Podcast Folge 01 – Stranger Things

Die erste Folge des Charakterneurosen-Podcasts ist online! Es geht um Stranger Things. Wir lernen etwas über Mutismus, Bindungsstörungen, paranoide Schizophrenie, Kindesmissbrauch, Gruppendenken und schädlichen Gebrauch von Alkohol. Außerdem geht es um MK Ultra, Winona Ryders Tics und deutsch-amerikanische Bierassoziationen.


 



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Suicide Squad: Harley Quinn

Zu Suicide Squad ist ja von Kritikerseite bereits alles gesagt. Auch die Geschichte der Psychiaterin, die dem Joker verfällt, derentwegen ich mir den Film, trotz der (zu Recht) vernichtenden Kritiken, angesehen habe, wird nur oberflächlich behandelt.
Was wir dennoch erfahren, ist, dass Dr. Harleen Quinzel, die spätere Harley Quinn, im Arkham Asylum (der legendären forensischen Psychiatrie Gotham Citys) offenbar psychotherapeutische Gespräche mit dem Joker führte, in deren Rahmen sie sich immer mehr in ihn verliebte. Ein beliebtes Motiv, das zeigt, dass die psychotherapeutische Beziehung, ihre Beschaffenheit, Regeln und Grenzen, Autoren nachhaltig interessieren.
In Film und Fernsehen wird die therapeutische Beziehung dem hohen Anspruch, einerseits echte intensive Gefühle und tiefes Vertrauen hervorzubringen und gleichzeitig streng auf die Therapie und deren Ziele begrenzt zu bleiben, oft nicht gerecht. So ergab die Auswertung von über 100 Filmen*, in denen Psychotherapeuten vorkamen, dass diese in 45% der Fälle die Grenzen des therapeutischen Rahmens überschritten. Etwa die Hälfte der Grenzüberschreitungen war sexueller Natur.
In der Realität sind solche schweren therapeutischen Kunstfehler zum Glück seltener, wenngleich sie natürlich vorkommen. Gelingt es, eine gute, konstruktive und tragfähige therapeutische Beziehung aufzubauen, ist diese einer der wichtigsten, in manchen Studien sogar der wichtigste Wirkfaktor erfolgreicher Psychotherapien. „Gut“ ist die therapeutische Beziehung dann, wenn Therapeut und Patient sowohl wohltuende, Vertrauen und Sicherheit fördernde Nähe aufbauen, als auch das Geschehen innerhalb und außerhalb der Therapiesitzungen analytisch reflektieren und zwischen diesen beiden Ebenen flexibel hin- und herwechseln können. Um nicht in die Gefahr zu geraten, dauerhaft zu einseitig zu agieren, also sich zum Beispiel zu unreflektiert auf die positiven Gefühle gegenüber dem Patienten einzulassen und sich in Rettungs- oder Liebesphantasien zu verlieren, praktizieren Psychotherapeuten in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit nur unter Supervision erfahrener Kollegen, denen sie regelmäßig über den Therapieverlauf berichten.
Dies scheint Dr. Quinzel versäumt zu haben, weshalb niemand intervenieren kann, als sie sich mehr und mehr in ihren manipulativen Patienten verliebt und diesem schließlich zur Flucht verhilft.
Im Rahmen des Ausbruchs kommt es zu einer eigenartigen Szene: Obwohl Harley dem Joker bereits verfallen und ergeben zu sein scheint, lässt er sie überwältigen und verabreicht ihr Elektroschocks. Es wirkt, als sei der Joker mit der Elektrokrampftherapie (EKT), bei welcher mittels Stromstößen gezielt Krampfanfälle des Gehirns ausgelöst werden, vertraut.
Vermutlich wurde er ihr selbst in Arkham gegen seinen Willen unterzogen. Indem er nun Harley dasselbe antut, wehrt er das Gefühl des passiven Opfers ab und projiziert es auf Harley, um sich selbst wieder aktiv, stark und wehrhaft fühlen zu können. Es ist einer von mehreren grausamen Akten des Jokers, die alle dazu dienen, Harley zu dem irren, albernen aber auch unheimlichen Freak zu machen, als welcher er selbst von allen anderen gesehen wird.
In unserer Realität wird EKT tatsächlich zur Behandlung schwerer Depressionen und Schizophrenien eingesetzt, wenn psychotherapeutische und medikamentöse Behandlungsversuche erfolglos bleiben. Allerdings nur, wenn der Patient dem zustimmt.
Die durch die elektrischen Impulse ausgelösten Krampfanfälle des Gehirns stoßen dabei dessen Selbstheilungskräfte an, so dass bestimmte Botenstoffe wieder ins Gleichgewicht gebracht und neuronale Verbindungen quasi repariert werden können.
Bei Harley Quinn, die vor der EKT keine psychiatrischen Symptome zeigt, ist diese selbstverständlich absolut kontraindiziert und erwirkt somit auch eine geradezu paradoxe Reaktion: Die EKT löst bei Harley deutliche Symptome einer Manie aus. Diese affektive (= die Stimmung betreffende) Störung, kann sich nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F30.2) unter anderem äußern durch:
  • gesteigerte Aktivität, motorische Ruhelosigkeit
  • gesteigerte Gesprächigkeit, Rededrang
  • Verlust sozialer Hemmungen, unangemessenes Verhalten
  • überhöhte Selbsteinschätzung
  • Ablenkbarkeit
  • Tollkühnes oder leichtsinniges Verhalten ohne Risikobewusstsein
  • Gesteigerte Libido oder sexuelle Taktlosigkeit
Darüber hinaus kann eine manische Episode mit psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) einhergehen, was Harley andeutet, wenn sie berichtet, Stimmen zu hören oder sich nicht sicher ist, ob es sich bei Enchantress um eine optische Halluzination handelt.
Somit unterscheidet sich Harley, bei aller Liebe und äußerlichen Ähnlichkeit, vom Joker. Während dessen Fröhlichkeit nur Sarkasmus ist, ein Stilmittel, welches seinen Zorn noch grausamer wirken lässt, ist Harleys Stimmung, infolge der Manie, tatsächlich gehoben. Sie genießt weniger die Grausamkeit, als vielmehr die Action um ihrer selbst willen. Während der Joker planmäßig handelt, um andere, meist Batman, zu provozieren, tut und sagt Harley impulsiv wonach ihr ist und hat wenig Gespür und kaum Interesse für die Konsequenzen. Der Joker möchte Angst verbreiten, weil die Gesellschaft ihn verstoßen hat. Darum stiftet er Chaos. Harley kehrt der Gesellschaft den Rücken, weil das Chaos aufregender ist.
Manien verlaufen episodisch (im Gegensatz zu der zeitstabilen und situationsübergreifenden dissozialen Persönlichkeitsstörung des Jokers). Auf manische Phasen mit starker Symptomatik folgen Phasen, in denen die gesunde Grundpersönlichkeit wieder hervortritt, die sich, auch bei Harley Quinn, „normale“ Dinge wünscht: Eine Familie, ein Tässchen Espresso, ein gutes Buch…
*Gharaibeh, N.M. (2005). The psychiatrist’s image in commercially available American movies. Acta psychiatrica Scandinavica, 111(4), 316-319.
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Hand of God: Pernell

Die Amazon-Serie Hand of God ließe sich wohl unter vielen Gesichtspunkten interessant analysieren. Glaube vs. Rationalität, Rache vs. Vergebung, Stolz vs. Scham – das sind nur einige der behandelten Themen.
Aus psychiatrischer Perspektive sehen wir in Hand of God in erster Linie einen Mann (Richter Pernell Harris) der unter dem Einfluss eines traumatischen Ereignisses (Suizidversuch seines Sohnes) eine psychische Erkrankung entwickelt, deren imposantestes Symptom ein religiöser Wahn ist. Als Wahn bezeichnet die Psychopathologie eine Überzeugung, die nachweisbar unvereinbar mit der objektiven Realität ist, an der die betroffene Person aber dennoch dauerhaft festhält. Wahn beeinträchtigt dadurch die Realitätswahrnehmung und das Alltagsfunktionsniveau. Pernells religiöser Wahn besteht darin, dass er von Gott auserwählt wurde, seinen Sohn zu rächen. Dass Gott ihm Hinweise in Form optischer Wahrnehmungen sendet. Dass er durch Handeln im Sinne Gottes seinen Sohn aus dem Koma erwecken kann.
Darüber hinaus hat Pernell akustische und optische Halluzinationen: Er hört die Stimme seines im Koma liegenden Sohnes (unterhält sich sogar mit ihm) und sieht immer wieder Personen oder Dinge, die nicht da sind.
Nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) leidet Pernell unter einer Paranoiden Schizophrenie (F20.0), welche in seinem Fall durch die folgenden charakteristischen Symptome gekennzeichnet ist:
  • Wahn
  • Akustische Halluzinationen in Form von kommentierenden und dialogischen Stimmen
  • Optische Halluzinationen
  • Gedankeneingebung: Überzeugung dass eigene Gedanken von außen (von Gott) geschickt wurden
  • Gedankenabreisen: Unterbrechung des Denkflusses (bei Pernell durch das plötzliche Einschießen von Einfällen im Zusammenhang mit seinem Wahn)

Pernells religiöser Wahn unterscheidet sich von einfacher Religiosität oder auch religiösem Fundamentalismus (der zwar ein Problem, aber keine Krankheit darstellt) dadurch, dass Pernells Realitätswahrnehmung durch seinen Wahn immer wieder deutlich beeinträchtigt wird, z.B. wenn er davon überzeugt ist, seinen Sohn durch aktives Handeln aus dem Koma erwecken zu können etc.
Für einen psychisch gesunden Gläubigen kann z.B. das ewige Leben gleichzeitig mit und trotz dem physischen Tod bestehen – Pernell verleugnet das Koma und den nahenden Tod seines Sohnes, entgegen aller medizinischen Fakten.
Religiöse Fundamentalisten verleugnen zwar auch objektive Realitäten, sie tun dies aber (wie z.B. der charismatische Reverend Curtis in Hand of God) zur Verbreitung ihrer Glaubenslehren und Durchsetzung ihrer Interessen. In den meisten Fällen sind sie sich dennoch der logischen und naturwissenschaftlichen Realitäten bewusst.
Natürlich spielt Hand of God mit genau diesen Unterschieden und Gemeinsamkeiten, sodass man sich nie ganz sicher sein kann, ob nicht doch übernatürliche Kräfte im Spiel sind. Letzten Endes ist wohl auch das Glaubenssache.

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Terminator 2: Sarah Connor



Sarah Connor gilt, insbesondere in Terminator 2 – Tag der Abrechnung, als eine der stärksten weiblichen Heldenfiguren des Actionkinos. Dennoch befindet sie sich zu Beginn des Films in einer überaus hilflosen Lage, nämlich zwangseingewiesen in einer geschlossenen forensischen Psychiatrie.

[Insgesamt erinnert die Szene: Starke (rothaarige!) Frau mit geheimem Wissen wird von (männlichen) Autoritäten nicht verstanden und dafür bestraft, ein wenig an die Hexenjagden früherer Jahrhunderte.]
Aber zurück zur Psychologie: Sarah Connor erhält von ihren Ärzten die Diagnose Schizoaffektive Störung und soll mit Thorazine behandelt werden. Thorazine ist der amerikanische Handelsname eines Medikaments mit dem Wirkstoff Chlorpromazin. Chlorpromazin gehört zur Arzneimittelgruppe der Neuroleptika und kann zur Behandlung von Wahn und Unruhe im Rahmen von schizophrenen Störungen eingesetzt werden. Insofern wäre eine Thorazine-Therapie ein denkbarer Behandlungsansatz für Sarah Connor – wenn sie denn eine schizoaffektive Störung hätte.
Eine solche wäre nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F25) gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten von
  • Symptomen einer Schizophrenie, z.B. Wahn   und
  • Symptomen einer Affektiven Störung, also entweder
    • einer Depression (gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebsminderung)   oder
    • einer Manie (situationsunangemessen gehobene Stimmung, Gereiztheit, Antriebssteigerung, Größenwahn)
Fairerweise muss man den (zugegebenermaßen so unprofessionellen wie unsympathischen) Behandlern von Sarah Connor zugestehen, dass der Verdacht auf eine wahnhafte Störung naheliegt, wenn eine Patientin steif und fest der Überzeugung ist, von menschengleichen Robotern aus der Zukunft gejagt zu werden, weil sie die Mutter des designierten Retters der Menschheit sei. Tatsächlich scheint dies näher zu liegen, als ihr ihre Geschichte einfach zu glauben. Da sie im Zusammenhang mit diesen Überzeugungen eine Straftat verübt hat (einen Sprengstoffanschlag auf das Cyberdyne-Labor), scheint auch die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie (i.e. einer psychiatrischen Einrichtung für aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig gewordene oder schulunfähige Täter) angemessen.
Würde es sich bei ihrer Überzeugung tatsächlich um eine Wahnvorstellung handeln, könnte die Behandlung mit Thorazine ihr diese nehmen und sie vor der Begehung weiterer Straftaten bewahren. Zudem wirkt Chlorpromazin sedierend, also beruhigend und ermüdend, so dass Sarahs ängstlich-gereizte Übererregung, welche die Ärzte als manisches Symptom fehldeuten, dadurch ebenfalls behandelt werden könnte.
So machen sich Sarah Connors Behandler im Film zwar durch ihr unprofessionelles aggressiv-entwertendes Verhalten ihrer Patientin gegenüber schuldig. Diagnosestellung und Behandlungsplan an sich sind jedoch nachvollziehbar, da die Ärzte unmöglich wissen (und kaum glauben) können, dass Sarah die Wahrheit sagt.
Die Rahmenhandlung der Terminator-Reihe wirkt phantastisch genug um davon auszugehen, dass eine Situation wie die von Sarah Connor zu Beginn des zweiten Films in unserer Realität nicht denkbar ist. Andererseits haben sich 2013 nicht wenige Kollegen die Frage gestellt, wie sie wohl reagiert hätten, wenn ihnen ein Patient vor den Enthüllungen Edward Snowdens vom Ausmaß der Geheimdienstüberwachungen berichtet hätte…
Sarah Connor hat also keine schizoaffektive Störung, braucht kein Thorazine und gehört nicht in die forensische Psychiatrie. Unbeschadet überstanden hat sie die Ereignisse des ersten Terminator-Films jedoch auch nicht. Zu Beginn der zweiten Teils zeigt sie die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Ein Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, z.B. von einem Terminator gejagt und mehrfach fast getötet zu werden
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, z.B. Tagträume vom Ende der Welt
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, z.B. unverhofft auf der Flucht aus dem Krankenhaus auf genau das Terminator-Modell zu treffen, von welchem man gejagt und mehrfach fast getötet wurde
  • Erhöhte psychische Sensitivität und Erregung, z.B. Gereiztheit, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Impulsivität…
Mithilfe ihres Sohnes und des umprogrammierten T-800 kann Sarah ihr Trauma teilweise überwinden. Wer beides nicht zur Hand hat, dem hätte auch mit einer Psychotherapie im ambulanten oder offenen stationären Rahmen (statt geschlossener Forensik), der vorübergehenden Einnahme eines leichten Beruhigungsmittels bei Bedarf (statt neuroleptischer Dauermedikation) und einer therapeutischen Fokussierung auf die Gefühle von Angst und Hilflosigkeit (statt den Wahrheitsgehalt der Geschichte) geholfen werden können.
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Fight Club & Zwielicht

SPOILERWARNUNG: Die Filme Fight Club und Zwielicht weisen, neben der großartigen Darbietungen von Edward Norton, eine Reihe weiterer Parallelen auf. Eine davon ist die überraschende Wendung zum Schluss, weshalb an dieser Stelle besonders empfohlen sei, zunächst beide Filme anzuschauen und erst danach die folgenden Ausführungen zur Psychopathologie der Hauptrollen zu lesen.

Beide Filme behandeln, jeweils anhand der von Edward Norton dargestellten Charaktere, das Thema gespaltene Persönlichkeit, oder, im psychologischen Fachjargon Multiple Persönlichkeitsstörung, welche nach IDC-10 (F44.81) wie folgt beschrieben wird:

  • Zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten innerhalb eines Individuums, von denen zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine in Erscheinung tritt
  • Jede Persönlichkeit hat ihr eigenes Gedächtnis, ihre eigenen Vorlieben und Verhaltensweisen und übernimmt zu einer bestimmten Zeit, auch wiederholt, die volle Kontrolle über das Verhalten der Betroffenen
  • Unfähigkeit, wichtige persönliche Informationen zu erinnern (zu ausgeprägt für eine einfache Vergesslichkeit)
  • Nicht bedingt durch eine hirnorganische Störung oder durch psychotrope Substanzen
  • Überzeugender zeitlicher Zusammenhang zwischen den Symptomen und belastenden Ereignissen, Problemen oder Bedürfnissen

Die multiple Persönlichkeitsstörung gehört zu den sogenannten Dissoziativen Störungen, wobei Dissoziation sinngemäß mit Abspaltung übersetzt werden kann und meint, dass eine Funktion, welche normalerweise in die psychische Gesamtstruktur integriert ist (z.B. Erinnerung, Wahrnehmung, Bewegung), sich plötzlich der psychischen Kontrolle entzieht, gleichsam von dieser abgespalten wird. Im Falle der multiplen Persönlichkeitsstörung sind ganze Persönlichkeitsanteile (mit jeweils eigenen psychischen Funktionen) von dieser Abspaltung betroffen.

In Fight Club spielt Edward Norton den namenlosen Protagonisten, der in der Rezeption häufig Jack genannt wird (im Bezug auf die Zeitschriftenartikel aus der Perspektive der inneren Organe einer Person namens Jack), und der wahrscheinlich die prämorbide Grundpersönlichkeit darstellt. Auf andauernde Gefühle von Sinnlosigkeit und Einsamkeit reagiert Jack zunächst mit heftigen Schlafstörungen (ICD-10: F51.0, Nichtorganische Insomnie), die ihn noch weiter an die psychische und physische Belastungsgrenze bringen. Die letzte Rettung für seine dem Zusammenbruch nahe Psyche ist die Dissoziation eines Persönlichkeitsanteils, den Jack bisher nicht ausleben konnte, wahrscheinlich aufgrund von Angst, Scham und einer Erziehung und Sozialisation, die Anpassung, Unterordnung und den Rückzug in eine materiell-private pseudoheile Welt propagiert haben. Dieser Persönlichkeitsanteil, gespielt von Brad Pitt, heißt Tyler Durden und verkörpert nach eigener Aussage „all das was du immer sein wolltest…„, was in erster Linie Autonomie, Impulsivität, aggressive und sexuelle Exzessivität und grenzenloses Selbstvertrauen bedeutet. Jack leidet, wie er in einer Szene berichtet, darunter, seinen Vater kaum gekannt zu haben und nur von Frauen erzogen worden zu sein. Mit Tyler lebt er sein idealisiertes männlich-kraftvolles Persönlichkeitsideal aus. Die Abspaltung dieses Persönlichkeitsanteils ist zunächst noch notwendig, weil Jack zu tief in seinen Ängsten und Unsicherheiten gefangen ist, um bewusst Veränderungsschritte einleiten zu können.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht im Film Zwielicht zwischen den beiden Persönlichkeitsanteilen Aaron und Roy (diesmal beide gespielt von Edward Norton), wenngleich sich zum Schluss herausstellt, dass, anders als es zunächst den Anschein hatte (und auch anders als in Fight Club), nicht der unsichere, ängstliche Aaron die prämorbide Grundpersönlichkeit verkörpert, sondern dass dieser eine bloße Erfindung des aggressiven und manipulativen Roy, der in Wahrheit doch nicht unter einer multiplen Persönlichkeitsstörung leidet, ist.

Zudem besteht ein Unterschied zwischen den beiden Filmen darin, dass Aaron und Roy nie gleichzeitig auftreten, was, wenngleich sich Roy als Simulant entpuppt, die realistischere Darstellung der multiplen Persönlichkeitsstörung ist, während die ausführlichen Dialoge zwischen Jack und Tyler eher an visuelle und akustische Halluzinationen erinnern, wie sie beispielsweise im Rahmen einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0) typisch sind und weniger bei multipler Persönlichkeitsstörung.

Ein anderes Störungsbild, welchem in beiden Filmen eine zentrale Rolle zukommt, ist die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Diese ist nach ICD-10 (F60.2) gekennzeichnet durch:

  • Herzloses Unbeteiligtsein gegenüber den Gefühlen anderer
  • Deutliche und andauernde verantwortungslose Haltung und Missachtung sozialer Normen, Regeln und Verpflichtungen
  • Unfähigkeit zur Aufrechterhaltung dauerhafter Beziehungen, obwohl keine Schwierigkeit besteht, sie einzugehen
  • Sehr geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, einschließlich gewalttätiges Verhalten
  • Fehlendes Schuldbewusstsein oder Unfähigkeit, aus negativer Erfahrung, insbesondere Bestrafung, zu lernen
  • Deutliche Neigung, andere zu beschuldigen oder plausible Rationalisierungen anzubieten für das Verhalten, durch welches die Betreffenden in Konflikt mit der Gesellschaft geraten sind

Sowohl Roy als auch Tyler erfüllen fraglos den Großteil der diagnostischen Kriterien, wobei in Fight Club, angesichts des massiven Zulaufs, welchen zunächst der Fight Club und später das Projekt Chaos haben, zusätzlich die Frage nach dem Ausmaß der unterschwellig vorhandenen, aber aufgrund gesellschaftlicher Normen unterdrückten, dissozialen Anteile in der (männlichen) Gesamtbevölkerung aufgeworfen wird.

Dies führt zu einer weiteren Gemeinsamkeit beider Filme: Die Darstellung (vermeintlich) dissoziativ gestörter Hauptcharaktere hat auch die Funktion des Hinweises auf dissoziative Elemente im gesamtgesellschaftlichen Geschehen.
In Zwielicht wird der simulierten Persönlichkeitsspaltung des wegen Mordes angeklagten Aaron/Roy die ihrerseits an Persönlichkeitsspaltung grenzende Bigotterie der herrschenden Klasse gegenübergestellt und die durchweg selbstsüchtigen, macht-, ruhm-, geldgierigen und perversen Motive der nach außen hin makellos anständigen Würdenträger aus Gesellschaft, Justiz und Kirche werden vorgeführt.
Fight Club thematisiert ausführlich die dissoziative Gefühlsabspaltung als Massenphänomen in einer Gesellschaft, die durch permanenten materiellen und medialen Passivkonsum und das axiomatische Gebot von Konformität und Selbstoptimierung in einem hypnotischen Zustand geduldeter Unterwerfung und Gefügigkeit gehalten werden soll, welcher wiederum (und hier schließt sich der Kreis) im eigensten Interesse der, in Zwielicht charakterisierten, herrschenden Minderheit sein soll.

Summa Summarum ist Roy ein kaltblütiger Mörder und Tyler ein Extremist und Terrorist. Einen Anstoß, dissoziative Phänomene im eigenen Alltagserleben wahrzunehmen und die Maximen der eigenen Lebensführung einer Überprüfung zu unterziehen, können uns die Filme dennoch liefern.

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Dexter: Dexter

Dexter Morgan, der sympathische Serienkiller aus dem sonnigen Miami – man muss ihn einfach mögen.
Dexter ist forensischer Blutspurenspezialist bei der Mordkommission der Polizei von Miami. Er ist der nette, harmlose, in seiner scheinbaren Schüchternheit irgendwie charmante Labornerd, der die Kollegen mit Donuts und genialen forensischen Analysen beglückt. Sogar eine Freundin mit zwei süßen Kindern hat er sich zugelegt, um die er sich rührend geduldig und verständnisvoll kümmert.
Nachts jedoch treibt es ihn immer wieder hinaus in die düsteren Winkel Miamis und der Conditio Humana, wo er seine Opfer aufspürt und ermordet. In der Regel handelt es sich dabei um Menschen, die aus niederen Motiven selbst gemordet haben und von der Justiz nicht belangt werden konnten. Dexters Antrieb ist aber nicht Selbstjustiz im Dienste der Gerechtigkeit, sondern ein innerer, unstillbarer Drang zu töten, dem er nicht dauerhaft widerstehen kann und den er durch die gezielte Auswahl seiner Opfer lediglich in vermeintlich richtige Bahnen zu lenken versucht. Dies hat zur Folge, dass er selbst wiederholt Ermittlungen sabotiert, um die dann entkommenen oder entlasteten Täter selbst zur Strecke bringen und sein Verlangen stillen zu können.

Dexters Drang zu morden begleitet ihn bereits seit der Kindheit und war offenbar niemals über längere Zeit erloschen. Dabei ist er durchaus in der Lage, die Umsetzung für einige Zeit aufzuschieben, zum Beispiel um nach einem geeigneten Opfer zu suchen oder eine günstige Gelegenheit abzuwarten. Dadurch wächst jedoch seine innere Anspannung und es fällt ihm immer schwerer, sich zurückzuhalten. Seine Gedanken engen sich zunehmend auf das Töten ein, bis es ihm kaum noch möglich ist, sich auf anderes zu konzentrieren, um in seinem Alltag zu funktionieren. Mit der Zeit hat er ein festes Ritual entwickelt, das er bei der Tötung seiner Opfer zumeist rigide befolgt und dessen Einhaltung einen maßgeblichen Teil seiner Befriedigung und Erleichterung durch das Morden ausmacht. Wenngleich Dexter seinen Drang als „dunklen Begleiter“ bezeichnet, ist er sich doch im Klaren darüber, dass er aus seinem Inneren, seiner eigenen Psyche entspringt und nicht etwa auf mystische oder magische Weise von außen eingegeben ist. Ebenso realisiert Dexter, dass sein Verhalten extrem ist und von fast allen anderen Menschen nicht akzeptiert, geschweige denn verstanden werden würde. Dexter ist nicht in der Lage, das Morden aufzugeben, wenngleich er dadurch immer wieder in extrem bedrohliche Situationen gerät: Mehrfach steht er kurz davor, erwischt zu werden, was in Florida die Todesstrafe bedeuten würde. Auch Personen die ihm nahe stehen, werden durch seine Aktivitäten gefährdet, mitunter sogar getötet. Nicht zuletzt ist er durch sein Doppelleben permanent extremem Zeitstress und chronischem Schlafmangel ausgesetzt.

Damit können wir Dexter eine Zwangsstörung, bei der Zwangshandlungen, sogenannte Zwangsrituale, im Vordergrund stehen (ICD-10: F42.1), diagnostizieren. Diese ist durch die folgenden Kriterien definiert:

  • Zwangsgedanken und/oder Zwangshandlungen treten über einen Zeitraum von mindestens zwei Wochen an den meisten Tagen auf
  • Sie werden als Produkte des eigenen Geistes erkannt und nicht als von Personen oder äußeren Einflüssen eingegeben betrachtet
  • Sie treten wiederholt auf, werden als unangenehm und zumindest teilweise unangemessen erlebt
  • Der Betroffene versucht, sie zu unterdrücken. Mindestens ein Zwangsgedanke oder eine Zwangshandlung kann nicht erfolgreich unterdrückt werden
  • Die Zwangshandlung ist an sich nicht angenehm (dies ist zu unterscheiden von einer vorübergehenden Erleichterung von Anspannung oder Angst)
  • Die Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen verursachen Beschwerden oder soziale Probleme
Im Verlauf der Serie erfährt Dexter (und mit ihm der Zuschauer) immer mehr über seine Vergangenheit. Er findet heraus, dass er im Alter von drei Jahren Zeuge des extrem sadistischen Mordes an seiner Mutter wurde, was er fortan als Ursache seiner psychischen Störung ansieht. Wir können jedoch davon ausgehen, dass bei deren Manifestation zumindest zwei weitere Faktoren eine wichtige Rolle gespielt haben:
Erstens war Dexters Mutter akut drogenabhängig. Dies, sowie ihr krimineller Umgang und die Affäre mit einem verheirateten, notorisch fremdgehenden Polizisten, für den sie gleichzeitig als Informantin tätig war, sprechen für eine nicht allzu gefestigte psychische Struktur. Folglich dürften Dexters frühe Beziehungserfahrungen oftmals verwirrend, ängstigend, enttäuschend und verunsichernd gewesen sein, weshalb wir annehmen können, dass seine psychische Struktur zur Zeit des Traumas bereits fragiler und somit störungsanfälliger war, als die von durchschnittlichen Dreijährigen.
Zweitens wurde Dexters Verarbeitung des traumatischen Erlebnisses über Jahre hinweg von seinem Ziehvater Harry, einem Cop alter Schule, geprägt. Dieser enthielt ihm psychotherapeutische Hilfe vor und vermittelte ihm stattdessen sein klassisch dichotomes Verständnis von gut und böse. Unablässig betrieb er die Abspaltung des traumatisierten Anteils als böses „Monster“, welches in Dexters Innerem lauern und in Form des Drangs zu töten an die Oberfläche drängen würde. Er hielt dieses Monster für nicht kontrollierbar und sah somit die einzige Möglichkeit der Schadensbegrenzung für Dexter und die Allgemeinheit darin, den Impuls wenigstens auf die, aus seiner Sicht, richtigen Opfer zu lenken.
Wir dürfen annehmen, dass Harry damit auch eigene Fantasien, die Bösen jenseits gerichtlicher Bürokratie gerecht bestrafen zu können, auf Dexter projizierte.
Dadurch blieb Dexter die Möglichkeit, seine Gefühle und Impulse besser zu verstehen und dadurch das Trauma adäquat zu verarbeiten, verwehrt. In einer Therapie hätte er lernen können zu begreifen, dass durch den brutalen Mord an seiner Mutter seine kindliche Welt in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Nichts konnte mehr als sicher gelten. Seine eigene Existenz, sowie alles was er liebte und brauchte, waren in einer Welt, in der etwas so schreckliches geschehen konnte, fundamental bedroht.

Diese Wahrnehmung kann die Seele eines Dreijährigen nicht verkraften, weshalb Dexters Psyche verschiedene Abwehrmechanismen einsetze um ihre Funktionalität irgendwie aufrecht zu erhalten: Erstens spaltete Dexter die Erinnerung an das Trauma über viele Jahre komplett ab, verdrängte das Erlebnis ins Unbewusste. Zweitens, quasi als Schutz vor eventuell doch ans Licht kommenden Erinnerungen, identifizierte sich Dexter unbewusst mit der einzigen Person, die angesichts der unfassbaren Gewalttat nicht um ihr Leben fürchten musste: Dem Mörder.





Das Dilemma, dass die einzige Sicherheit gebende Identifikationsfigur gleichzeitig auch zutiefst ängstigend und verhasst war, wurde durch eine nur unvollständige, gleichsam widerwillige Identifikation gelöst. Psychoanalytiker sprechen von einem „Täterintrojekt“: Dexter nimmt selbst die Rolle des Mörders ein und kann somit (gefühlt) nicht mehr zum Opfer werden.
Gleichzeitig erlebt er den Impuls zu morden aber als etwas störendes, falsches, eigentlich nicht zu ihm passendes. Er legt größten Wert darauf, sich von den anderen Mördern, die Unschuldige umbringen, zu unterscheiden und bringt sie, stellvertretend für den nicht internalisierten Teil des Mörders seiner Mutter, immer wieder um.

Dexter wurde also Opfer, machte sich, um die Opferrolle zu verlassen, selbst zum Täter, und vermeidet die Schuldgefühle eines Täters, indem er die Schuld auf andere Täter projiziert, die er dann zu gerechten Opfern macht.
Die Komplexität dieser Abwehrkonstruktion lässt bereits vermuten, dass das nie lange gut gehen kann. Und tatsächlich, nach jedem Mord dauert es nicht lange, bis der Zwang sich wieder meldet und unaufhaltsam auf Umsetzung drängt. All die verdrängten Gefühle (Angst vor der Destruktivität der Welt, Trauer um die Mutter, Hass auf deren Mörder, Schuldgefühle wegen der eigenen Täterschaft…) drängen ins Bewusstsein und drohen, Dexters sensibles psychisches Gleichgewicht zu zerstören, was ihn immer wieder dazu zwingt, dieses wieder in Ordnung zu bringen.
In seinem Tötungsritual wird das eindrucksvoll deutlich: 

  • Der ganze Raum wird sorgfältigst mit Plastikfolie ausgekleidet: Das Morden ist hier sauber, fast ein Akt der Reinigung, schmutzig sind die anderen Mörder – nicht Dexter. 
  • Vor ihrem Tod werden die Opfer mit den Opfern ihrer eigenen Gräueltaten konfrontiert: Dem Bösen wird damit ein fester Ort zugewiesen. Es ist im Anderen zu Hause, nicht bei Dexter. 
  • Dexter behält von jedem Opfer einen Blutstropfen auf einem Objektträger, welche er, fein säuberlich geordnet, in seiner Wohnung aufbewahrt: Das Opfer wird damit zur Fallnummer, zu einem Stück DNS unter vielen, somit entmenschlicht. Dexter ist ein Sammler, ein Wissenschaftler, so einer ist nicht wirklich böse. Brutale Mörder, und damit schuldig, sind die Anderen. 
Dexter selbst sieht sich (durch Harry dahingehend indoktriniert) als hoffnungslosen Fall. Der Kreislauf aus Zwangsgedanken, Mord, Erleichterung und erneutem Aufkommen der Zwangsgedanken wird solange weitergehen, bis er eines Tages gefasst und für seine Taten gerichtet wird. Davon geht Dexter, zumindest zu Beginn der Serie, fest aus.
Als Zuschauer haben wir allerdings durchaus Grund zur Hoffnung: Dexter verlässt zunehmend seine resignativ selbstgewählte innere Isolation. Die Bindungen, die er zunächst nur als Fassade eingegangen ist, lassen ihn nicht unberührt. Er entdeckt warme, emotionale Seiten in sich (dem vermeintlichen Monster) und dunkle, verborgene Seiten in den (vermeintlich guten) anderen, welchen er sich dadurch doch hin und wieder zugehörig fühlen darf.
Es beginnt eine schrittweise Ablösung von Harrys simplifizierender Ideologie, die er zunehmend nicht mehr als seine eigene betrachtet, sich aber auch noch nicht vollständig von ihr lösen kann, was sich in Form von halluzinierten Zwiegesprächen mit dem verstorbenen Harry niederschlägt: Dexter sieht Harry, hört seine Stimme und erlebt die darin geäußerten Gedanken als Harrys, nicht als seine eigenen.
Diese Symptome rechtfertigen zwar die Diagnose einer Paranoiden Schizophrenie (ICD-10: F20.0). Da uns aber weder Hinweise auf frühere schizophrene Episoden vorliegen, noch ein kognitiver oder motorischer Abbau erkennbar wäre, ist die Prognose günstig.
Wir können davon ausgehen, dass Dexter sich auf diese Weise nach und nach von Harry, seinen Zuschreibungen und Lösungsstrategien verabschiedet.
Und wir dürfen hoffen, dass er sich eines Tages vielleicht auch von seinem Zwang lösen und die Komplexität seiner Gefühle und Persönlichkeitszüge mithilfe realer zwischenmenschlicher Beziehungen zulassen und aushalten kann.
Bis dahin wünschen wir uns nichts sehnlicher, als dass der liebenswürdige, zigfache Serienkiller auch weiterhin ungeschoren davonkommt.
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