen Kurzfilm Lilli). 
Allerdings gehört zum vollständigen Bild auch, dass die überwiegende Mehrheit psychisch erkrankter Eltern mit der eigenen Erkrankung verantwortungsvoll und transparent umgehen und genauso gute Eltern sind, wie psychisch Gesunde und dass es eine Vielzahl von Risiko- und Bedingungsfaktoren psychischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen gibt, so dass sich hier vorschnelle, eindimensionale Rückschlüsse verbieten. 
Jedenfalls leidet Adora, die selbst als Kind offenbar emotionalen Missbrauch erlebt hat, in der Folge unter einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, welche sich nach ICD-10 (F60.4) durch mindestens vier der Folgenden zeit- und situationsübergreifenden Merkmale definiert: 
  • Dramatische Selbstdarstellung, theatralisches Auftreten oder übertriebener Ausdruck von Gefühlen
  • Suggestibilität, leichte Beeinflussbarkeit durch Andere oder durch Ereignisse (Umstände)
  • oberflächliche, labile Affekte
  • ständige Suche nach aufregenden Erlebnissen und Aktivitäten, in denen die Betreffenden im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen
  • unangemessen verführerisch in Erscheinung und Verhalten
  • übermäßige Beschäftigung damit, äußerlich attraktiv zu erscheinen
Egozentrik, Selbstbezogenheit, dauerndes Verlangen nach Anerkennung, fehlende Bezugnahme auf andere, leichte Verletzbarkeit der Gefühle und andauerndes manipulatives Verhalten treten nicht selten begleitend auf, sind aber für die Diagnose nicht erforderlich. 
Adoras massives Bedürfnis nach dramatischer Selbstdarstellung, in diesem Fall als fürsorglich aufopfernde Mutter, in Kombination mit ihrer Unfähigkeit, sich tatsächlich warmherzig und empathisch auf andere Menschen einzulassen und sich diesen zu öffnen, führen zu einer weiteren Störung, dem sogenannten Münchhausen by proxy– bzw. Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, einer Spezialform des Münchhausen-Syndroms, welches in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F68.1) unter der Bezeichnung Artifizielle Störung als das „absichtliche Erzeugen oder Vortäuschen von körperlichen oder psychischen Symptomen oder Behinderungen“ definiert wird. Während beim Münchhausen-Syndrom Symptome durch Simulation oder Schädigung beim Betroffenen selbst erzeugt werden, häufig mit der unbewussten Motivation, sich Zuwendung und Versorgung durch andere Personen zu sichern, werden diese beim Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom bei einer anderen Person, oft den eigenen Kindern, herbeigeführt, um selbst eine versorgende und damit moralisch und bezüglich des eigenen Selbstwerts höherwertige Position einnehmen zu können. 
Das Münchhausen-Syndrom gilt als eine der psychischen Störungen mit der höchsten Dunkelziffer. Schätzungen gehen jedoch davon aus, dass Opfer einer Person mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom in fünf bis 35% der Fälle an den Folgen sterben. 
In der Vorgeschichte von Personen mit Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom findet sich nicht selten selbstverletzendes Verhalten, so auch bei Adora, die sich in Situationen erhöhter emotionaler Anspannung die Wimpern ausreißt, anstatt ihre Emotionen angemessen zulassen, ausdrücken und verarbeiten zu können. 
So ist Sharp Objects in erster Linie ein, in den Auswirkungen sicherlich extremes, aber in den Mechanismen der transgenerationalen Bindungsstörungen beängstigend nachvollziehbares Familiendrama, das zum Besten gehört, was es derzeit zu sehen gibt. 
*Mehr zu Sharp Objects gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast.
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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Podcast Folge 02 – The Big Bang Theory

In der zweiten Folge des Charakterneurosen-Podcasts besprechen Dr. Gebele und Herr Andreas die Serie The Big Bang Theory. Wir lernen etwas über Autismus, das Asperger-Syndrom, soziale Phobien, Mutismus, Mutter-Kind-Symbiosen und selbstunsichere Persönlichkeiten. Außerdem geht es um grüne Psychopharmakologie, weiße Cuokolade, rote Inder und blasse Biere

Hier geht es zum Podcast 


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Stromberg: Bernd Stromberg

Na gut, obwohl ich kaum etwas davon gesehen habe, äußere ich mich jetzt doch einmal zu dem außerordentlich bekannten und gehassliebten Herrn Stromberg aus der gleichnamigen ProSieben-Serie. 
Bernd Stromberg scheint mir vor allem durch Opportunismus, Zynismus, geringe Sozialkompetenz und mangelhafte Selbsteinschätzung aufzufallen. 
Sein Verhaltensmuster könnte Hinweis auf Züge einer passiv-aggressiven Persönlichkeitsstörung sein. Personen mit dieser Störung fällt es schwer, soziale Konflikte offen auszutragen und ihre Meinungen und Gefühle direkt zum Ausdruck zu bringen. Stattdessen zeigen sie sich oberflächlich angepasst und willfährig, leisten aber passiven Widerstand durch Verweigerung oder Verzögerung von Aufgaben, geben Pflichten und Aggression nach Unten weiter und zeigen eine zynisch-frustrierte zwischenmenschliche Haltung.
Ursächlich könnte die Angst bzw. die Erfahrung sein, mit der eigenen Meinung und Persönlichkeit nicht wirklich gehört und wergeschätzt zu werden. Somit stellt die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung einen pathologischen Lösungsversuch des psychischen Konflikts zwischen resignativer Unterwerfung und weiterbestehenden Kontroll- und Selbstbehauptungswünschen dar.
Die passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung wird in der in Deutschland verbindlichen Internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) nur im Anhang genannt (unter der Bezeichnung negativistische Persönlichkeitsstörung, ICD-10: F60.80). Detaillierte Diagnosekriterien finden sich in der in den USA gängigen Klassifikation Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV).
Zur Diagnose der Störung müssen mindestens vier der folgenden Kriterien dauerhaft und situationsübergreifend vorliegen:
  • Widersetzt sich passiv der Erfüllung sozialer und beruflicher Routineaufgaben
  • Beklagt sich, von anderen missverstanden und missachtet zu werden
  • Ist mürrisch und streitsüchtig
  • Übt unangemessen Kritik an Autoritäten und verachtet sie
  • Bringt denen gegenüber Neid und Groll zum Ausdruck, die offensichtlich mehr Glück haben
  • Beklagt sich übertrieben und anhaltend über persönliches Unglück
  • Wechselt zwischen feindseligem Trotz und Reue
Mögen die Strombergfans selbst entscheiden. Bernd Stromberg drückt es in Stromberg – Der Film so aus:

„Hier in dem Laden scheißen sie dir auf den Kopf und du sagst auch noch: Danke für den Hut.“
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Transparent: Die Geschichte von Mort und Maura

Die Amazon-Serie Transparent dreht sich um den Politikprofessor Mort Pfefferman, der sich eines Tages, bereits im Rentenalter, dazu entschließt, fortan als Frau namens Maura zu leben. Mort ist transsexuell, das bedeutet, sein Körper ist anatomisch und hormonell männlich, dennoch empfindet er sich selbst kognitiv und emotional als Frau.

In den ersten Folgen begleiten wir Mort bei einem schrittweisen Outing und erleben, wie sein Umfeld darauf reagiert. Auch Morts Ängste vor Ablehnung und Stigmatisierung werden in seiner Vorsicht, seinem Zögern deutlich – gerade gegenüber den eigenen Kindern, da ihm die Beziehungen zu diesen besonders viel bedeuten.

Tatsächlich fällt es den Kindern nicht leicht, mit der äußeren Veränderung ihres Vaters umzugehen. Obwohl sie ihn lieben. Obwohl sie allesamt liberal und weltoffen eingestellt sind. Trotz eines gewissen Hangs zu sexueller Unkonventionalität und Experimentierfreude. Und obwohl sie selbst immer wieder Mühe damit haben, herauszufinden, wer und wie sie eigentlich sind.

Auch die Psychiatrie hat sich mit der Akzeptanz von Transsexualität bisher schwer getan. Während der überwiegende Teil praktisch tätiger Psychotherapeuten Transsexualität nicht als krankhaft begreift, findet sie sich in der aktuellen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F64.0) unter der Rubrik Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen noch immer als Störung der Geschlechtsidentität unter der folgenden Definition:
Konstanter Wunsch, als Angehöriger der andren Geschlechtes zu leben und als solcher akzeptiert zu werden, in der Regel (aber nicht zwingend) verbunden mit dem Wunsch, den eigenen Körper durch chirurgische und hormonelle Behandlungen dem bevorzugten Geschlecht anzugleichen.
Es gehört zur traurigen Geschichte der Psychiatrie, dass die Notwendigkeit, Krankheiten zu definieren, immer wieder zur Pathologisierung von Erleben und Verhalten führt, das von der Norm, also vom Durchschnitt abweicht. So wurde zum Beispiel Homosexualität erst 1992 (!) mit erscheinen der zehnten Auflage der internationalen Krankheitsklassifikation (ICD-10) aus dem Katalog psychischer Störungen gestrichen und als gesunde Variante menschlichen Seins anerkannt.
In der elften Auflage (ICD-11), die voraussichtlich 2017 verbindlich eingeführt werden soll, wird sich auch die Transsexualität nicht mehr als psychische Störung finden.

Andere Fragen bleiben hingegen offen: Wann wird Traurigkeit zur Depression, wann Aufgedrehtheit zur Hyperaktivität, PMS zur Prämenstruellen dysphorischen Störung…

Fakt ist – und das lehrt uns, nicht nur an Mauras Beispiel, auch Transparent mit seinen vielen unkonventionellen und mehrschichtigen Figuren – dass Menschen unterschiedlich sind und jeder Mensch in vielerlei Hinsicht mehr oder weniger stark vom Durchschnitt abweicht. Wer darunter leidet braucht Hilfe, die anderen Verständnis und Respekt.

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Gone Girl: Amy



Die bisher drei Romane der amerikanischen Autorin Gillian Flynn sind allesamt nicht nur spannend, sondern zeichnen sich durch eine außerordentliche und zumindest im Thriller-Genre beklagenswert seltene psychologische Tiefe und ein starkes Gespür für den Facettenreichtum und die Ambivalenzen menschlichen Denkens und Fühlens aus.

Die Romanverfilmung Gone Girl – Das perfekte Opfer erreicht zwar nicht den Tiefgang des Buches, ist aber dennoch sehenswert. Vor allem wegen der schillernden Hauptfigur Amy Elliott Dunne. 
Dass diese sich psychisch deutlich außerhalb der Norm bewegt, wird im Lauf des Films zunehmend überdeutlich. Wie in vielen amerikanischen Filmen wird auch in Bezug auf Amy und ihr manipulativ-kriminelles Verhalten der Begriff Soziopathin verwendet. Soziopath bezeichnet ursprünglich einen Menschen, der kein wirkliches Mitgefühl (Empathie) mit anderen Menschen hat und sich daher nicht sozial, sondern antisozial-egoistisch verhält.
In der Psychiatrie ist Soziopathie ein veralteter und wegen seiner Unschärfe und hohen stigmatisierenden Wirkung inzwischen nicht mehr gebräuchlicher Begriff für das Syndrom der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese Diagnose ist nach der modernen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Amy scheint zwar im intuitiven Nachvollziehen, bzw. Antizipieren der Gefühle und Reaktionen anderer ausgesprochen gut zu sein. Empathie, im Sinne eines tatsächlichen, eigenen Nachempfindens des Gefühls, scheint ihr jedoch eher fremd. Damit fehlt ihr die emotionale Basis um Mitgefühl mit ihren Opfern zu haben oder denen vergeben zu können, die ihr vermeintlich Unrecht getan haben.
Eine verantwortungslose Haltung kann man der bestens organisierten und sich ständig selbst reflektierenden Amy eigentlich nicht unterstellen. Auch zeigt sie sich an der Oberfläche durchaus an sozialen Normen orientiert, legt großen Wert auf eine makellose Außenwirkung. Unter der Oberfläche zeigt sich dann aber doch eine umfassende Verachtung gegenüber gesellschaftlichen Normen und die Gewissheit, über diesen zu stehen, so dass Lügen, Betrug und selbst Mord legitime Mittel zur Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse sind.
Dauerhafte, befriedigende Beziehungen zu führen, ist für die meisten Menschen eine Herausforderung. Dies wird in Gone Girl ausführlich thematisiert, auch aus der Sicht von Amys Ehemann Nick. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, dass beide Partner sich persönlich ständig entwickeln und damit verändern, so dass die gemeinsame Beziehung, deren Selbstverständnis und Normen, immer wieder überprüft und angepasst werden müssen. Dies ist genau der Punkt, an dem Amy in ihren Beziehungen immer wieder scheitert: Sie möchte genau den Partner, den sie sich am Anfang vorgestellt und aufgrund ihre Vorstellung ausgewählt hat. Abweichungen von ihren Ansprüchen kann sie nicht tolerieren und versucht sie mittels Druck und Manipulation zu unterbinden. Wahrscheinlich liegt hier das Kernproblem von Amys auffallend gestörtem Beziehungsverhalten. Hier gerät Amy immer wieder an den Scheideweg zwischen einem einfach nur selbstbezogenen und wenig empathischen Menschen und einer eiskalt manipulativen „Soziopathin“. Dabei spricht vieles dafür, dass Amy einfach nur das Beziehungsmuster reinszeniert, welches ihr am besten vertraut ist. Ihre Eltern haben ihr gegenüber nie offen Kritik geäußert, ihr aber ihr ganzes Leben lang Kinderbücher über Amazing Amy, die eigentlich perfekte Tochter, vorgesetzt. Hinter der oberflächlichen Akzeptanz und Zuneigung, machten Amys Eltern ihr indirekt ununterbrochen deutlich, dass sie nicht amazing war und das es auch besser ginge, indem Amazing Amy im jeweils neuen Kinderbuch immer genau die Herausforderung bravourös meisterte, mit der die echte Amy gerade zu kämpfen hatte. Wie sich ihre echte Tochter dabei fühlen mag, scheint den Eltern entweder nicht bewusst (Empathiestörung?) oder egal gewesen zu sein. Hier scheint der Grundstein für Amys Beziehungsmuster aus überhöhten und unflexiblen Ansprüchen und unempathischer Manipulation zu liegen. Folglich dienen auch alle noch so dissozialen und kriminellen Handlungen Amys letztlich nur einem Ziel: Die Amazing Amy mit dem perfekten Leben zu sein – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Eine geringe Schwelle für aggressives Verhalten dürfen wir Amy durchaus attestieren: Ihre Reaktionen auf eher normale Beziehungsprobleme fallen doch ungewöhnlich drastisch aus. Allerdings sind ihre aggressiven Reaktionen nicht impulsiv, sondern sorgfältig von langer Hand vorbereitet, was zwar für dissoziale Persönlichkeitsstörungen eher untypisch, aber keine Ausschlusskriterium ist.
Und schließlich passt auch Amys Umgang mit Schuld ins Bild: Für jede ihrer Taten hat sie eine scheinbar logische Begründung parat, die jeder Verantwortung dem anderen zuschreibt und Amys Verhalten als nachvollziehbare, fast schon alternativlose Reaktion erscheinen lässt. Somit dürfen wir Amy mit einiger Gewissheit die Diagnose dissoziale Persönlichkeitsstörung geben, wenngleich einzelne Aspekte nicht ins typische Bild passen.
Viel interessanter als Amys Verbrechen (Wer hat im Kino nicht schon Schlimmeres gesehen?) sind die Fragen, die Amys und Nicks Reflektionen in Gone Girl stellen und die auch für unsere „normalen“ Paarbeziehungen gelten:
Wie viel Raum geben wir dem Partner, sich abweichend von unseren Wünschen und Vorstellungen zu entwickeln?
Wie sehr sind wir bereit uns für unseren Partner wirklich zu verändern?
Wie ehrlich sind wir wirklich?
Wie viel Ehrlichkeit können wir von unserem Partner ertragen?
Oder, wie Nick Dunne fragt:
Woran denkst du?
Wer bist du?
Was haben wir einander angetan?
Was werden wir noch tun?

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Moby Dick: Ahab



Kapitän Ahab, in der 1956er Verfilmung von Moby Dick gespielt von Gregory Peck, ist ein finsterer Geselle. Seit der weiße Wal ihn entstellt und fast getötet hat, jagt er ihm durch die sieben Weltmeere nach, besessen vom Gedanken an Rache und bereit, dafür jedes Menschenleben, auch sein eigenes, zu opfern.

Der Angriff durch den weißen Wal muss für Ahab ein Erlebnis extremer Belastung und Todesangst gewesen sein, im psychologischen Sinne ein Trauma, welches allerdings zum Zeitpunkt der Handlung von Moby Dick bereits viele Jahre zurückliegt.
Lange zurückliegende, aber unverarbeitete Traumata können bei den Betroffenen, wie bei Ahab, zu einer chronifizierten Traumafolgestörung, einer sogenannten Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0), führen. Diese ist zu diagnostizieren, wenn eine Person ein schweres Trauma erlebt hat und später mindestens zwei der folgenden Symptome dauerhaft aufweist:
  • Feindliche oder misstrauische Haltung
  • Sozialer Rückzug
  • Andauerndes Gefühl von Leere und Hoffnungslosigkeit
  • Andauerndes Gefühl von Nervosität oder von Bedrohung
  • Andauerndes Gefühl der Entfremdung (anders als die anderen zu sein), ggf. verbunden mit emotionaler Betäubung
Häufig geht einer Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung eine Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) voraus und die Symptome beider Störungen können ineinander übergehen. So scheint es auch bei Ahab gewesen zu sein, dessen Schlafstörungen und Alpträume noch immer auf die Posttraumatische Belastungsstörung hinweisen. 
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