Mindhunter
Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das ganze schien, wie die typische „FBI jagt durchgeknallten Psychokiller“-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von „Psycho“ (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und „Killer“ (also Kriminalität).
Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen („weil nicht sein kann, was nicht sein darf“) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.). In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.
Haus des Geldes
- Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
- Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
- Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
- Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
- Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
- Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
- Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
- Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
- Unbeständige und launische Stimmung
- Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
- Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
- Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
- Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
- Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
- Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
- Mangel an Empathie
- Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
- Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
- Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
- Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
- Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
- Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
- Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
- Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
Gone Girl: Amy
Die bisher drei Romane der amerikanischen Autorin Gillian Flynn sind allesamt nicht nur spannend, sondern zeichnen sich durch eine außerordentliche und zumindest im Thriller-Genre beklagenswert seltene psychologische Tiefe und ein starkes Gespür für den Facettenreichtum und die Ambivalenzen menschlichen Denkens und Fühlens aus.
- Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
- Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
- Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
- Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
- Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
- Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Sons of Anarchy: Jax und die Sons
Die über sieben Staffeln erzählte Geschichte der Sons of Anarchy ist eine Geschichte von Treue und Verrat, Loyalität und Rivalität, Liebe und Verlust. Zentrale Themen des menschlichen Seins also.
Breaking Bad: Jesse
Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.
Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
- Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
- Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
- Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
- Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
- Zappeln mit Händen und Füßen
- Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
- Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
- Unterbrechen oder stören anderer
- Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
- Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
- Hinwegsetzen über Regeln
- Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
- Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
- Wutausbrüche
- Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
- Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
- Einsatz von Waffen
- Zerstörung fremden Eigentums
- Diebstahl, Einbruch
Das Böse in House of Cards & The Shield
Francis „Frank“ Underwood aus House of Cards und Detective Vic Mackey aus The Shield – Gesetz der Gewalt verbindet auf den ersten Blick nicht viel. Hier der aalglatte Spitzenpolitiker, stets in Anzug und Krawatte, dort der raubeinige Cop, laut, aggressiv und respektlos.
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Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
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Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
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Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
-
Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
-
Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
-
Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
-
Mangel an Empathie
-
Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
-
Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Fight Club & Zwielicht
Beide Filme behandeln, jeweils anhand der von Edward Norton dargestellten Charaktere, das Thema gespaltene Persönlichkeit, oder, im psychologischen Fachjargon Multiple Persönlichkeitsstörung, welche nach IDC-10 (F44.81) wie folgt beschrieben wird:
- Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
- Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
- Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern (zu ausgeprägt für eine einfache Vergesslichkeit)
- Nicht bedingt durch eine hirnorganische Störung oder durch psychotrope Substanzen
- Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen
In Fight Club spielt Edward Norton den namenlosen Protagonisten, der in der Rezeption häufig Jack genannt wird (im Bezug auf die Zeitschriftenartikel aus der Perspektive der inneren Organe einer Person namens Jack), und der wahrscheinlich die prämorbide Grundpersönlichkeit darstellt. Auf andauernde Gefühle von Sinnlosigkeit und Einsamkeit reagiert Jack zunächst mit heftigen Schlafstörungen (ICD-10: F51.0, Nichtorganische Insomnie), die ihn noch weiter an die psychische und physische Belastungsgrenze bringen. Die letzte Rettung für seine dem Zusammenbruch nahe Psyche ist die Dissoziation eines Persönlichkeitsanteils, den Jack bisher nicht ausleben konnte, wahrscheinlich aufgrund von Angst, Scham und einer Erziehung und Sozialisation, die Anpassung, Unterordnung und den Rückzug in eine materiell-private pseudoheile Welt propagiert haben. Dieser Persönlichkeitsanteil, gespielt von Brad Pitt, heißt Tyler Durden und verkörpert nach eigener Aussage „all das was du immer sein wolltest…„, was in erster Linie Autonomie, Impulsivität, aggressive und sexuelle Exzessivität und grenzenloses Selbstvertrauen bedeutet. Jack leidet, wie er in einer Szene berichtet, darunter, seinen Vater kaum gekannt zu haben und nur von Frauen erzogen worden zu sein. Mit Tyler lebt er sein idealisiertes männlich-kraftvolles Persönlichkeitsideal aus. Die Abspaltung dieses Persönlichkeitsanteils ist zunächst noch notwendig, weil Jack zu tief in seinen Ängsten und Unsicherheiten gefangen ist, um bewusst Veränderungsschritte einleiten zu können.
Ein ähnlicher Zusammenhang besteht im Film Zwielicht zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen Aaron und Roy (diesmal beide gespielt von Edward Norton), wenngleich sich zum Schluss herausstellt, dass, anders als es zunächst den Anschein hatte (und auch anders als in Fight Club), nicht der unsichere, ängstliche Aaron die prämorbide Grundpersönlichkeit verkörpert, sondern dass dieser eine bloße Erfindung des aggressiven und manipulativen Roy, der in Wahrheit doch nicht unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet, ist.
Zudem besteht ein Unterschied zwischen den beiden Filmen darin, dass Aaron und Roy nie gleichzeitig auftreten, was, wenngleich sich Roy als Simulant entpuppt, die realistischere Darstellung der multiplen Persönlichkeitsstörung ist, während die ausführlichen Dialoge zwischen Jack und Tyler eher an visuelle und akustische Halluzinationen erinnern, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) typisch sind und weniger bei multipler Persönlichkeitsstörung.
Ein anderes Störungsbild, welchem in beiden Filmen eine zentrale Rolle zukommt, ist die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Diese ist nach ICD-10 (F60.2) gekennzeichnet durch:
- Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
- Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
- Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
- Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
- Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
- Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Dies führt zu einer weiteren Gemeinsamkeit beider Filme: Die Darstellung (vermeintlich) dissoziativ gestörter Hauptcharaktere hat auch die Funktion des Hinweises auf dissoziative Elemente im gesamtgesellschaftlichen Geschehen.
In Zwielicht wird der simulierten Persönlichkeitsspaltung des wegen Mordes angeklagten Aaron/Roy die ihrerseits an Persönlichkeitsspaltung grenzende Bigotterie der herrschenden Klasse gegenübergestellt und die durchweg selbstsüchtigen, macht-, ruhm-, geldgierigen und perversen Motive der nach außen hin makellos anständigen Würdenträger aus Gesellschaft, Justiz und Kirche werden vorgeführt.
Fight Club thematisiert ausführlich die dissoziative Gefühlsabspaltung als Massenphänomen in einer Gesellschaft, die durch permanenten materiellen und medialen Passivkonsum und das axiomatische Gebot von Konformität und Selbstoptimierung in einem hypnotischen Zustand geduldeter Unterwerfung und Gefügigkeit gehalten werden soll, welcher wiederum (und hier schließt sich der Kreis) im eigensten Interesse der, in Zwielicht charakterisierten, herrschenden Minderheit sein soll.
Summa Summarum ist Roy ein kaltblütiger Mörder und Tyler ein Extremist und Terrorist. Einen Anstoß, dissoziative Phänomene im eigenen Alltagserleben wahrzunehmen und die Maximen der eigenen Lebensführung einer Überprüfung zu unterziehen, können uns die Filme dennoch liefern.
Game of Thrones: Joffrey, Cersei & Robert
Joffrey Baratheon ist der jugendliche Prinz der sieben Königreiche und Thronfolger seines (vermeintlichen) Vaters Robert Baratheon. Außerdem ist er – bei Zuschauern wie Zeitgenossen – äußerst unbeliebt.
- Tyrannisieren
- Erpressung
- Gewalttätigkeit
- Grausamkeit gegenüber Menschen und Tiere
- Exzessives Streiten
- Ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche
- Fehlen von Kooperationsbereitschaft
- Ungehorsam und Grobheit gegen Erziehungspersonen
Seine Kontaktversuche werden durch seine arrogante, selbstbezogene und unempathische Art, von jedem, der sich traut, zurückgewiesen. Alle anderen begegnen ihm mit vorgetäuschtem Respekt, aus Angst vor seiner Grausamkeit.
Da die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens überwiegend im psychosozialen Bereich liegen, müssen wir Joffreys Kindheit und familiäre Situation untersuchen, um seine Symptomatik zu verstehen:
Joffreys Mutter Cersei verlor ihre eigene Mutter bereits im Alter von neun Jahren. Von ihrem Vater Tywin wurde und wird sie nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Heiratsfaustpfand und Stammhaltergebärerin wahrgenommen. Der Glanz im Auge des Vaters ging ihr völlig ab.
Nach dem Tod der Mutter kann sie der totalen Einsamkeit nur dadurch entgehen, dass sie sich emotional an die einzige verfügbare Bezugsperson, ihren Zwillingsbruder Jaime, bindet. Um sich dessen Zuneigung und Loyalität zu versichern, bedient sie sich des einzigen, wozu sie sich entsprechend den Zuschreibungen ihres Vaters fähig fühlt, nämlich erotischer Verführung.
Was sich zunächst als psychische Überlebensstrategie des emotional vernachlässigten Kindes entwickelt, manifestiert sich im Erwachsenenalter als Störung der Sexualpräferenz (ICD-10: F65.8): Cersei scheint nur im Inzest sexuelle Erfüllung zu finden, wobei inzwischen außer Jaime auch andere männliche Verwandte als Sexualpartner in Frage kommen. Wir können darin mit einiger Wahrscheinlichkeit den unbewussten Versuch sehen, sich die Liebe des Vaters, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch noch zu sichern. Der ursprüngliche Wunsch und die mit ihm verbundene, anhaltende Kränkung, können dabei verdrängt werden, weil das bewusste Begehren auf andere Männer (Jaime, Lancel) verschoben wird, die dem Vater aber zumindest ähneln müssen, indem sie die typischen Merkmale der Lennistermänner (blonde Haare, Tendenz zum Narzissmus) aufweisen.
Im Gegensatz zu Joffrey selbst, weiß Cersei von Beginn an, dass ihr Zwillingsbruder der biologische Vater ihres Kindes ist. Dies erklärt die extreme Ambivalenz aus naiver Idealisierung und tiefer Scham, mit der sie Joffrey, je nach Situation, immer wieder begegnet.
Er verkörpert zwar das begehrte Männerideal (Generationsgrenzen spielen in Cerseis Wahrnehmung kaum eine Rolle) und bestätigt ihre Daseinsberechtigung in den Augen ihres Vaters (Thronfolger gebären), gleichzeitig stellt Joffrey aber auch eine ständige Erinnerung an ihre Trieb- und Sündhaftigkeit dar. Selbst wenn sie sich selbst dafür nicht erkennbar schämt bzw. ihre Scham verdrängt und rationalisiert (die Targaryens machen es aber auch…), so lässt ihr Vater sie seine Enttäuschung über ihr Verhalten (zumindest darüber, dass es herauskommt und den Ruf der Familie befleckt) deutlich spüren, was die frühen Entwertungen reaktualisiert und ihre ödipalen Minderwertigkeitsgefühle weiter verstärkt.
Als Joffreys psychische Defekte zunehmend erkennbar werden, kommen wahrscheinlich zusätzliche Schuldgefühle hinzu: Als Nicht-Psychologin könnte Cersei annehmen, dass seine Störung genetisch und damit durch den Inzest bedingt ist.
Summa summarum kann Joffrey von seiner Mutter kaum positive Impulse für seine eigene psychische Entwicklung erwarten.
Joffreys namentlicher Vater, König Robert Baratheon, ist alkoholabhängig (ICD-10: F10.2) und gewalttätig. Einer Anekdote nach, hat er Joffrey bereits als kleinem Kind zwei Milchzähne ausgeschlagen, nachdem dieser eine Katze grausam getötet hatte (ein erstes Frühzeichen der späteren Störung des Sozialverhaltens).
Robert ist dem Suff wohl aus allgemeiner Enttäuschung über sein Leben anheimgefallen. Diese verbindet ihn mit seiner Vernunftehefrau Cersei, wofür beide sich gegenseitig beschuldigen und hassen.
Seine wahre Liebe, Ned Starks Schwester, wurde getötet. Seine Trauer reagierte er in einem Krieg zur Eroberung des eisernen Throns ab (man nennt diese Kanalisierung von unangenehmen Emotionen in Richtung auf ein konstruktives Ziel Sublimierung), was kurzfristig die Lebensfreude zurückbringt. Doch spätestens als alle Feinde besiegt sind, kehren Trauer und Enttäuschung zurück. Was Robert bleibt ist die Flucht in den Rausch, in dem er von den längst vergangenen Tagen als schöner Jüngling, stolzer Weiberheld und unbesiegbarer Krieger träumen kann. Das verlorene Gefühl der eigenen Attraktivität kauft er sich bei Prostituierten und den ausbleibenden Triumpf auf dem Schlachtfeld versucht er durch die Erniedrigung Untergebener, wie Cersei oder Jaime, zu kompensieren.
Vielleicht dient er damit bereits Joffreys späterem Sadismus als unfreiwilliges Vorbild.
Robert weiß nicht, dass Joffrey nicht sein wirklicher Sohn ist. Falls er es geahnt hat, scheint er dies gut verdrängt zu haben. Hätte er den Verdacht aufkommen lassen, hätte er handeln müssen, und dazu ist er zu Beginn der Handlung von Game of Thrones bereits zu lebensmüde.
Da Robert nicht der Mann ist, der er werden wollte, wünscht er sich, dass sein Erstgeborener der Mann wird, der er selbst in seiner melancholisch verklärten Erinnerung gewesen sein will. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass Joffrey diesem Ideal an Mannhaftigkeit und Edelmut nicht gerecht werden kann, macht er keinen Hehl. Mit der an sich richtigen Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass Joffrey (zumindest noch) nicht reif dafür ist, den Thron zu besteigen, fügt er diesem posthum eine letzte schwere Kränkung zu.
Das Selbstbild eines Kindes entsteht maßgeblich aus den bewussten und unbewussten Zuschreibungen anderer, in erster Linie der Eltern. So wie sich Tywins Erwartungen und Entwertungen in Cerseis Charakter niedergeschlagen haben, wird auch Joffreys Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern geprägt.
In diesen erlebt er einerseits deren völlig überhöhten Erwartungsdruck: Er soll stark, mutig und schön werden, wobei bereits hier die Wünsche der Eltern auseinandergehen (eine Manifestation der jeweiligen familiären Größenfantasien) und somit nie vollständig zu erfüllen sind. Durch sein Lennisteraussehen, für das er nun gar nichts kann, gefällt er zwar der Mutter, verstärkt aber die Distanz zum Vater. Auch die Karriereansprüche der Eltern an den Sohn (Herrscher auf dem eisernen Thron, König der Andalen und der ersten Menschen, Herr der sieben Königslande, Beschützer des Reiches…) wirken narzisstisch überzogen und setzen den Jungen von Geburt an unter Druck.
Andererseits nimmt Joffrey unbewusst auch die massiven Konflikte, Zweifel, Enttäuschungen und Schamgefühle seiner Eltern wahr, insbesondere auch gegenüber ihm selbst, was nagende Selbstzweifel in den Tiefen seiner Seele verankert, die er durch sein arrogantes Auftreten (in erster Linie vor sich selbst) verbergen muss.
Joffrey ist damit das, was in der Familienpsychotherapie als Indexpatient bezeichnet wird: In seiner Symptomatik manifestieren sich die Störungen und Konflikte des gesamten Familiensystems. Seine auffallende Pathologie, über die sich alle anderen irgendwie einig sein können, ermöglicht die Verdrängung und Verleugnung der eigenen individuellen und systemischen Störungen. Im Umkehrschluss werden an den Indexpatienten unrealistische Hoffnungen auf eine umfassende Heilung des ganzen Familiensystems geknüpft (wenn er nur nicht so, sondern anders wäre…).
So wächst Joffrey mit großen Selbstzweifeln und gleichzeitig in dem unbewussten Glauben auf, dass es allein seine Aufgabe sei, die beiden psychisch kranken und unglücklich verheirateten Eltern stolz und glücklich zu machen sowie deren individuelle Schuldgefühle und Selbstzweifel zu kompensieren, die chronisch machtbesessenen Dynastien der Baratheons und Lennisters zu vereinen, einen Vielvölkerstaat aus historisch verfeindeten Clans zusammenzuhalten, das Reich gegen Armeen magischer Kreaturen zu schützen und noch vieles mehr. In der Pubertät verliert er dann noch seinen Vater und erfährt zu guter Letzt, dass dieser gar nicht sein Vater war und er somit, in der westerosschen Terminologie, ein Bastard ist.
Da kann man schonmal ein bisschen arschig werden.
The Dark Knight: Joker
Der von Heath Ledger gespielte Joker im Film The Dark Knight, dem zweiten Teil der Dark Knight Trilogie, ist mit Sicherheit einer der faszinierendsten Bad Guys der Filmgeschichte. Seine Unberechenbarkeit, sein unbändiger Drang und scheinbar unerschöpflicher Antrieb zu Chaos und Zerstörung werden durch die Wucht ihrer Darstellung geradezu physisch spürbar.
- Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
- Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
- Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
- Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
- Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
- Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Wenn der Joker nun, trotz seiner Persönlichkeitsstörung, auch nur ein Mensch ist, stellt sich unweigerlich die (bei weitem nicht nur) psychologisch höchstinteressante und –relevante Frage: Bad or mad? Wirkt im Verhalten des Jokers ein ursächlich Böses als primäre Antriebskraft, oder ist es trotz allem als pathologisch-paradoxer Versuch zur Erfüllung basaler menschlicher Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Annahme zu verstehen?
Vieles spricht für Letzteres. Während die obengenannten Grundbedürfnisse evolutionsbiologisch nach wie vor essenziell bedeutsam sind, hat ein primärer, nicht der Selbstverteidigung (und damit wieder der eigenen Sicherheit) dienender, Aggressionstrieb keinerlei Nutzen, ist folglich nicht sinnvoll erklärbar. Dagegen liefert die Psychologie mindestens zwei plausible Erklärungen für zunächst völlig irrational und paradox anmutendes destruktiv-aggressives Verhalten:
- Als direkte Reaktion auf eigene Kränkung und Frustration, insofern als die Aggression dazu dient, die eigenen negativen Gefühle im Außen bzw. im Gegenüber unterzubringen um sie nicht selbst aushalten zu müssen
- Als Versuch, in einer als chaotisch und undurchschaubar erlebten Welt, durch Verletzung von Regeln und Normen, Resonanz und Grenzen zu erfahren, in der Hoffnung, dadurch doch noch Orientierung, Halt und somit letztlich Sicherheit zu erleben
Wie dem auch sei, der Joker war einst Opfer und die Opferrolle ist ihm buchstäblich und unwiderruflich ins Gesicht geschrieben. Das erlebte lässt sich nicht verbergen, sondern ist für jedermann jederzeit sichtbar. Worauf er hoffen kann ist allenfalls Mitleid, wahrscheinlicher sind jedoch Ekel und Abscheu. Die Möglichkeit, seine Selbstdarstellung und Position in der Gesellschaft frei zu variieren und selbst zu gestalten ist ihm genommen.
Gut möglich, dass die innere Welt eines so Versehrten sich schließlich aufspaltet in Opfer und (aktiv misshandelnde oder zumindest herablassende und ausgrenzende) Täter. In diesem Fall bleibt die Wahl zwischen dem Ertragen von Schmerz, Scham und Angst oder der Selbstdefinition als Täter, der diese Gefühle anderen zufügt um sie nicht selbst aushalten zu müssen. Diesen Mechanismus, bei dem Gewaltopfer selbst zu Tätern werden, nennt man Identifikation mit dem Aggressor. Der Joker wählt diesen Weg und stilisiert sein eigenes Leid zum Schrecken der Anderen.
Obwohl der Joker damit seine eigene Ausgrenzung aus der Gesellschaft zementiert, bleibt ein unterschwelliger Bindungswunsch doch wahrnehmbar. Deutlich zeigt er sich in der Beziehung zu Batman. Wir dürfen dem Joker glauben, dass er Batman nicht töten will. Tatsächlich findet er Erfüllung (vermutlich nur) im Katz-und-Maus-Spiel mit diesem. Durch sein eigenes abnormes Verhalten sichert er sich dessen volle Aufmerksamkeit und intensive Zuwendung.
Die Regeln und Autoritäten der Gesellschaft konnten den Joker damals nicht vor seinem schrecklichen Schicksal bewahren, weshalb er ihnen zutiefst misstraut, sie verachtet und ihnen ihre Unzulänglichkeit immer wieder beweisen muss. Doch dann ist da Batman, eine neue, größere, stärkere und unmittelbarere Autorität. In ihm bestätigt sich das Versagen der alten Ordnung. An ihn knüpfen sich die Hoffnungen derer, die von dieser enttäuscht wurden. Und so kann auch der Joker seine Faszination für Batman nicht verbergen. Seine Aufmerksamkeit zu erlangen treibt ihn an. Ihn verachtet er nicht, sondern sucht seine Augenhöhe. Von ihm will er gesehen werden, selbst wenn dies Bestrafung bedeutet. Ein Kampf auf Leben und Tod mit Batman ist ihm lieber, als jede erdenkliche Wohltat, als Reichtum und Macht sowieso.
Dahinter steht die Hoffnung, in Batman endlich jemanden gefunden zu haben, der stark genug ist, das Chaos, welches das Leben des Jokers vor langer Zeit so unfassbar grausam heimgesucht hat, in Ordnung zu bringen.
Alfred mag recht haben: Manche Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen. Tatsächlich aber wünschen sie sich verzweifelt, dass spätestens dann endlich jemand auftaucht, der imstande ist, das Feuer zu löschen.
Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!