Joffrey Baratheon ist der jugendliche Prinz der sieben Königreiche und Thronfolger seines (vermeintlichen) Vaters Robert Baratheon. Außerdem ist er – bei Zuschauern wie Zeitgenossen – äußerst unbeliebt.
- Tyrannisieren
- Erpressung
- Gewalttätigkeit
- Grausamkeit gegenüber Menschen und Tiere
- Exzessives Streiten
- Ausgeprägte und unkontrollierte Wutausbrüche
- Fehlen von Kooperationsbereitschaft
- Ungehorsam und Grobheit gegen Erziehungspersonen
Seine Kontaktversuche werden durch seine arrogante, selbstbezogene und unempathische Art, von jedem, der sich traut, zurückgewiesen. Alle anderen begegnen ihm mit vorgetäuschtem Respekt, aus Angst vor seiner Grausamkeit.
Da die Ursachen für Störungen des Sozialverhaltens überwiegend im psychosozialen Bereich liegen, müssen wir Joffreys Kindheit und familiäre Situation untersuchen, um seine Symptomatik zu verstehen:
Joffreys Mutter Cersei verlor ihre eigene Mutter bereits im Alter von neun Jahren. Von ihrem Vater Tywin wurde und wird sie nicht um ihrer selbst willen geliebt, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Heiratsfaustpfand und Stammhaltergebärerin wahrgenommen. Der Glanz im Auge des Vaters ging ihr völlig ab.
Nach dem Tod der Mutter kann sie der totalen Einsamkeit nur dadurch entgehen, dass sie sich emotional an die einzige verfügbare Bezugsperson, ihren Zwillingsbruder Jaime, bindet. Um sich dessen Zuneigung und Loyalität zu versichern, bedient sie sich des einzigen, wozu sie sich entsprechend den Zuschreibungen ihres Vaters fähig fühlt, nämlich erotischer Verführung.
Was sich zunächst als psychische Überlebensstrategie des emotional vernachlässigten Kindes entwickelt, manifestiert sich im Erwachsenenalter als Störung der Sexualpräferenz (ICD-10: F65.8): Cersei scheint nur im Inzest sexuelle Erfüllung zu finden, wobei inzwischen außer Jaime auch andere männliche Verwandte als Sexualpartner in Frage kommen. Wir können darin mit einiger Wahrscheinlichkeit den unbewussten Versuch sehen, sich die Liebe des Vaters, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, doch noch zu sichern. Der ursprüngliche Wunsch und die mit ihm verbundene, anhaltende Kränkung, können dabei verdrängt werden, weil das bewusste Begehren auf andere Männer (Jaime, Lancel) verschoben wird, die dem Vater aber zumindest ähneln müssen, indem sie die typischen Merkmale der Lennistermänner (blonde Haare, Tendenz zum Narzissmus) aufweisen.
Im Gegensatz zu Joffrey selbst, weiß Cersei von Beginn an, dass ihr Zwillingsbruder der biologische Vater ihres Kindes ist. Dies erklärt die extreme Ambivalenz aus naiver Idealisierung und tiefer Scham, mit der sie Joffrey, je nach Situation, immer wieder begegnet.
Er verkörpert zwar das begehrte Männerideal (Generationsgrenzen spielen in Cerseis Wahrnehmung kaum eine Rolle) und bestätigt ihre Daseinsberechtigung in den Augen ihres Vaters (Thronfolger gebären), gleichzeitig stellt Joffrey aber auch eine ständige Erinnerung an ihre Trieb- und Sündhaftigkeit dar. Selbst wenn sie sich selbst dafür nicht erkennbar schämt bzw. ihre Scham verdrängt und rationalisiert (die Targaryens machen es aber auch…), so lässt ihr Vater sie seine Enttäuschung über ihr Verhalten (zumindest darüber, dass es herauskommt und den Ruf der Familie befleckt) deutlich spüren, was die frühen Entwertungen reaktualisiert und ihre ödipalen Minderwertigkeitsgefühle weiter verstärkt.
Als Joffreys psychische Defekte zunehmend erkennbar werden, kommen wahrscheinlich zusätzliche Schuldgefühle hinzu: Als Nicht-Psychologin könnte Cersei annehmen, dass seine Störung genetisch und damit durch den Inzest bedingt ist.
Summa summarum kann Joffrey von seiner Mutter kaum positive Impulse für seine eigene psychische Entwicklung erwarten.
Joffreys namentlicher Vater, König Robert Baratheon, ist alkoholabhängig (ICD-10: F10.2) und gewalttätig. Einer Anekdote nach, hat er Joffrey bereits als kleinem Kind zwei Milchzähne ausgeschlagen, nachdem dieser eine Katze grausam getötet hatte (ein erstes Frühzeichen der späteren Störung des Sozialverhaltens).
Robert ist dem Suff wohl aus allgemeiner Enttäuschung über sein Leben anheimgefallen. Diese verbindet ihn mit seiner Vernunftehefrau Cersei, wofür beide sich gegenseitig beschuldigen und hassen.
Seine wahre Liebe, Ned Starks Schwester, wurde getötet. Seine Trauer reagierte er in einem Krieg zur Eroberung des eisernen Throns ab (man nennt diese Kanalisierung von unangenehmen Emotionen in Richtung auf ein konstruktives Ziel Sublimierung), was kurzfristig die Lebensfreude zurückbringt. Doch spätestens als alle Feinde besiegt sind, kehren Trauer und Enttäuschung zurück. Was Robert bleibt ist die Flucht in den Rausch, in dem er von den längst vergangenen Tagen als schöner Jüngling, stolzer Weiberheld und unbesiegbarer Krieger träumen kann. Das verlorene Gefühl der eigenen Attraktivität kauft er sich bei Prostituierten und den ausbleibenden Triumpf auf dem Schlachtfeld versucht er durch die Erniedrigung Untergebener, wie Cersei oder Jaime, zu kompensieren.
Vielleicht dient er damit bereits Joffreys späterem Sadismus als unfreiwilliges Vorbild.
Robert weiß nicht, dass Joffrey nicht sein wirklicher Sohn ist. Falls er es geahnt hat, scheint er dies gut verdrängt zu haben. Hätte er den Verdacht aufkommen lassen, hätte er handeln müssen, und dazu ist er zu Beginn der Handlung von Game of Thrones bereits zu lebensmüde.
Da Robert nicht der Mann ist, der er werden wollte, wünscht er sich, dass sein Erstgeborener der Mann wird, der er selbst in seiner melancholisch verklärten Erinnerung gewesen sein will. Aus seiner Enttäuschung darüber, dass Joffrey diesem Ideal an Mannhaftigkeit und Edelmut nicht gerecht werden kann, macht er keinen Hehl. Mit der an sich richtigen Erkenntnis auf dem Sterbebett, dass Joffrey (zumindest noch) nicht reif dafür ist, den Thron zu besteigen, fügt er diesem posthum eine letzte schwere Kränkung zu.
Das Selbstbild eines Kindes entsteht maßgeblich aus den bewussten und unbewussten Zuschreibungen anderer, in erster Linie der Eltern. So wie sich Tywins Erwartungen und Entwertungen in Cerseis Charakter niedergeschlagen haben, wird auch Joffreys Persönlichkeitsentwicklung durch die frühen Beziehungserfahrungen mit seinen Eltern geprägt.
In diesen erlebt er einerseits deren völlig überhöhten Erwartungsdruck: Er soll stark, mutig und schön werden, wobei bereits hier die Wünsche der Eltern auseinandergehen (eine Manifestation der jeweiligen familiären Größenfantasien) und somit nie vollständig zu erfüllen sind. Durch sein Lennisteraussehen, für das er nun gar nichts kann, gefällt er zwar der Mutter, verstärkt aber die Distanz zum Vater. Auch die Karriereansprüche der Eltern an den Sohn (Herrscher auf dem eisernen Thron, König der Andalen und der ersten Menschen, Herr der sieben Königslande, Beschützer des Reiches…) wirken narzisstisch überzogen und setzen den Jungen von Geburt an unter Druck.
Andererseits nimmt Joffrey unbewusst auch die massiven Konflikte, Zweifel, Enttäuschungen und Schamgefühle seiner Eltern wahr, insbesondere auch gegenüber ihm selbst, was nagende Selbstzweifel in den Tiefen seiner Seele verankert, die er durch sein arrogantes Auftreten (in erster Linie vor sich selbst) verbergen muss.
Joffrey ist damit das, was in der Familienpsychotherapie als Indexpatient bezeichnet wird: In seiner Symptomatik manifestieren sich die Störungen und Konflikte des gesamten Familiensystems. Seine auffallende Pathologie, über die sich alle anderen irgendwie einig sein können, ermöglicht die Verdrängung und Verleugnung der eigenen individuellen und systemischen Störungen. Im Umkehrschluss werden an den Indexpatienten unrealistische Hoffnungen auf eine umfassende Heilung des ganzen Familiensystems geknüpft (wenn er nur nicht so, sondern anders wäre…).
So wächst Joffrey mit großen Selbstzweifeln und gleichzeitig in dem unbewussten Glauben auf, dass es allein seine Aufgabe sei, die beiden psychisch kranken und unglücklich verheirateten Eltern stolz und glücklich zu machen sowie deren individuelle Schuldgefühle und Selbstzweifel zu kompensieren, die chronisch machtbesessenen Dynastien der Baratheons und Lennisters zu vereinen, einen Vielvölkerstaat aus historisch verfeindeten Clans zusammenzuhalten, das Reich gegen Armeen magischer Kreaturen zu schützen und noch vieles mehr. In der Pubertät verliert er dann noch seinen Vater und erfährt zu guter Letzt, dass dieser gar nicht sein Vater war und er somit, in der westerosschen Terminologie, ein Bastard ist.
Da kann man schonmal ein bisschen arschig werden.