Gone Girl: Amy



Die bisher drei Romane der amerikanischen Autorin Gillian Flynn sind allesamt nicht nur spannend, sondern zeichnen sich durch eine außerordentliche und zumindest im Thriller-Genre beklagenswert seltene psychologische Tiefe und ein starkes Gespür für den Facettenreichtum und die Ambivalenzen menschlichen Denkens und Fühlens aus.

Die Romanverfilmung Gone Girl – Das perfekte Opfer erreicht zwar nicht den Tiefgang des Buches, ist aber dennoch sehenswert. Vor allem wegen der schillernden Hauptfigur Amy Elliott Dunne. 
Dass diese sich psychisch deutlich außerhalb der Norm bewegt, wird im Lauf des Films zunehmend überdeutlich. Wie in vielen amerikanischen Filmen wird auch in Bezug auf Amy und ihr manipulativ-kriminelles Verhalten der Begriff Soziopathin verwendet. Soziopath bezeichnet ursprünglich einen Menschen, der kein wirkliches Mitgefühl (Empathie) mit anderen Menschen hat und sich daher nicht sozial, sondern antisozial-egoistisch verhält.
In der Psychiatrie ist Soziopathie ein veralteter und wegen seiner Unschärfe und hohen stigmatisierenden Wirkung inzwischen nicht mehr gebräuchlicher Begriff für das Syndrom der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese Diagnose ist nach der modernen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Amy scheint zwar im intuitiven Nachvollziehen, bzw. Antizipieren der Gefühle und Reaktionen anderer ausgesprochen gut zu sein. Empathie, im Sinne eines tatsächlichen, eigenen Nachempfindens des Gefühls, scheint ihr jedoch eher fremd. Damit fehlt ihr die emotionale Basis um Mitgefühl mit ihren Opfern zu haben oder denen vergeben zu können, die ihr vermeintlich Unrecht getan haben.
Eine verantwortungslose Haltung kann man der bestens organisierten und sich ständig selbst reflektierenden Amy eigentlich nicht unterstellen. Auch zeigt sie sich an der Oberfläche durchaus an sozialen Normen orientiert, legt großen Wert auf eine makellose Außenwirkung. Unter der Oberfläche zeigt sich dann aber doch eine umfassende Verachtung gegenüber gesellschaftlichen Normen und die Gewissheit, über diesen zu stehen, so dass Lügen, Betrug und selbst Mord legitime Mittel zur Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse sind.
Dauerhafte, befriedigende Beziehungen zu führen, ist für die meisten Menschen eine Herausforderung. Dies wird in Gone Girl ausführlich thematisiert, auch aus der Sicht von Amys Ehemann Nick. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, dass beide Partner sich persönlich ständig entwickeln und damit verändern, so dass die gemeinsame Beziehung, deren Selbstverständnis und Normen, immer wieder überprüft und angepasst werden müssen. Dies ist genau der Punkt, an dem Amy in ihren Beziehungen immer wieder scheitert: Sie möchte genau den Partner, den sie sich am Anfang vorgestellt und aufgrund ihre Vorstellung ausgewählt hat. Abweichungen von ihren Ansprüchen kann sie nicht tolerieren und versucht sie mittels Druck und Manipulation zu unterbinden. Wahrscheinlich liegt hier das Kernproblem von Amys auffallend gestörtem Beziehungsverhalten. Hier gerät Amy immer wieder an den Scheideweg zwischen einem einfach nur selbstbezogenen und wenig empathischen Menschen und einer eiskalt manipulativen „Soziopathin“. Dabei spricht vieles dafür, dass Amy einfach nur das Beziehungsmuster reinszeniert, welches ihr am besten vertraut ist. Ihre Eltern haben ihr gegenüber nie offen Kritik geäußert, ihr aber ihr ganzes Leben lang Kinderbücher über Amazing Amy, die eigentlich perfekte Tochter, vorgesetzt. Hinter der oberflächlichen Akzeptanz und Zuneigung, machten Amys Eltern ihr indirekt ununterbrochen deutlich, dass sie nicht amazing war und das es auch besser ginge, indem Amazing Amy im jeweils neuen Kinderbuch immer genau die Herausforderung bravourös meisterte, mit der die echte Amy gerade zu kämpfen hatte. Wie sich ihre echte Tochter dabei fühlen mag, scheint den Eltern entweder nicht bewusst (Empathiestörung?) oder egal gewesen zu sein. Hier scheint der Grundstein für Amys Beziehungsmuster aus überhöhten und unflexiblen Ansprüchen und unempathischer Manipulation zu liegen. Folglich dienen auch alle noch so dissozialen und kriminellen Handlungen Amys letztlich nur einem Ziel: Die Amazing Amy mit dem perfekten Leben zu sein – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Eine geringe Schwelle für aggressives Verhalten dürfen wir Amy durchaus attestieren: Ihre Reaktionen auf eher normale Beziehungsprobleme fallen doch ungewöhnlich drastisch aus. Allerdings sind ihre aggressiven Reaktionen nicht impulsiv, sondern sorgfältig von langer Hand vorbereitet, was zwar für dissoziale Persönlichkeitsstörungen eher untypisch, aber keine Ausschlusskriterium ist.
Und schließlich passt auch Amys Umgang mit Schuld ins Bild: Für jede ihrer Taten hat sie eine scheinbar logische Begründung parat, die jeder Verantwortung dem anderen zuschreibt und Amys Verhalten als nachvollziehbare, fast schon alternativlose Reaktion erscheinen lässt. Somit dürfen wir Amy mit einiger Gewissheit die Diagnose dissoziale Persönlichkeitsstörung geben, wenngleich einzelne Aspekte nicht ins typische Bild passen.
Viel interessanter als Amys Verbrechen (Wer hat im Kino nicht schon Schlimmeres gesehen?) sind die Fragen, die Amys und Nicks Reflektionen in Gone Girl stellen und die auch für unsere „normalen“ Paarbeziehungen gelten:
Wie viel Raum geben wir dem Partner, sich abweichend von unseren Wünschen und Vorstellungen zu entwickeln?
Wie sehr sind wir bereit uns für unseren Partner wirklich zu verändern?
Wie ehrlich sind wir wirklich?
Wie viel Ehrlichkeit können wir von unserem Partner ertragen?
Oder, wie Nick Dunne fragt:
Woran denkst du?
Wer bist du?
Was haben wir einander angetan?
Was werden wir noch tun?

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Sherlock: Sherlock Holmes

Ein eigenartiger Geselle ist dieser moderne Sherlock Holmes aus der BBC-Serie Sherlock. Kriminologisches Genie mit scheinbar perfektem Gedächtnis und grenzenlosem Selbstbewusstsein und doch überfordert und hilflos angesichts alltäglichster zwischenmenschlicher Interaktionen.
Wie können perfekte Logik und soziale Inkompetenz so nahe beieinander liegen?
Die Antwort: Sherlock Holmes hat offenbar ein Asperger-Syndrom. Diese angeborene Entwicklungsstörung aus dem Autismusspektrum wird nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F84.5) durch die folgenden Kriterien beschrieben:
  • Qualitative Abweichungen der wechselseitigen sozialen Interaktionen
  • Eingeschränktes, stereotypes Repertoire von Interessen und Aktivitäten
  • Keine allgemeine Entwicklungsverzögerung
  • Kein Entwicklungsrückstand der Sprache
Die qualitativen Abweichungen in der sozialen Interaktion zeigen sich in Sherlocks mangelnder Empathiefähigkeit, seinem Desinteresse an den Meinungen und Gefühlen anderer und seiner Verweigerung gegenüber sozialen Normen.
Sein Repertoire an Interessen und Aktivitäten ist einseitig und beschränkt auf Fakten- und Fachwissen, aus dem wissenschaftlichen, vor allem kriminologischen Bereich.
Im Vergleich zu anderen Störungen aus dem Autismus-Spektrum zeichnet sich das Asperger-Syndrom dadurch aus, dass intellektuelle und sprachliche Fähigkeiten nicht beeinträchtigt sind. In einigen Fällen, zu denen Sherlock zweifelsfrei gehört, kann sogar eine intellektuelle und sprachliche Hochbegabung vorliegen.
Sherlocks Selbstdiagnose als hochfunktionaler Soziopath ist hingegen Unsinn. Soziopath ist eine veraltete und stark stigmatisierende Bezeichnung für Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung (wie z. B. Der Joker aus The Dark Knight oder Frank Underwood aus House of Cards), die bei Sherlock nicht vorliegt.
Typisch für das Asperger-Syndrom ist, neben den genannten Diagnosekriterien, eine Tendenz zu mechanistischem Denken und eine Vorliebe für rationale, wissenschaftliche und faktenbasierte Erklärungen.
Das an strenger Logik, mathematischer Wahrscheinlichkeit und naturwissenschaftlicher Expertise ausgerichtete Schlussfolgern macht Sherlock als Ermittler so herausragend treffsicher. Im Gegensatz zu den meisten anderen Menschen (inklusive der Londoner Polizeibeamten) unterlaufen ihm kaum logische Fehlschlüsse, sogenannte Denkfehler.
Ein häufiger, typisch menschlicher Denkfehler ist z. B. der Halo-Effekt. Dabei schließt man unbewusst von einer markanten Eigenschaft einer Person auf weitere Eigenschaften, ohne diese tatsächlich zu kennen. So würden z. B. die meisten Menschen einer unsympathischen oder aggressiven Person eher ein Verbrechen zutrauen, als einer freundlichen oder schüchternen Person. Sherlock jedoch lässt sich davon nicht blenden und entlarvt so auch Täter, die von der Polizei gar nicht erst in Betracht gezogen werden.
Einen weiteren häufigen Denkfehler beschreibt das sogenannte Minimalgruppen-Paradigma. Es beschreibt die Tendenz, Personen die einem selbst als ähnlich oder der eigenen sozialen Gruppe zugehörig empfunden werden, positiver wahrzunehmen, zu bevorzugen und ihre Leistungen besser zu bewerten. Sherlock, der sich auch davon selten beeinflussen lässt, bleibt dagegen offen und aufmerksam auch für Verdächtiges in seinem engsten sozialen Umfeld – oft zu dessen Leidwesen und Verärgerung.
So ist Sherlocks wichtigste Waffe im Kampf gegen das Verbrechen sein logisch-schlussfolgernder Verstand und (im Gegensatz zu vielen anderen fiktionalen Super-Ermittlern) gerade nicht seine bloße Intuition.
Allerdings stößt auch Sherlocks Methodik hin und wieder an ihre Grenzen, nämlich immer dann, wenn sich Menschen – und auch das kommt vor – entgegen jeder Logik und statistischen Wahrscheinlichkeit verhalten. Dann ist selbst der hochintelligente Sherlock auf die Hilfe seines Freundes Dr. Watson angewiesen, der mit seinem intuitiven Verständnis für das Irrationale und Unvorhersehbare im Menschen, immer wieder den entscheidenden Beitrag zum Erfolg der Ermittlungen leistet. 


Mehr zu Sherlock, Watson, Moriarty und Co. im Charakterneurosen-Podcast

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