Joker: Im Kern ein Charakterdrama

Ein Gastbeitrag von M.Sc. Psych. Christiane Attig 
Im Genre der Superheldenfilme existieren gefühlt zwei Lager: zum einen gibt es die quietschbunten, CGI-überladenen, humorgespickten Heldengeschichten wie Guardians of the Galaxy oder The Avengers, die vorrangig im alles überschattenden Marvel Cinematic Universe beheimatet sind. Zum anderen gibt es die dunkleren, psychologischeren, ernsthafteren Streifen, die sich weniger um mit Superkräften ausgestattete Helden drehen, sondern die persönlichen Geschichten und Beweggründe ihrer Protagonist*innen in den Fokus rücken. Christopher Nolans Dark Knight-Trilogie, James Mangolds Logan oder M. Knight Shyamalans Split kann man in letztere Kategorie fassen, die nun mit Todd Phillips‘ Joker einen weiteren Eintrag erhält.
Joker erzählt die Geschichte von Arthur Fleck, der gemeinsam mit seiner Mutter Penny in einem wirtschaftlich schlecht gestellten Stadtteil von Gotham City lebt – die Stadt, die Batman ebenfalls seine Heimat nennt und die dieser immer wieder von Kriminalität, Gewalt und Korruption zu reinigen versucht. In Joker existiert Batman allerdings noch gar nicht, denn dieser Film zeigt uns, wie aus Arthur Fleck der Joker wurde: der Erzfeind Batmans, der offenbar aus reiner Freude heraus wahllos Menschen tötet und dadurch Angst und Chaos in Gotham verbreitet. 
Die Darstellung dieser Entwicklung verfügt anscheinend über eine gewisse Brisanz, denn über wenige Filme wurde in den letzten Jahren intensiver sowohl im deutschen und internationalen Feuilleton als auch in der Filmpodcast-Landschaft diskutiert. Kritische Stimmen werfen dem Drehbuch Ideenlosigkeit und Stigmatisierung psychisch kranker Personen vor. Wohlwollende Stimmen sprechen von gelungener Kritik am kapitalistischen System und einer rührenden Darstellung des Protagonisten, die seine Entwicklung nachvollziehbar macht. Aus der Perspektive der Klinischen Psychologie ist die Entwicklung Arthur Flecks hin zum Joker aber vor allem eines: realistisch. Und vielleicht ist gerade das der Punkt, weswegen die Entwicklung wie „Küchenpsychologie“ wirkt. Achtung: ab hier wird massiv gespoilert! 
In der ersten Szene des Films sehen wir Arthur, der sich für seinen Job vorbereitet: er schminkt sich zum Clown, um in den Straßen Gothams Werbeschilder zu halten und so die Bewohner der Stadt zum Konsum anzuregen. Gleichzeitig erfahren wir durch die Nachrichten, die im Hintergrund laufen, dass sich der Müll in den Straßen der Stadt türmt. Die Regierung spart an den falschen Stellen, die Reichen stecken sich immer mehr Geld in die eigenen Taschen und die soziale Schere klafft immer weiter auseinander. Doch das Leben an der Armutsgrenze ist nicht Arthurs einziges Problem: neben seiner neurologischen Störung, die in Stresssituationen ein Tic-artiges unwillkürliches und ununterdrückbares Lachen hervorruft, leidet er außerdem an Depressionen (und möglicherweise weiteren Störungen wie der Borderline-Persönlichkeitsstörung). Als er von seiner Therapeutin erfährt, dass die finanziellen Mittel sowohl für seine Gesprächs- als auch Pharmakotherapie gestrichen werden, gesteht er ihr, dass es ihm nicht nur schlecht ginge, nein: er habe ausschließlich negative Gedanken. Während er diese jedoch bisher relativ gut im Griff hatte, beginnen diese ihn nach dem erzwungenen Absetzen seiner Psychopharmaka und Psychotherapie zu übermannen. Die soziale Zurückweisung und das Mobbing, das er im Grunde (abgesehen von seiner Mutter und einem seiner Arbeitskollegen) von jeder Person in seinem Umfeld erfährt, kann nicht mehr abgefedert werden und entlädt sich in mörderischen Wutanfällen. Seine ersten Opfer sind mobbende Wallstreet-Yuppies. Ein Dreifachmord im Affekt, der negativ verstärkt wird: die Täter sind tot, die Schmerzen verschwunden.
Im späteren Verlauf des Films erfahren wir mit Arthur, worin seine neurologische Störung und seine psychischen Probleme begründet sind. Einer der früheren Partner seiner Mutter misshandelte Arthur als er ein Kind war, und fügte ihm dabei eine schwere Kopfverletzung zu – ein Trauma, das Arthur bis zur Gegenwart verdrängt hatte. Außerdem war seine Mutter Penny in der Vergangenheit wegen eigener psychischer Störungen in Gothams berühmter psychiatrischen Klinik, dem Arkham Asylum, untergebracht; hier wird eine familiäre Vorbelastung angedeutet. Doch das ist nicht alles: Jahrzehntelang belog Penny ihn bezüglich seiner Herkunft. Arthur, der ohnehin Bindungsprobleme aufweist, fühlt sich letztlich von der einzigen Person, von der er sich geliebt fühlte, verraten. Die Abwärtsspirale, die schon in vollem Gange ist, wird dadurch weiter angeheizt: suizidale Tendenzen und Rachegedanken manifestieren sich immer stärker und gipfeln in der Ermordung seines Idols vor laufenden Kameras. Ein Mord, der eine einzige Inszenierung ist. Ein Mord, der als politisches Zeichen instrumentalisiert wird. Ein Mord, für den Arthur positive Verstärkung in Form von Bewunderung und Glorifizierung erhält. Arthur ist tot, lang lebe der Joker. 
Was wir hier über zwei Stunden zu Gesicht bekommen, ist eine prototypische Illustration des Vulnerabilitäts-Stress-Modells zur Entstehung psychischer Störungen. Dieses besagt, dass zur Entwicklung solcher Störungen eine angeborene oder erworbene Vulnerabilität die Stressverarbeitungsressourcen des Individuums dauerhaft verringern. Erlebt das Individuum später akute Stressoren, die die Coping-Ressourcen übersteigen ohne dass schützende Resilienzfaktoren vorhanden sind, dann kommt es zur Manifestation der Störung. Arthur ist von Kindesbeinen an beeinträchtigt: er kommt aus wirtschaftlich unsicheren Verhältnissen, lebt mit einer psychisch beeinträchtigten Mutter, erlebt Kindesmisshandlungen und erwirbt dadurch eine Behinderung, die ihn sozial ausgrenzt. All das hat vermutlich zur Entstehung der Depression beigetragen. Dank Psychopharmaka und Psychotherapie schafft er es jedoch, ein relativ geordnetes Leben zu führen. Als diese Ressourcen wegfallen, sinkt seine Stressverarbeitungskapazität jedoch wieder. Psychische und körperliche Gewalt, Einsamkeit und Wut können nicht mehr adäquat verarbeitet werden und Arthur wird zum Joker.
Joker zeigt somit eine nachvollziehbare und psychologisch plausible Entwicklung seines Protagonisten, mit der die Zuschauenden mitfühlen können. Arthur ist Opfer seiner Umstände: seines sozialen Umfelds, seiner Behinderung, des Wirtschaftssystems, der Regierung. All das ist eine Erklärung, nicht jedoch eine Entschuldigung: Die Verantwortung für seine Taten bleibt stets einzig bei Arthur. Die Verantwortung für den Weg dorthin aber nicht nur. So klagt der Film auch ganz Gotham an, insbesondere die, die die Fäden der kapitalistischen Stadt in der Hand halten, wie die Familie Wayne. Und das bedient letztlich das allgemeine Narrativ der Batman-Geschichte: Gotham bringt den Joker hervor, der Joker und Batman bedingen sich gegenseitig. Sie sind zwei Seiten derselben Münze.  
„Madness, as you know, is like gravity. All it takes is a little push”, das sagte schon der von Heath Ledger verkörperte Joker in The Dark Knight. Dass dieser Joker, der durch eine dissoziale Persönlichkeitsstörung charakterisiert ist, die logische Fortführung der neuen, von Joaquin Phoenix verkörperten Joker-Iteration sein könnte, ist durchaus denkbar. Einige Einstellungen aus Todd Phillips‘ Film sind sogar offensichtliche Hommagen an The Dark Knight. So kann die Jokergenese über Filme und Inszenierungen hinweg weitergedacht werden. 
Vielleicht ist Joker für manche Menschen zu viel Erklärung. Vielleicht ist manchen Menschen ein mysteriöser Joker lieber. Einer, von dem man überhaupt nicht weiß, warum er so agiert wie er es tut. Einer, von dem man behaupten kann, dass er nun mal einfach „irre“ sei. Joker zeigt aber durch die Nachvollziehbarkeit: Arthur wurde nicht böse geboren. Das Böse gibt es nicht. Jeder Mensch trägt das Potenzial zu bösen Handlungen in sich. Und letztlich sind wir alle verantwortlich dafür, dass nicht das Böse Überhand gewinnt, sondern Solidarität, Mitgefühl und Verständnis, füreinander und sich selbst.
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Mindhunter

Als mir vor einigen Monaten ein Leser die Netflix-Serie Mindhunter empfahl, hatte ich nur den Trailer gesehen und erst einmal Desinteresse bekundet, da mir das ganze schien, wie die typische „FBI jagt durchgeknallten Psychokiller“-Geschichte. Das Problem mit dieser Art von Geschichten ist die so oberflächliche wie unhinterfragte Gleichsetzung von „Psycho“ (also dem Hinweis auf psychische Krankheit) und „Killer“ (also Kriminalität). 

Dahinter verbirgt sich ein gesellschaftlicher Abwehrmechanismus, der alles was zu unangenehm ist, gerne in den Bereich des pathologischen abschiebt, wie eben auch den Gedanken, dass dieses Unangenehme etwas mit uns selbst zu tun haben könnte. Wenn ein unvorstellbar brutales Verbrechen geschieht, ist der Gedanke, dass so etwas jederzeit und überall durch einen nach Außen hin unauffälligen Mitmenschen geschehen könnte, schwerer zu ertragen, als das Narrativ vom durch und durch gestörten „Psychopathen“, denn letzterer ist wenigstens selten und verkehrt irgendwo, aber sicher nicht in unserem näheren Umfeld. Der „Psychopath“ ist von Grund auf so gestört, dass ihn mit uns selbst scheinbar gar nichts mehr verbindet, so dass sich auch die Fragen nach gesellschaftlichen Ursachen für kriminelles oder sonstwie abweichendes Verhalten und nach Präventionsmöglichkeiten nicht stellen. 
Diese Fragen sind anstrengend. Erstens, weil sie komplex und schwierig zu beantworten sind und zweitens, weil die Antworten, die ggf. doch gefunden werden, mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun haben, die ihrerseits noch anstrengender sein könnten. Deshalb ist neben dem „Psychopathen“ auch der „islamistische Terrorist“ als Täter beliebt, weil er – völlig fanatisch und verwirrt – ebenso außerhalb unserer Alltagswelt zu stehen scheint. 
Dieser Abwehrmechanismus nennt sich Projektion: Gefühle oder Fakten, die für uns unangenehm sind, weil sie mit unserem persönlichen oder gesellschaftlichen Selbstverständnis schwer vereinbar wären, werden auf andere projiziert, also diesen zugeschrieben. Diejenigen werden dann möglichst weit ausgegrenzt um mit der Distanz zu ihnen auch Distanz zu den unangenehmen Gefühlen und Gedanken herzustellen und uns selbst wieder sicher sein zu können, das mit uns selbst alles in bester Ordnung ist: „Gewalt und Sexismus sind das Problem junger Zuwanderer – deshalb gehören die ja auch nicht hierher. Frauen, die von treusorgenden Familienvätern vergewaltigt werden, waren früher Hexen und mussten verbrannt werden – heute sind sie zumindest ein bisschen selbst schuld, also Schlampen, und müssen mindestens solange geächtet werden, wie sie zu kurze Röcke tragen. Donald Trump ist halt ein Narzisst, wenn er abgewählt oder impeacht wird, ist alles wieder gut.“ Usw., usf.

Der junge Agent Holden Ford ist da schon weiter und stellt sich die Frage, was es über eine Gesellschaft aussagt, wenn sie immer mehr grausame Serienmörder hervorbringt. Er erkennt, wie sehr die eindimensionale, von Projektionen und Rationalisierungen („weil nicht sein kann, was nicht sein darf“) überlagerte Sichtweise auf bestimmte, von irrationalen Motiven getriebene Serienverbecher, der Aufklärung der Verbrechen im Wege steht. Indem er scheinbare Gewissheiten infrage stellt und sich für unkonventionelle Ideen und andere Disziplinen jenseits der zeitgenössischen Kriminologie öffnet, gelangt er zu Erkenntnissen, die uns heute selbstverständlich scheinen, aber in Wahrheit noch nicht einmal das sind (s.o.). In seinem spezifischen Forschungsgebiet lautet diese Erkenntnis: Verbrecher werden nicht geboren, sie werden gemacht! Allgemeiner formuliert: Jede individuelle Variante menschlichen Seins, Empfindens und Verhaltens ist das Ergebnis einer spezifischen Kombination aus genetischen, epigenetischen, psychologischen und sozialen (von familiären bis gesamtgesellschaftlichen) Faktoren.
Folglich entstehen auch psychische Störungen – wie z.B. die dissoziale Persönlichkeitsstörung, von welcher einige der in Mindhunter interviewten Mörder betroffen sind – durch das Zusammenwirken genetischer und epigenetischer Veranlagungen – welche die Entwicklung einer bestimmten Störung zwar wahrscheinlicher machen, aber noch nicht bedingten – mit sozialen Faktoren, wie z.B. Vernachlässigung, Missbrauch oder Misshandlung. Dieses Zusammenspiel wird im sogenannten Diathese-Stress-Modell (auch Vulnerabilitäts-Stress-Modell) beschrieben. Mit diesem Modell kann man sich die Entwicklung einer Krankheit etwa wie eine Treppe vorstellen, an derem oberen Ende der Ausbruch der Krankheit steht. Die durch genetische und epigenetische Faktoren bedingte Veranlagung (Diathese) bestimmt sozusagen das Ausgangsniveau. Wer bspw. mit einer hohen erblichen Vorbelastung geboren wird, befindet sich bereits zu Beginn einige Stufen weiter oben. Nun kommen im Laufe des Lebens weitere pathogene (krankheitsfördernde) Faktoren (sog. Stressoren) hinzu, z.B. Vernachlässigung, Missbrauch, Misshandlung, oder in anderen Kontexten auch ein ungesunder Lebensstil, Umweltgifte etc., welche die betroffene Person jeweils weitere Treppenstufen nach oben steigen lassen. Werden auf diese Weise im Laufe der Zeit durch Diathese und Stressoren insgesamt genug – bzw. zu viele – Stufen erklommen, wird also der kritische Schwellenwert für die jeweilige Erkrankung erreich, kommt diese zum Ausbruch. 
Auf diese Weise lässt sich erklären, dass ähnliche Lebenserfahrungen bei einer Person z.B. zur Ausbildung einer dissozialen Persönlichkeitsstörung führen, bei der anderen nicht. Aber auch, dass Menschen mit ähnlicher genetischer Veranlagung (z.B. Geschwister oder gar Zwillinge) sich psychisch und gesundheitlich ganz unterschiedlich entwickeln können. Die große Erkenntnis Holden Fords, die auch für die Psychotherapie und die Präventionsarbeit, ob im Gesundheits- oder Kriminalitätsbereich, sowie wahrscheinlich für die meisten anderen Felder der Beschäftigung mit Menschen, gilt, ist, dass es der sorgfältigen, differenzierten und unvoreingenommenen Betrachtung des einzelnen Individuums bedarf, um wirklich zu verstehen. Offenbar trifft das manchmal auch auf Fernsehserien zu. Ich muss also Abbitte leisten. Mindhunter ist spannend und befriedigt unser Bedürfnis nach Thrill durch die Konfrontation mit dem Grausamen und Bösen – macht dabei aber gerade nicht den Fehler, dieses zu trivialisieren und in den Bereich des im wörtlichen Sinne „un-menschlichen“ zu verdrängen. 

Mehr zu Mindhunter gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!
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Haus des Geldes

Der aus Spanien stammende Netflix-Hit Haus des Geldes setzt mehr auf Spannung und Action, als auf psychologische Tiefe. Trotzdem tummeln sich unter den roten Kapuzen und Dali-Masken einige interessante Charaktere.
Da ist zunächst mal die Ich-Erzählerin Tokio, eine wilde, impulsive Frau, die, wie sie selbst sagt, nichts mehr zu verlieren hat – über die wir allerdings schnell erfahren, dass sie sich auch zuvor schon bereitwillig in gefährliche Situationen begeben hat. Dieser Wagemut, die Risikobereitschaft, die Tokio gefährliche Situationen nicht nur in Kauf nehmen, sondern regelrecht aufsuchen lässt, zeichnen Tokio vor allem anderen aus. Psychologen nennen diesen Charakterzug Sensation Seeking. Das ist keine psychische Störung, sondern einfach nur eine Verhaltenstendenz, die bei manchen Menschen stärker ausgeprägt ist, als bei anderen.
Sensation Seeking ist als die Kombination von vier Motiven bzw. Eigenschaften definiert:
  • Suche nach Spannung und Abenteuer durch riskante Aktivitäten wie z. B. Extremsport, schnelles Fahren oder auch Banküberfälle
  • Suche nach neuartigen, ungewohnten Erfahrungen, z.B. Reisen in ferne Länder, exotisches Essen oder auch sich von einem völlig Fremden für einen absurd riskanten Coup rekrutieren zu lassen
  • Tendenz zur Enthemmung, z. B. impulsives, unüberlegtes aggressives oder sexuelles Verhalten
  • Unfähigkeit, Monotonie oder Langeweile auszuhalten, z.B. statt erstmal unterzutauchen, mit dem Motorrad mitten durch ein schwer bewaffnetes Polizeiaufgebot zu rasen, nur um wieder dort mittendrin zu sein, wo die Musik spielt
Tokio hat ganz sicher ein sehr ausgeprägtes Sensation Seeking-Motiv. Vielleicht kommt das auch daher, dass sie als Kind viel zu Hause alleine war. Gefühle von Einsamkeit und vielleicht auch Sorge um ihre Mutter musste sie irgendwie aushalten, ohne Zuwendung oder die Möglichkeit sich mitzuteilen. Möglicherweise kann sie daher die bewusste Wahrnehmung ihrer Gefühle nicht so gut aushalten und muss für ständige Ablenkung durch Action sorgen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob Tokios Verhalten so maladaptiv (d.h. ineffizient im Bezug auf dauerhafte Erfüllung ihrer Bedürfnisse bzw. sozialer Anforderungen) oder destruktiv ist, dass es als krankhaft einzuordnen wäre. Die pathologische Ausprägung des impulsiven, risikohaften und potentiell auch aggressiven Verhaltens Tokios wird als emotional instabile Persönlichkeitsstörung vom impulsiven Typ (ICD-10: F60.30) bezeichnet. Für diese Diagnose müssen mindestens drei der folgenden Verhaltensweisen zeitstabil und situationsübergreifend auftreten:
  • Deutliche Tendenz, unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten mit anderen, vor allem dann, wenn impulsive Handlungen unterbunden oder getadelt werden
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Schwierigkeiten in der Beibehaltung von Handlungen, die nicht unmittelbar belohnt werden
  • Unbeständige und launische Stimmung
Tokio erfüllt diese Kriterien überwiegend, was darauf hindeutet, dass sie nicht einfach nur ein Mensch ist, der intensive emotionale Erlebnisse und spannenden, neuartige Erfahrungen sucht, sondern dass ihre Impulsivität potentiell schädlich für sie und andere ist und eigentlich behandelt werden sollte. Tatsächlich bringt sie sowohl sich, als auch andere immer wieder in akute Lebensgefahr und riskiert mehrfach das Scheitern des Plans, indem sie impulsiv oder aus schlichter Langeweile gegen Regeln und Absprachen verstößt.
Ganz anders Moskau. Sein Sensation Seeking-Motiv ist, ganz im Gegensatz zu Tokios, recht gering ausgeprägt – zumindest für einen Kriminellen (einen gewissen Nervenkitzel scheint er schon auch zu schätzen zu wissen, sonst hätte er wohl nicht vom Minenarbeiter zum Safeknacker umgeschult). Eigentlich ist ihm der ganz Stress des Überfalls und der Geiselnahme zu viel, er möchte einfach nur, dass alles ungestört über die Bühne geht und er sich endlich zur Ruhe setzen kann, in dem beruhigenden Wissen, dass auch für seinen Sohn gesorgt ist. Auf Stress reagiert Moskau, wie auch zuvor schon auf die Enge in der Mine, mit Beklemmung, Atemnot, Herzrasen und Schwindel, die bis zur Ohnmacht gehen können. Kurz gesagt: Moskau hat Panikattacken. Hat ein Mensch wiederholt Panikattacken, auch ohne konkret nachvollziehbaren äußeren Auslöser, spricht man von einer Panikstörung (ICD-10: F41.0). Eine Panikattacke ist dabei definiert als einzelne Episode von intensiver Angst, die abrupt beginnt, innerhalb weniger Minuten ein Maximum erreicht, mindestens einige Minuten dauert und von Symptomen wie Herzrasen, Schweißausbrüche, Schwindel, Zittern, Mundtrockenheit, der Angst zu ersticken oder an einem Herzinfarkt zu sterben begleitet wird.
Herzensangelegenheiten, allerdings ganz anderer Art, stellen auch Monikas Problem dar. Sie verliebt sich in einen ihrer Geiselnehmer und erlebt somit die als Stockholm-Syndrom bekannt gewordenen, eigentlich paradoxen Gefühle (Es gibt übrigens noch eine Reihe weiterer Stadt-Syndrome: Hier eine amüsante, nicht ganz ernst zu nehmende Liste).
Das Stockholm-Syndrom wird v.a. damit erklärt, dass für Geiseln die Situation innerhalb der Geiselnahme so intensiv und bedrohlich ist, dass sich die Wahrnehmung voll und ganz auf diesen Kontext fokussiert. Dass außerhalb andere Regeln, Normen und Gewissheiten gelten, gerät in den Hintergrund. Auf dieser Basis können kleine Zuwendungen oder Vergünstigungen der Geiselnehmer eine relevante Verbesserung der Situation der Geisel bewirken, so dass diese Gefühle von Entlastung, Trost und in der Folge auch Dankbarkeit und ggf. sogar Liebe empfinden kann. Die Situation ist ein wenig vergleichbar mit der von Kindern, die auf das Wohlwollen ihrer Eltern in ebenso hohem, existenziellem Maße angewiesen sind und daher eine annähernd unverbrüchliche Liebe und Loyalität gegenüber den Eltern aufweisen, selbst wenn diese eigentlich unzulänglich, vernachlässigend oder gar misshandelnd sind. Wer vom Stockholm-Syndrom betroffen ist, empfindet also für einen gewissen Zeitraum von ihr/ihm als echt erlebte intensiv positive Gefühle von Zuneigung und Liebe. Darin unterscheiden sich Monikas von ihr als real empfundene Liebesgefühle gegenüber Denver von Ariadna, die Berlin ihre Liebe nur vorspielt, als bewusste Überlebensstrategie. Dabei ist es gerade Berlin, dessen Verhalten perfekt auf Entstehung solcher Gefühle abgestimmt ist, indem er einerseits seine absolute Macht gegenüber den Geiseln betont, dann aber mit Zuwendung und gespielter Empathie dazu einlädt, sich auf ihn zu verlassen und ihn als eine Art Retter oder Beschützer wahrzunehmen.
An Berlin scheiden sich ohnehin die Geister. In der Serie wird er in einem psychiatrischen Gutachten wie folgt beschrieben: „Ein Egozentrischer Narzisst der an Größenwahn leidet. Ein Exzentriker mit Tendenz zur Megalomanie, was ihn daran hindert, gut und böse zu unterscheiden. Seine Selbstliebe ist extrem und von da her ist es ihm ein großes Anliegen überall einen guten Eindruck zu machen, besonders bei Unbekannten“.
In dieser Beschreibung finden sich drei psychiatrische Buzzwords: Narzissmus, Größenwahn/Megalomanie und Dissozialität (Fehlende bzw. abweichende Gut/Böse-Differenzierung).
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach ICD-10 (F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Berlin hält zwar seine Rolle im Plan des Professors, nicht aber seine Person grundsätzlich für wichtiger oder einzigartiger als alle anderen – im Gegenteil, er ordnet sich sogar seinem kleinen Bruder unter und überlässt diesem die große Bühne. Bewunderung und bevorzugte Behandlung sind im nicht übermäßig wichtig und er kann mit Menschen jeden Status´ vernünftig interagieren – solange sie ich an seine Regeln halten. Seine Liebe zu Ariadna hat natürlich etwas übertriebene Züge vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihn nicht liebt, aber ob das eine grundsätzliche Eigenschaft Berlins ist, lässt sich nicht erkennen. Seine offenbar massive Gekränktheit von Frauen im Allgemeinen, könnte jedoch auf enttäuschte narzisstische Erwartungen hinweisen. Er scheint nicht besonders mit dem Thema Neid befasst zu sein. Eine arrogante Grundhaltung lässt sich hingegen durchaus erkennen. Da wir Berlin fast nur während des Überfalls beobachten können, wo er die Rolle des harten Anführers und Geiselnehmers zu erfüllen hat, lässt sich nicht abschließend beurteilen, inwieweit die Züge, welche narzisstisch anmuten, Bestandteil seiner wahren Persönlichkeit sind und die Frage muss offen bleiben.
Unabhängig davon, lässt sich die Frage nach dem möglichen Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung stellen. Diese Diagnose ist nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Hier scheint das Bild deutlich klarer. Berlin gelingt es kaum, ernsthaft Mitgefühl mit anderen zu haben. Selbst seinem Bruder, welchen er aufrichtig zu lieben scheint, gesteht er kaum Emotionen zu, welche den Plan gefährden könnten. Berlin ist Berufsverbrecher, was zwar kein zwingender Beleg für das Vorliegen einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ist, aber durchaus als Hinweis auf eine grundsätzliche Tendenz zur Missachtung (die er darüber hinaus auch im alltäglichen Miteinander zeigt) und Probleme mit dem Lernen aus Sanktionen gesehen werden kann. Seine Hemmschwelle für aggressives Verhalten ist gering, er verstrickt sich permanent in Machtkämpfe und andere Konflikte und schreckt dann auch vor Mord nicht zurück, wofür er aber in der Regel wortgewandte und ausschweifende Rechtfertigungen findet. Die meisten dieser Verhaltensweisen können kaum Teil des Plans bzw. seiner Rolle darin sein, was darauf hinweist, dass es eher grundsätzliche, situationsunabhängige Verhaltenstendenzen sind, was das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung wahrscheinlicher macht.
Bleibt noch der Größenwahn, die Megalomanie. Wahn ist ein psychiatrisches Symptom, das im Rahmen verschiedener psychischer Störungen vorkommen kann, v.a. Schizophrenien. Das Besondere an Wahn ist, dass die Realitätswahrnehmung gravierend gestört ist. Im Falle von Größenwahn würde das bedeuten, dass die/der Betroffene nicht einfach nur arrogant ist oder seine Attraktivität oder bestimmte Fähigkeiten überschätzt, sondern dass die Wahrnehmung der eigenen Bedeutung in eindeutigem Widerspruch zu objektiven Fakten steht. Zum Beispiel könnte sich jemand, der unter Größenwahn leidet, einbilden, eine bedeutsame historische Person (z.B. Jesus oder Napoleon) zu sein, magische Fähigkeiten zu haben, oder der Grund für das Verhalten prominenter Personen oder gesellschaftlicher Gruppen zu sein. Insofern müssen wir über dieses Symptom bei Berlin nicht weiter reden. Hier liegt die fiktive Gerichtspsychiatrie falsch.
Insgesamt lässt sich also bei Berlin am wahrscheinlichsten von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung ausgehen. Dennoch bin ich grundsätzlich unschlüssig, inwieweit sein Verhalten habituell ist oder eher Teil einer von ihm und dem Professor ausgeklügelten Strategie zur möglichst effizienten Manipulation der Geiseln und vor allem auch der anderen Geiselnehmer*innen.
Wir werden es leider nie erfahren. 

* Mehr zu Haus des Geldes gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast
 

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Gone Girl: Amy



Die bisher drei Romane der amerikanischen Autorin Gillian Flynn sind allesamt nicht nur spannend, sondern zeichnen sich durch eine außerordentliche und zumindest im Thriller-Genre beklagenswert seltene psychologische Tiefe und ein starkes Gespür für den Facettenreichtum und die Ambivalenzen menschlichen Denkens und Fühlens aus.

Die Romanverfilmung Gone Girl – Das perfekte Opfer erreicht zwar nicht den Tiefgang des Buches, ist aber dennoch sehenswert. Vor allem wegen der schillernden Hauptfigur Amy Elliott Dunne. 
Dass diese sich psychisch deutlich außerhalb der Norm bewegt, wird im Lauf des Films zunehmend überdeutlich. Wie in vielen amerikanischen Filmen wird auch in Bezug auf Amy und ihr manipulativ-kriminelles Verhalten der Begriff Soziopathin verwendet. Soziopath bezeichnet ursprünglich einen Menschen, der kein wirkliches Mitgefühl (Empathie) mit anderen Menschen hat und sich daher nicht sozial, sondern antisozial-egoistisch verhält.
In der Psychiatrie ist Soziopathie ein veralteter und wegen seiner Unschärfe und hohen stigmatisierenden Wirkung inzwischen nicht mehr gebräuchlicher Begriff für das Syndrom der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Diese Diagnose ist nach der modernen internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.2) zu vergeben, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien zeitstabil und situationsübergreifend vorliegen:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Amy scheint zwar im intuitiven Nachvollziehen, bzw. Antizipieren der Gefühle und Reaktionen anderer ausgesprochen gut zu sein. Empathie, im Sinne eines tatsächlichen, eigenen Nachempfindens des Gefühls, scheint ihr jedoch eher fremd. Damit fehlt ihr die emotionale Basis um Mitgefühl mit ihren Opfern zu haben oder denen vergeben zu können, die ihr vermeintlich Unrecht getan haben.
Eine verantwortungslose Haltung kann man der bestens organisierten und sich ständig selbst reflektierenden Amy eigentlich nicht unterstellen. Auch zeigt sie sich an der Oberfläche durchaus an sozialen Normen orientiert, legt großen Wert auf eine makellose Außenwirkung. Unter der Oberfläche zeigt sich dann aber doch eine umfassende Verachtung gegenüber gesellschaftlichen Normen und die Gewissheit, über diesen zu stehen, so dass Lügen, Betrug und selbst Mord legitime Mittel zur Durchsetzung der eigenen Bedürfnisse sind.
Dauerhafte, befriedigende Beziehungen zu führen, ist für die meisten Menschen eine Herausforderung. Dies wird in Gone Girl ausführlich thematisiert, auch aus der Sicht von Amys Ehemann Nick. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, dass beide Partner sich persönlich ständig entwickeln und damit verändern, so dass die gemeinsame Beziehung, deren Selbstverständnis und Normen, immer wieder überprüft und angepasst werden müssen. Dies ist genau der Punkt, an dem Amy in ihren Beziehungen immer wieder scheitert: Sie möchte genau den Partner, den sie sich am Anfang vorgestellt und aufgrund ihre Vorstellung ausgewählt hat. Abweichungen von ihren Ansprüchen kann sie nicht tolerieren und versucht sie mittels Druck und Manipulation zu unterbinden. Wahrscheinlich liegt hier das Kernproblem von Amys auffallend gestörtem Beziehungsverhalten. Hier gerät Amy immer wieder an den Scheideweg zwischen einem einfach nur selbstbezogenen und wenig empathischen Menschen und einer eiskalt manipulativen „Soziopathin“. Dabei spricht vieles dafür, dass Amy einfach nur das Beziehungsmuster reinszeniert, welches ihr am besten vertraut ist. Ihre Eltern haben ihr gegenüber nie offen Kritik geäußert, ihr aber ihr ganzes Leben lang Kinderbücher über Amazing Amy, die eigentlich perfekte Tochter, vorgesetzt. Hinter der oberflächlichen Akzeptanz und Zuneigung, machten Amys Eltern ihr indirekt ununterbrochen deutlich, dass sie nicht amazing war und das es auch besser ginge, indem Amazing Amy im jeweils neuen Kinderbuch immer genau die Herausforderung bravourös meisterte, mit der die echte Amy gerade zu kämpfen hatte. Wie sich ihre echte Tochter dabei fühlen mag, scheint den Eltern entweder nicht bewusst (Empathiestörung?) oder egal gewesen zu sein. Hier scheint der Grundstein für Amys Beziehungsmuster aus überhöhten und unflexiblen Ansprüchen und unempathischer Manipulation zu liegen. Folglich dienen auch alle noch so dissozialen und kriminellen Handlungen Amys letztlich nur einem Ziel: Die Amazing Amy mit dem perfekten Leben zu sein – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung.
Eine geringe Schwelle für aggressives Verhalten dürfen wir Amy durchaus attestieren: Ihre Reaktionen auf eher normale Beziehungsprobleme fallen doch ungewöhnlich drastisch aus. Allerdings sind ihre aggressiven Reaktionen nicht impulsiv, sondern sorgfältig von langer Hand vorbereitet, was zwar für dissoziale Persönlichkeitsstörungen eher untypisch, aber keine Ausschlusskriterium ist.
Und schließlich passt auch Amys Umgang mit Schuld ins Bild: Für jede ihrer Taten hat sie eine scheinbar logische Begründung parat, die jeder Verantwortung dem anderen zuschreibt und Amys Verhalten als nachvollziehbare, fast schon alternativlose Reaktion erscheinen lässt. Somit dürfen wir Amy mit einiger Gewissheit die Diagnose dissoziale Persönlichkeitsstörung geben, wenngleich einzelne Aspekte nicht ins typische Bild passen.
Viel interessanter als Amys Verbrechen (Wer hat im Kino nicht schon Schlimmeres gesehen?) sind die Fragen, die Amys und Nicks Reflektionen in Gone Girl stellen und die auch für unsere „normalen“ Paarbeziehungen gelten:
Wie viel Raum geben wir dem Partner, sich abweichend von unseren Wünschen und Vorstellungen zu entwickeln?
Wie sehr sind wir bereit uns für unseren Partner wirklich zu verändern?
Wie ehrlich sind wir wirklich?
Wie viel Ehrlichkeit können wir von unserem Partner ertragen?
Oder, wie Nick Dunne fragt:
Woran denkst du?
Wer bist du?
Was haben wir einander angetan?
Was werden wir noch tun?

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Sons of Anarchy: Jax und die Sons



Die über sieben Staffeln erzählte Geschichte der Sons of Anarchy ist eine Geschichte von Treue und Verrat, Loyalität und Rivalität, Liebe und Verlust. Zentrale Themen des menschlichen Seins also.

Schon Kleinkinder lernen, dass der Mensch Nähe und Bindung zu anderen Menschen braucht um zu überleben – physisch und emotional. Erst das Gefühl von Geborgenheit, Sicherheit und Liebenswürdigkeit durch Eltern und andere wichtige Bindungspersonen bildet die Basis für Selbstvertrauen, Stolz, Neugier und Mut. Das Wechselspiel von Entdeckung, Entwicklung, Leistung und Risiko auf der einen, Bindung, Sicherheit und Geborgenheit auf der anderen Seite, bestimmt das Leben.
Wie viel Rückversicherung durch Bindungspersonen ein erwachsener Mensch braucht, hängt maßgeblich von seinen frühen Bindungserfahrungen im Kindesalter ab. Sind die frühen Bindungen verlässlich, beschützend und wertschätzend, ermöglichen sie dem späteren Erwachsenen, sich auf der Grundlage einer inneren sicheren Basis im Leben voranzubewegen, flexible, gleichberechtigte Bindungen einzugehen und insgesamt ein gesundes Gleichgewicht zwischen Bindung und Individualität, zwischen Nähe und Distanz, zu leben. Je unsicherer oder negativer jedoch die frühen Bindungserfahrungen sind, umso mehr kann sich ein Mensch in einem ständigen Nähe-Distanz-Konflikt befinden, sprich: Sich einsam fühlen, wenn keine starke Bindungsperson verfügbar ist, sich aber gleichzeitig von zu großer Nähe bedroht und erdrückt fühlen.
Viele der Outlaws in Sons of Anarchy scheinen sich in einem latenten Nähe-Distanz-Konflikt zu befinden. An der Oberfläche lehnen sie Verbindlichkeiten, feste Beziehungen und einen Platz in der durch Normen definierten bürgerlichen Gesellschaft ab, predigen Anarchie, persönliche Freiheit und Außenseitertum. Vermutlich haben viele von ihnen eher ungute und instabile frühe Beziehungserfahrungen gemacht, so wie zum Beispiel Jax, der seinen Vater und Bruder verlor, dessen Stiefvater ein Gewaltverbrecher und dessen Mutter eine egozentrische und möglicherweise psychisch kranke Frau war.
Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die Outlaws der Sons of Anarchy ein geradezu übergroßes Bedürfnis nach Bindung und Nähe haben, was sich in der scheinbar endlosen, gänzlich unkritischen und unentwegt beschworenen Treue und Liebe zum Club und zur Familie (was für viele dasselbe ist) ausdrückt.
Der berühmte Psychoanalytiker Donald W. Winnicott* hat erkannt, dass hinter dissozialem, also regelverletzendem bzw. kriminellem Verhalten, häufig eine Hoffnung auf Bindung und Nähe – und sei es in Form von Strafe – steht.
So erscheinen uns die Söhne der Anarchie, aus einem psychologischen Blickwinkel betrachtet, als ehemals unsichere und im Stich gelassene Kinder, welche die dem menschlichen Leben immanente latente Spannung zwischen den einander entgegengesetzten Bedürfnissen nach Nähe und Distanz nicht aushalten und moderat in Form reifer, differenzierter Beziehungen lösen können. 
So gibt es nur bedingungslose Liebe oder grenzenlosen Hass. Selbstaufgabe oder Anarchie. 
Nähe bedeutet Unterwerfung, Distanz bedeutet Tod. 
Gotta live this life `till you die
*Winnicott, D.W. (2015). Aggression: Versagen der Umwelt und Antisoziale Tendenz. Klett-Cotta, 6.dt. Auflage.

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Breaking Bad: Jesse



Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.

Jesse stammt aus guten, fast schon wohlhabend zu nennenden, Verhältnissen. Seine Eltern leben in einem ansehnlichen Vorstadthaus, sind offenbar gebildet und musisch interessiert und scheinen großen Wert auf die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu legen. Jesse wächst zunächst als Einzelkind auf, sein einziger Bruder Jake ist deutlich jünger als er. Während die Eltern auf Jake große Stücke halten und er offenbar überwiegend in der Lage ist, ihre hohen Anforderungen an Leistung und Auftreten zu erfüllen, wird immer wieder deutlich, dass Jesse in den Augen seiner Eltern eine einzige Enttäuschung darstellt und auch schon in seiner Kindheit dargestellt hat. Wir erfahren von schlechten Schulleistungen und frühen Drogenvergehen.
Die Wurzel der beiderseits enttäuschenden Eltern-Kind-Beziehung liegt aber wahrscheinlich noch früher, nämlich in der Wechselwirkung von Jesses Neigung zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität und der strengen, enttäuschten und verurteilenden Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten. 
Jesse erfährt, dass er, so wie er ist – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht richtig ist und nicht der Sohn, den sich seine Eltern gewünscht hätten. Für einen Jungen wie Jesse, sind das sterile, auf Anstand, Disziplin und Ordnung ausgerichtete Leben seiner Eltern und deren nüchterne, rationalistische Beziehungsgestaltung schwer zu ertragen. Vielmehr bräuchte er intensive Zuwendung, Zuspruch und Anerkennung für seine Vitalität und das Interesse seiner Eltern an ihm und seinen Stärken. Da ihm all das fehlt, versucht er es immer wieder einzufordern, wofür ihm allerdings wenig andere Mittel zur Verfügung stehen, als immer wieder durch Krawall und Regelverstöße auf sich aufmerksam zu machen, was natürlich zu der gewohnten elterlichen Reaktion führt. Dass Jesse, bei angemessener Förderung, durchaus zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage ist, zeigt die Anekdote über das Holzkästchen welches er unter Anleitung eines wohlwollenden und engagierten Lehrers geschreinert hat. 
Diese negative Wechselwirkung ist, neben Jesses biologischer Disposition, der Grund dafür, dass er ein, bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickelt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird dieses Krankheitsbild als Hyperkinetische Störung bezeichnet. In Jesses Fall liegt die Kombination eines ADHS mit delinquentem (regelverletzendem) Verhalten vor, so dass er die Diagnosekriterien einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) erfüllt.

Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
1. Unaufmerksamkeit
  • Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
  • Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
  • Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
  • Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
2. Hyperaktivität
  • Zappeln mit Händen und Füßen
  • Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
  • Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
3. Impulsivität
  • Unterbrechen oder stören anderer
  • Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
  • Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
Die Störung des Sozialverhaltens kann sich in vielerlei Verhaltensweisen äußern, bei Jesse sind dies vor allem:
  • Hinwegsetzen über Regeln
  • Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
  • Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
  • Wutausbrüche
  • Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
  • Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
  • Einsatz von Waffen
  • Zerstörung fremden Eigentums
  • Diebstahl, Einbruch

Wie viele Jugendliche mit einer ähnlichen Symptomatik gerät Jesse mit der Zeit in einen zweiten Teufelskreis: Während er durch sein lebhaftes und getriebenes Verhalten die erwünschte positive Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen nicht bekommt, erlebt er sich bei seinen ersten Drogenerfahrungen auf einmal ruhig, gelassen und sogar konzentrierter als sonst. Jesses Einstiegsdrogen sind, typischerweise, Cannabis und Amphetamine. Cannabis wird von vielen hyperaktiven Jugendlichen als angenehm beruhigend und entspannend empfunden. Amphetamine, zu denen auch das von Jesse und Walt hergestellte Crystal Meth gehört, kann als leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und anregend erlebt werden. Das Amphetaminderivat Methylphenidat wird wegen dieser Eigenschaften in der Behandlung von ADHS eingesetzt und ist unter dem Handelsnamen Ritalin berühmt geworden. Jesses Drogenmissbrauch (ICD-10: F19.1) ist somit, zumindest in seiner Entstehungsgeschichte, auch als unbewusster Versuch einer Selbstmedikation zu sehen. 
Während Jesses Lösungsversuche im Bezug auf die Anerkennung und Liebe seiner Eltern höchst dysfunktional sind und ihn von diesen nur umso mehr entfremden, machen ihn die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen und sein Wissen über das Drogenmilieu zum idealen Partner für Walter, der in diesen Dingen zunächst noch unerfahren ist.
Walter, der Meister der Manipulation, erkennt Jesses tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und nutzt es aus, indem er genau die Fähigkeiten von Jesse würdigt, die seine Eltern am meisten verurteilt haben. Gleichzeitig hält er Jesse klein, entzieht ihm seine Anerkennung und Zuneigung immer wieder, so dass dieser sich auch weiterhin nicht sicher fühlen kann und dazu angetrieben wird, sich Walters Respekt immer wieder neu zu verdienen. Selbst wenn es seine Würde, sein Gewissen, seine Liebe, vielleicht sogar sein Leben kostet. 

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Das Böse in House of Cards & The Shield

Francis „Frank“ Underwood aus House of Cards und Detective Vic Mackey aus The Shield – Gesetz der Gewalt verbindet auf den ersten Blick nicht viel. Hier der aalglatte Spitzenpolitiker, stets in Anzug und Krawatte, dort der raubeinige Cop, laut, aggressiv und respektlos. 

Bereits der zweite Blick offenbart jedoch eine Reihe von Gemeinsamkeiten: Jeder der beiden ist in seiner Welt (der des politischen Establishments und der des Polizeiapparates und der Straßengangs) bewundert und gefürchtet zugleich. Sowohl Frank als auch Vic sind in höchstem Maße berechnend, kaltherzig, gierig und manipulativ. Nichts und Niemand scheint ihnen heilig zu sein. Prinzipien wie Personen verraten sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Das schlechte Gewissen, der innere Konflikt zwischen egoistischen Bedürfnissen und allgemeingültigen Moralvorstellungen, welcher viele Film- und Seriencharaktere stellvertretend für uns umtreibt, spielt für Frank und Vic keine Rolle. Sie lügen, drohen, erpressen und morden mit schockierender Gleichgültigkeit. Sie verfolgen ausschließlich ihre persönlichen Ziele und stellen diese ganz selbstverständlich über alles andere. Frank selbst formuliert es so: „Der Weg an die Macht ist mit Heuchelei gepflastert und Kollateralschäden. Kein Platz für Reue!“
Diese Kombination aus Narzissmus, Dissozialität, Aggression und Misstrauen gegenüber anderen wird als Maligner Narzissmus bezeichnet. Maligner Narzissmus ist eine spezielle und seltene Variante der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die zwar deren Kriterien erfüllt, aber darüber hinaus noch die zusätzlichen Merkmale Dissozialität, Aggressivität und eine misstrauische Grundhaltung voraussetzt.
Für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung müssen nach der internationalen Klassifikation psychischer Krankheiten (ICD-10: F60.80) mindestens fünf der folgenden Kriterien vorliegen:
  • Gefühl der eigenen Grandiosität und Wichtigkeit 
  • Phantasien von Erfolg, Macht, Brillanz, Schönheit oder idealer Liebe 
  • Überzeugung besonders und einzigartig zu sein und nur von anderen besonderen oder wichtigen Menschen (oder Institutionen) verstanden zu werden oder mit diesen verkehren zu müssen
  • Bedürfnis nach exzessiver Bewunderung 
  • Anspruchsdenken und Erwartung bevorzugter Behandlung 
  • Ausbeuterische Haltung in zwischenmenschlichen Beziehungen
  • Mangel an Empathie
  • Neid auf andere und/oder Überzeugung, von anderen beneidet zu werden
  • Arrogante und hochmütige Verhaltensweisen oder Ansichten
Frank Underwood und Vic Mackey erfüllen den Großteil dieser Kriterien. Beide fühlen sich ihren Kollegen und Konkurrenten überlegen und leiten aus ihrer idealisierten Selbstwahrnehmung das Recht ab, die eigenen Interessen (Frank: Macht; Vic: Macht und Geld) ohne Rücksicht auf andere durchzusetzen. Beide idealisieren ihre Ehen und sind blind dafür, dass sie ihre Frauen, genau wie alle anderen, manipulieren und verletzen. Die wenigen Freundschaften, die sie pflegen (Frank: Freddy, Doug; Vic: Shane, Lem, Ronnie), bestehen ausschließlich zu Menschen, die hinsichtlich Status und Hierarchie unterlegen sind. Dies dient der Sicherung der eigenen Überlegenheit und der Bewunderung durch die weniger Privilegierten. Doch selbst diese werden fallengelassen, sobald es der eigenen Sache dient. 
Alle, die höher in der Nahrungskette stehen (Frank: Präsident Walker; Vic: Captain Aceveda), werden als unfähig erlebt, um ihre Position beneidet und mit allen Mitteln und ohne Mitleid bekämpft.
Neben der ausgeprägten narzisstischen Persönlichkeitsstörung, weisen Frank und Vic auch die weiteren Merkmale maligner Narzissten auf: Dissozialität, Aggressivität und Misstrauen. Erst diese Kombination macht ihren individuellen Narzissmus so maligne, so verheerend für ihre Feinde, Freunde, Kontrahenten und Familien.
Die ausgeprägte Dissozialität (d.h. Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Normen und Gefühlen anderer) bewirkt, dass es nicht bei Neid- und Hassgefühlen auf all jene, die die eigene Grandiosität nicht anerkennen oder den eigenen Zielen im Wege stehen, bleibt, sondern dass diese auch aktiv, unter Missachtung jeglicher gesellschaftlicher Regeln, bis aufs Blut bekämpft werden, wobei sich ein hohes Maß an Aggressivität zeigt: Jeder (vermeintliche) Angriff wird massiv vergolten, jede kleinste Provokation heftigst erwidert. Bei Kränkungen wird impulsiv und unverhältnismäßig zurückgeschossen, nichts wird je vergessen oder vergeben.
Die hohe Kränkbarkeit hängt auch mit der per se misstrauischen Grundhaltung zusammen. Aus der eigenen Bereitschaft, jeden jederzeit dem eigenen Vorteil zu opfern, leitet sich die Erwartung ab, dass auch andere letztlich illoyal und ausschließlich auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind. Daher müssen alle Beziehungen durch Macht oder Manipulation kontrolliert und das Gegenüber in Angst, blindem Gehorsam und Abhängigkeit gehalten werden.
Beunruhigend an den Darstellungen des malignen Narzissmus in House of Cards und The Shield ist allerdings weniger die Tatsache, dass es solche Menschen gibt, sondern vielmehr, dass diese (zumindest für lange Zeit und mit verheerenden Folgen) erfolgreich und prägend in zentralen gesellschaftlichen Institutionen tätig sind. Es sieht sogar so aus, als wären es gerade die pathologischen Persönlichkeitsaspekte, die den Aufstieg und die Triumphe von Frank und Vic in oft zunächst ausweglos erscheinenden Situationen erst ermöglichen. Der maligne Narzissmus scheint einen Wettbewerbsvorteil gegenüber denjenigen darzustellen, die entweder durch Prinzipien, Anstand, Skrupel, Mitgefühl oder Gemeinsinn gebunden sind.
Die meisten von ihnen verzweifeln irgendwann an der Verdorbenheit des Systems, versuchen schließlich mit ebenso illegalen Mitteln zurückzuschlagen, scheitern aber an ihren auf diesem Gebiet überlegenen narzisstischen Kontrahenten und werden schließlich entweder von ihnen vernichtet oder stehen geschlagen und beschämt da. Dieses düstere Bild wird in House of Cards und The Shield bei weitem nicht nur von Politik und Polizei gezeichnet, sondern zeigt sich genauso in Medien, Gewerkschaften, Kirchen sowie sozialen und gemeinnützigen Organisationen.
Muss man also ein maligner Narzisst sein, um sich in den hierarchisch-bürokratischen Gesellschaftsstrukturen zu behaupten? Lässt der gesellschaftliche Leistungs- und Konkurrenzdruck die Menschen gar erst zu malignen Narzissten werden? (Immerhin wissen wir kaum etwas über Franks und Vics Vorgeschichten)
Oder ist es in echt gar nicht so schlimm, wie im Fernsehen…?
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Fight Club & Zwielicht

SPOILERWARNUNG: Die Filme Fight Club und Zwielicht weisen, neben der großartigen Darbietungen von Edward Norton, eine Reihe weiterer Parallelen auf. Eine davon ist die überraschende Wendung zum Schluss, weshalb an dieser Stelle besonders empfohlen sei, zunächst beide Filme anzuschauen und erst danach die folgenden Ausführungen zur Psychopathologie der Hauptrollen zu lesen.

Beide Filme behandeln, jeweils anhand der von Edward Norton dargestellten Charaktere, das Thema gespaltene Persönlichkeit, oder, im psychologischen Fachjargon Multiple Persönlichkeitsstörung, welche nach IDC-10 (F44.81) wie folgt beschrieben wird:

  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern (zu ausgeprägt für eine einfache Vergesslichkeit)
  • Nicht bedingt durch eine hirnorganische Störung oder durch psychotrope Substanzen
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen

Die multiple Persönlichkeitsstörung gehört zu den sogenannten Dissoziativen Störungen, wobei Dissoziation sinngemäß mit Abspaltung übersetzt werden kann und meint, dass eine Funktion, welche normalerweise in die psychische Gesamtstruktur integriert ist (z.B. Erinnerung, Wahrnehmung, Bewegung), sich plötzlich der psychischen Kontrolle entzieht, gleichsam von dieser abgespalten wird. Im Falle der multiplen Persönlichkeitsstörung sind ganze Persönlichkeitsanteile (mit jeweils eigenen psychischen Funktionen) von dieser Abspaltung betroffen.

In Fight Club spielt Edward Norton den namenlosen Protagonisten, der in der Rezeption häufig Jack genannt wird (im Bezug auf die Zeitschriftenartikel aus der Perspektive der inneren Organe einer Person namens Jack), und der wahrscheinlich die prämorbide Grundpersönlichkeit darstellt. Auf andauernde Gefühle von Sinnlosigkeit und Einsamkeit reagiert Jack zunächst mit heftigen Schlafstörungen (ICD-10: F51.0, Nichtorganische Insomnie), die ihn noch weiter an die psychische und physische Belastungsgrenze bringen. Die letzte Rettung für seine dem Zusammenbruch nahe Psyche ist die Dissoziation eines Persönlichkeitsanteils, den Jack bisher nicht ausleben konnte, wahrscheinlich aufgrund von Angst, Scham und einer Erziehung und Sozialisation, die Anpassung, Unterordnung und den Rückzug in eine materiell-private pseudoheile Welt propagiert haben. Dieser Persönlichkeitsanteil, gespielt von Brad Pitt, heißt Tyler Durden und verkörpert nach eigener Aussage „all das was du immer sein wolltest…„, was in erster Linie Autonomie, Impulsivität, aggressive und sexuelle Exzessivität und grenzenloses Selbstvertrauen bedeutet. Jack leidet, wie er in einer Szene berichtet, darunter, seinen Vater kaum gekannt zu haben und nur von Frauen erzogen worden zu sein. Mit Tyler lebt er sein idealisiertes männlich-kraftvolles Persönlichkeitsideal aus. Die Abspaltung dieses Persönlichkeitsanteils ist zunächst noch notwendig, weil Jack zu tief in seinen Ängsten und Unsicherheiten gefangen ist, um bewusst Veränderungsschritte einleiten zu können.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht im Film Zwielicht zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen Aaron und Roy (diesmal beide gespielt von Edward Norton), wenngleich sich zum Schluss herausstellt, dass, anders als es zunächst den Anschein hatte (und auch anders als in Fight Club), nicht der unsichere, ängstliche Aaron die prämorbide Grundpersönlichkeit verkörpert, sondern dass dieser eine bloße Erfindung des aggressiven und manipulativen Roy, der in Wahrheit doch nicht unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet, ist.

Zudem besteht ein Unterschied zwischen den beiden Filmen darin, dass Aaron und Roy nie gleichzeitig auftreten, was, wenngleich sich Roy als Simulant entpuppt, die realistischere Darstellung der multiplen Persönlichkeitsstörung ist, während die ausführlichen Dialoge zwischen Jack und Tyler eher an visuelle und akustische Halluzinationen erinnern, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) typisch sind und weniger bei multipler Persönlichkeitsstörung.

Ein anderes Störungsbild, welchem in beiden Filmen eine zentrale Rolle zukommt, ist die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Diese ist nach ICD-10 (F60.2) gekennzeichnet durch:

  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind

Sowohl Roy als auch Tyler erfüllen fraglos den Großteil der diagnostischen Kriterien, wobei in Fight Club, angesichts des massiven Zulaufs, welchen zunächst der Fight Club und später das Projekt Chaos haben, zusätzlich die Frage nach dem Ausmaß der unterschwellig vorhandenen, aber aufgrund gesellschaftlicher Normen unterdrückten, dissozialen Anteile in der (männlichen) Gesamtbevölkerung aufgeworfen wird.

Dies führt zu einer weiteren Gemeinsamkeit beider Filme: Die Darstellung (vermeintlich) dissoziativ gestörter Hauptcharaktere hat auch die Funktion des Hinweises auf dissoziative Elemente im gesamtgesellschaftlichen Geschehen.
In Zwielicht wird der simulierten Persönlichkeitsspaltung des wegen Mordes angeklagten Aaron/Roy die ihrerseits an Persönlichkeitsspaltung grenzende Bigotterie der herrschenden Klasse gegenübergestellt und die durchweg selbstsüchtigen, macht-, ruhm-, geldgierigen und perversen Motive der nach außen hin makellos anständigen Würdenträger aus Gesellschaft, Justiz und Kirche werden vorgeführt.
Fight Club thematisiert ausführlich die dissoziative Gefühlsabspaltung als Massenphänomen in einer Gesellschaft, die durch permanenten materiellen und medialen Passivkonsum und das axiomatische Gebot von Konformität und Selbstoptimierung in einem hypnotischen Zustand geduldeter Unterwerfung und Gefügigkeit gehalten werden soll, welcher wiederum (und hier schließt sich der Kreis) im eigensten Interesse der, in Zwielicht charakterisierten, herrschenden Minderheit sein soll.

Summa Summarum ist Roy ein kaltblütiger Mörder und Tyler ein Extremist und Terrorist. Einen Anstoß, dissoziative Phänomene im eigenen Alltagserleben wahrzunehmen und die Maximen der eigenen Lebensführung einer Überprüfung zu unterziehen, können uns die Filme dennoch liefern.

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Game of Thrones: Joffrey, Cersei & Robert



Joffrey Baratheon ist der jugendliche Prinz der sieben Königreiche und Thronfolger seines (vermeintlichen) Vaters Robert Baratheon. Außerdem ist er – bei Zuschauern wie Zeitgenossen – äußerst unbeliebt.

Wie könnte es auch anders sein? Es scheint ihm Freude zu machen, Prostituierte und auch seine kurzzeitverlobte Sansa zu quälen oder Untergebene, wie zum Beispiel den Metzgerssohn oder den betrunkenen Ritter bei seinem Geburtstagsturnier, zu tyrannisieren. Er widersetzt sich seinem Onkel Tyrion und seiner Mutter Cersei, was zu heftigen Streits führt. Seine wachsende Macht nutzt er, um beide wiederholt zu erniedrigen. Auch das Töten (lassen) von Tieren (Sansas Schattenwolf Lady) und Menschen (Eddard, Ros) scheint ihm Vergnügen zu bereiten.
Psychopathologisch zeigt Joffrey die Merkmale einer Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (ICD-10: F91.1). Diese gehört zu den Störungen des Kindes- und Jugendalters und zeichnet sich durch dissozial-aggressives Verhalten bei gleichzeitiger starker Beeinträchtigung der Beziehungen zu anderen Menschen, v.a. Gleichaltrigen, aus.
Joffreys dissoziales Verhaltensmuster ist durch folgende typische Merkmale gekennzeichnet:

  • Tyrannisieren 
  • Erpressung
  • Gewalttätigkeit 
  • Grausamkeit gegenüber Menschen und Tiere
  • Exzessives Streiten 
  • Ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche
  • Fehlen von Kooperationsbereitschaft 
  • Ungehorsam und Grobheit gegen Erziehungspersonen

Ebenso offensichtlich zeigt sich das zweite Charakteristikum der Krankheit, die Beziehungsstörung: Joffrey hat nicht einen einzigen Freund. Auch Sansas Liebe währt nur solange, wie sie braucht um ihn wirklich kennenzulernen.
Seine Kontaktversuche werden durch seine arrogante, selbstbezogene und unempathische Art, von jedem, der sich traut, zurückgewiesen. Alle anderen begegnen ihm mit vorgetäuschtem Respekt, aus Angst vor seiner Grausamkeit.

Da die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens überwiegend im psychosozialen Bereich liegen, müssen wir Joffreys Kindheit und familiäre Situation untersuchen, um seine Symptomatik zu verstehen:
Joffreys Mutter Cersei verlor ihre eigene Mutter bereits im Alter von neun Jahren. Von ihrem Vater Tywin wurde und wird sie nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Heiratsfaustpfand und Stammhaltergebärerin wahrgenommen. Der Glanz im Auge des Vaters ging ihr völlig ab.
Nach dem Tod der Mutter kann sie der totalen Einsamkeit nur dadurch entgehen, dass sie sich emotional an die einzige verfügbare Bezugsperson, ihren Zwillingsbruder Jaime, bindet. Um sich dessen Zuneigung und Loyalität zu versichern, bedient sie sich des einzigen, wozu sie sich entsprechend den Zuschreibungen ihres Vaters fähig fühlt, nämlich erotischer Verführung.
Was sich zunächst als psychische Überlebensstrategie des emotional vernachlässigten Kindes entwickelt, manifestiert sich im Erwachsenenalter als Störung der Sexualpräferenz (ICD-10: F65.8): Cersei scheint nur im Inzest sexuelle Erfüllung zu finden, wobei inzwischen außer Jaime auch andere männliche Verwandte als Sexualpartner in Frage kommen. Wir können darin mit einiger Wahrscheinlichkeit den unbewussten Versuch sehen, sich die Liebe des Vaters, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch noch zu sichern. Der ursprüngliche Wunsch und die mit ihm verbundene, anhaltende Kränkung, können dabei verdrängt werden, weil das bewusste Begehren auf andere Männer (Jaime, Lancel) verschoben wird, die dem Vater aber zumindest ähneln müssen, indem sie die typischen Merkmale der Lennistermänner (blonde Haare, Tendenz zum Narzissmus) aufweisen.

Im Gegensatz zu Joffrey selbst, weiß Cersei von Beginn an, dass ihr Zwillingsbruder der biologische Vater ihres Kindes ist. Dies erklärt die extreme Ambivalenz aus naiver Idealisierung und tiefer Scham, mit der sie Joffrey, je nach Situation, immer wieder begegnet.
Er verkörpert zwar das begehrte Männerideal (Generationsgrenzen spielen in Cerseis Wahrnehmung kaum eine Rolle) und bestätigt ihre Daseinsberechtigung in den Augen ihres Vaters (Thronfolger gebären), gleichzeitig stellt Joffrey aber auch eine ständige Erinnerung an ihre Trieb- und Sündhaftigkeit dar. Selbst wenn sie sich selbst dafür nicht erkennbar schämt bzw. ihre Scham verdrängt und rationalisiert (die Targaryens machen es aber auch…), so lässt ihr Vater sie seine Enttäuschung über ihr Verhalten (zumindest darüber, dass es herauskommt und den Ruf der Familie befleckt) deutlich spüren, was die frühen Entwertungen reaktualisiert und ihre ödipalen Minderwertigkeitsgefühle weiter verstärkt.
Als Joffreys psychische Defekte zunehmend erkennbar werden, kommen wahrscheinlich zusätzliche Schuldgefühle hinzu: Als Nicht-Psychologin könnte Cersei annehmen, dass seine Störung genetisch und damit durch den Inzest bedingt ist.
Summa summarum kann Joffrey von seiner Mutter kaum positive Impulse für seine eigene psychische Entwicklung erwarten.


Joffreys namentlicher Vater, König Robert Baratheon, ist alkoholabhängig (ICD-10: F10.2) und gewalttätig. Einer Anekdote nach, hat er Joffrey bereits als kleinem Kind zwei Milchzähne ausgeschlagen, nachdem dieser eine Katze grausam getötet hatte (ein erstes Frühzeichen der späteren Störung des Sozialverhaltens).
Robert ist dem Suff wohl aus allgemeiner Enttäuschung über sein Leben anheimgefallen. Diese verbindet ihn mit seiner Vernunftehefrau Cersei, wofür beide sich gegenseitig beschuldigen und hassen.
Seine wahre Liebe, Ned Starks Schwester, wurde getötet. Seine Trauer reagierte er in einem Krieg zur Eroberung des eisernen Throns ab (man nennt diese Kanalisierung von unangenehmen Emotionen in Richtung auf ein konstruktives Ziel Sublimierung), was kurzfristig die Lebensfreude zurückbringt. Doch spätestens als alle Feinde besiegt sind, kehren Trauer und Enttäuschung zurück. Was Robert bleibt ist die Flucht in den Rausch, in dem er von den längst vergangenen Tagen als schöner Jüngling, stolzer Weiberheld und unbesiegbarer Krieger träumen kann. Das verlorene Gefühl der eigenen Attraktivität kauft er sich bei Prostituierten und den ausbleibenden Triumpf auf dem Schlachtfeld versucht er durch die Erniedrigung Untergebener, wie Cersei oder Jaime, zu kompensieren.
Vielleicht dient er damit bereits Joffreys späterem Sadismus als unfreiwilliges Vorbild.

Robert weiß nicht, dass Joffrey nicht sein wirklicher Sohn ist. Falls er es geahnt hat, scheint er dies gut verdrängt zu haben. Hätte er den Verdacht aufkommen lassen, hätte er handeln müssen, und dazu ist er zu Beginn der Handlung von Game of Thrones bereits zu lebensmüde.
Da Robert nicht der Mann ist, der er werden wollte, wünscht er sich, dass sein Erstgeborener der Mann wird, der er selbst in seiner melancholisch verklärten Erinnerung gewesen sein will. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass Joffrey diesem Ideal an Mannhaftigkeit und Edelmut nicht gerecht werden kann, macht er keinen Hehl. Mit der an sich richtigen Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass Joffrey (zumindest noch) nicht reif dafür ist, den Thron zu besteigen, fügt er diesem posthum eine letzte schwere Kränkung zu.

Das Selbstbild eines Kindes entsteht maßgeblich aus den bewussten und unbewussten Zuschreibungen anderer, in erster Linie der Eltern. So wie sich Tywins Erwartungen und Entwertungen in Cerseis Charakter niedergeschlagen haben, wird auch Joffreys Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern geprägt.
In diesen erlebt er einerseits deren völlig überhöhten Erwartungsdruck: Er soll stark, mutig und schön werden, wobei bereits hier die Wünsche der Eltern auseinandergehen (eine Manifestation der jeweiligen familiären Größenfantasien) und somit nie vollständig zu erfüllen sind. Durch sein Lennisteraussehen, für das er nun gar nichts kann, gefällt er zwar der Mutter, verstärkt aber die Distanz zum Vater. Auch die Karriereansprüche der Eltern an den Sohn (Herrscher auf dem eisernen Thron, König der Andalen und der ersten Menschen, Herr der sieben Königslande, Beschützer des Reiches…) wirken narzisstisch überzogen und setzen den Jungen von Geburt an unter Druck.
Andererseits nimmt Joffrey unbewusst auch die massiven Konflikte, Zweifel, Enttäuschungen und Schamgefühle seiner Eltern wahr, insbesondere auch gegenüber ihm selbst, was nagende Selbstzweifel in den Tiefen seiner Seele verankert, die er durch sein arrogantes Auftreten (in erster Linie vor sich selbst) verbergen muss.

Joffrey ist damit das, was in der Familienpsychotherapie als Indexpatient bezeichnet wird: In seiner Symptomatik manifestieren sich die Störungen und Konflikte des gesamten Familiensystems. Seine auffallende Pathologie, über die sich alle anderen irgendwie einig sein können, ermöglicht die Verdrängung und Verleugnung der eigenen individuellen und systemischen Störungen. Im Umkehrschluss werden an den Indexpatienten unrealistische Hoffnungen auf eine umfassende Heilung des ganzen Familiensystems geknüpft (wenn er nur nicht so, sondern anders wäre…).

So wächst Joffrey mit großen Selbstzweifeln und gleichzeitig in dem unbewussten Glauben auf, dass es allein seine Aufgabe sei, die beiden psychisch kranken und unglücklich verheirateten Eltern stolz und glücklich zu machen sowie deren individuelle Schuldgefühle und Selbstzweifel zu kompensieren, die chronisch machtbesessenen Dynastien der Baratheons und Lennisters zu vereinen, einen Vielvölkerstaat aus historisch verfeindeten Clans zusammenzuhalten, das Reich gegen Armeen magischer Kreaturen zu schützen und noch vieles mehr. In der Pubertät verliert er dann noch seinen Vater und erfährt zu guter Letzt, dass dieser gar nicht sein Vater war und er somit, in der westerosschen Terminologie, ein Bastard ist.

Da kann man schonmal ein bisschen arschig werden.

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The Dark Knight: Joker

Der von Heath Ledger gespielte Joker im Film The Dark Knight, dem zweiten Teil der Dark Knight Trilogie, ist mit Sicherheit einer der faszinierendsten Bad Guys der Filmgeschichte. Seine Unberechenbarkeit, sein unbändiger Drang und scheinbar unerschöpflicher Antrieb zu Chaos und Zerstörung werden durch die Wucht ihrer Darstellung geradezu physisch spürbar.

Fast scheint der Joker kein Mensch mehr zu sein, sondern vielmehr die personifizierte Destruktivität, Murphys menschgewordendes Gesetz. Aber eben nur fast. Letztlich bleibt er doch ein Mensch, allerdings ein psychopathologisch höchst auffälliger.
In der Figur des Jokers manifestiert sich in extremer Weise das Bild einer Dissozialen Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.2). Hierunter versteht sich ein zeitlich und situativ stabiles Persönlichkeitsmuster, welches durch mindestens drei der folgenden Erlebens- und Verhaltensweisen geprägt ist:
  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind
Wir finden beim Joker nicht nur die für die Diagnosestellung notwendigen drei, sondern gleich alle sechs Merkmale in ausgesprochen starker Ausprägung erfüllt: Mitgefühl scheint ihm fremd, er stiehlt und mordet mit schockierender Gleichgültigkeit. Die Missachtung sozialer Normen und Gesetze ist sein erklärtes und handlungsleitendes Ziel. Trotz seiner auffallenden Gleichgültigkeit gegenüber anderen, gelingt es ihm problemlos, immer wieder Menschen für sich und seine Zwecke zu gewinnen und auszunutzen. Seine scheinbare Gelassenheit entpuppt sich schnell als Fassade, wenn etwas nicht nach Plan verläuft (z.B. als der Fernzünder für die Krankenhausbombe nicht gleich funktioniert). Dann reagiert er überaus impulsiv und aggressiv. Indem der Joker sich selbst zum quasi übermenschlichen Chaosprinzip erklärt, erhebt er sich über jegliche Schuld. Bestrafungen nimmt er bereitwillig in Kauf, als Gelegenheit, anhand seiner Gleichgültigkeit die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Die Rationalisierung des eigenen Verhaltens ist eine wahre Königsdisziplin des Jokers, der es immer wieder schafft, sich selbst als letztlich unausweichliche Konsequenz latenter gesellschaftlich-moralischer Missstände zu stilisieren und damit selbst den vormals so rechtschaffenen Staatsanwalt Harvey Dent für sich einzunehmen.

Wenn der Joker nun, trotz seiner Persönlichkeitsstörung, auch nur ein Mensch ist, stellt sich unweigerlich die (bei weitem nicht nur) psychologisch höchstinteressante und –relevante Frage: Bad or mad? Wirkt im Verhalten des Jokers ein ursächlich Böses als primäre Antriebskraft, oder ist es trotz allem als pathologisch-paradoxer Versuch zur Erfüllung basaler menschlicher Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit und Annahme zu verstehen?

Vieles spricht für Letzteres. Während die obengenannten Grundbedürfnisse evolutionsbiologisch nach wie vor essenziell bedeutsam sind, hat ein primärer, nicht der Selbstverteidigung (und damit wieder der eigenen Sicherheit) dienender, Aggressionstrieb keinerlei Nutzen, ist folglich nicht sinnvoll erklärbar. Dagegen liefert die Psychologie mindestens zwei plausible Erklärungen für zunächst völlig irrational und paradox anmutendes destruktiv-aggressives Verhalten: 

  • Als direkte Reaktion auf eigene Kränkung und Frustration, insofern als die Aggression dazu dient, die eigenen negativen Gefühle im Außen bzw. im Gegenüber unterzubringen um sie nicht selbst aushalten zu müssen
  • Als Versuch, in einer als chaotisch und undurchschaubar erlebten Welt, durch Verletzung von Regeln und Normen, Resonanz und Grenzen zu erfahren, in der Hoffnung, dadurch doch noch Orientierung, Halt und somit letztlich Sicherheit zu erleben
Beide Sichtweisen können helfen, das Verhalten des Jokers zu verstehen. Wenngleich wir wenig über seine Vorgeschichte wissen, steht fest, dass er Schreckliches erlebt haben muss.  Zwar ist mindestens eine der beiden Geschichten über seine Verstümmelung gelogen, diese selbst bleibt dennoch real. Selbst wenn die konkreten Geschichten beide faktisch unwahr sind, handelt es sich dabei doch um Abwandlungen eines real erlebten Traumas. Möglicherweise ist die Erinnerung daran sogar gänzlich verdrängt und die wechselnden Geschichten sind weniger bewusste Lügen, als vielmehr sogenannte Deckerinnerungen, welche vor der Erinnerung des tatsächlich Erlebten schützen.
Wie dem auch sei, der Joker war einst Opfer und die Opferrolle ist ihm buchstäblich und unwiderruflich ins Gesicht geschrieben. Das erlebte lässt sich nicht verbergen, sondern ist für jedermann jederzeit sichtbar. Worauf er hoffen kann ist allenfalls Mitleid, wahrscheinlicher sind jedoch Ekel und Abscheu. Die Möglichkeit, seine Selbstdarstellung und Position in der Gesellschaft frei zu variieren und selbst zu gestalten ist ihm genommen.
Gut möglich, dass die innere Welt eines so Versehrten sich schließlich aufspaltet in Opfer und (aktiv misshandelnde oder zumindest herablassende und ausgrenzende) Täter. In diesem Fall bleibt die Wahl zwischen dem Ertragen von Schmerz, Scham und Angst oder der Selbstdefinition als Täter, der diese Gefühle anderen zufügt um sie nicht selbst aushalten zu müssen. Diesen Mechanismus, bei dem Gewaltopfer selbst zu Tätern werden, nennt man Identifikation mit dem Aggressor. Der Joker wählt diesen Weg und stilisiert sein eigenes Leid zum Schrecken der Anderen.

Obwohl der Joker damit seine eigene Ausgrenzung aus der Gesellschaft zementiert, bleibt ein unterschwelliger Bindungswunsch doch wahrnehmbar. Deutlich zeigt er sich in der Beziehung zu Batman. Wir dürfen dem Joker glauben, dass er Batman nicht töten will. Tatsächlich findet er Erfüllung (vermutlich nur) im Katz-und-Maus-Spiel mit diesem. Durch sein eigenes abnormes Verhalten sichert er sich dessen volle Aufmerksamkeit und intensive Zuwendung.

Die Regeln und Autoritäten der Gesellschaft konnten den Joker damals nicht vor seinem schrecklichen Schicksal bewahren, weshalb er ihnen zutiefst misstraut, sie verachtet und ihnen ihre Unzulänglichkeit immer wieder beweisen muss. Doch dann ist da Batman, eine neue, größere, stärkere und unmittelbarere Autorität. In ihm bestätigt sich das Versagen der alten Ordnung. An ihn knüpfen sich die Hoffnungen derer, die von dieser enttäuscht wurden. Und so kann auch der Joker seine Faszination für Batman nicht verbergen. Seine Aufmerksamkeit zu erlangen treibt ihn an. Ihn verachtet er nicht, sondern sucht seine Augenhöhe. Von ihm will er gesehen werden, selbst wenn dies Bestrafung bedeutet. Ein Kampf auf Leben und Tod mit Batman ist ihm lieber, als jede erdenkliche Wohltat, als Reichtum und Macht sowieso.
Dahinter steht die Hoffnung, in Batman endlich jemanden gefunden zu haben, der stark genug ist, das Chaos, welches das Leben des Jokers vor langer Zeit so unfassbar grausam heimgesucht hat, in Ordnung zu bringen. 

Alfred mag recht haben: Manche Menschen wollen die Welt einfach nur brennen sehen. Tatsächlich aber wünschen sie sich verzweifelt, dass spätestens dann endlich jemand auftaucht, der imstande ist, das Feuer zu löschen.

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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