Babylon Berlin: Gereon und die Hypnose

Um es gleich klarzustellen, ich fand Babylon Berlin großartig. Stimmt schon, am Anfang wähnt man sich kurz in einer dieser ungelenken Schauspielszenen einer ZDF-Historiendokumentation, aber ich glaube, dass ist nur eine Frage der Gewohnheit, denn bereits nach ein, zwei Folgen, entwickelt die spannende Geschichte mit ihren vielen interessanten und zum Teil psychologisch komplexen Figuren ihren Reiz und ließ zumindest mich nicht mehr los. Den Kritikpunkt, dass nicht alles historisch korrekt ist, finde ich irrelevant, da es sich ja nunmal nicht um eine Dokumentation handelt – und inwieweit die Darstellungen in House of Cards, Vikings oder Mindhuntervollständig mit der Realität korrespondieren, interessiert ja auch die wenigsten. Zudem scheint einiges doch auch recht realitätsnah dargestellt zu sein, zumindest wenn man dem sehr interessanten Podcast von Radio Eins 1929 -Das Jahr Babylon glauben darf.

Alles beginnt – wie damals bei den Sopranos – mit einer Psychotherapieszene. Gereon Rath lässt sich hypnotisieren – eine damals gängige Behandlungstechnik bei nervösen Leiden. Hypnotische Trance bezeichnet – entgegen mystifizierenden populärwissenschaftlichen Klischees – einfach einen Zustand der entspannten Fokussierung, das heißt, durch die Konzentration auf bestimmte Reize (Körperwahrnehmungen, die Stimme des Hypnotisieurs, einen sich bewegenden Finger oder ein Pendel etc.) findet eine zunehmende Ausblendung der Vielzahl anderer Reize und Gedanken statt, wodurch innere Ruhe und eine gelassene und dafür umso konzentriertere Fokussierung auf bestimmte Themen, Gedanken, Erinnerungen etc. möglich wird. Für die heutige Psychotherapie hat die Hypnose besondere Bedeutung, nicht weil sie heute noch breit angewendet würde – sie führt eher ein Nischendasein im Rahmen der Richtlinienpsychotherapie – sondern weil sie sozusagen den historischen Vorläufer der uns heute bekannten Psychotherapie darstellt. 
Im späten neunzehnten Jahrhundert, als es noch keine Psychotherapie, wie wir sie heute kennen, gab, wurde die damals im Bürgertum vermehrt auftretende Hysterie (eine damals noch unscharf definierte Bezeichnung für eine Vielzahl psychopathologischer Symptome, wie z.B. emotionale Instabilität, psychogene Krampfanfälle, Dissoziation, Panik usw.) von einigen, als progressiv geltenden, Ärzten durch Hypnose zu behandeln versucht. Ein populärer und international angesehener Protagonist dieser Bewegung war der Pariser Arzt Jean-Martin Charcot (Wikipedia), dessen eindrückliche Behandlungserfolge, oft vor Medizinstudenten und internationalen Kollegen, zwar ebenso wie heutige Showhypnosen einen erheblichen Anteil an Charisma, Showtalent und Suggestibilität der Proband*innen/Patient*innen enthielten, aber dennoch die Hoffnung auf Behandlungsmöglichkeiten psychischer Leidenszustände jenseits von Kältebädern, Lobotomien und anderen mehr oder weniger grausamen Therapien nährten. 
Zwei Bewunderer Charcots in dieser Zeit waren der Wiener Arzt Josef Breuer und sein junger, wissbegieriger Kollege Sigmund Freud. Letzterer reiste gar nach Paris und zeigte sich beeindruckt von Charcots Fallvorführungen. Breuer und Freud begannen ihrerseits die – vor allem, aber nicht nur – Damen der besseren Wiener Gesellschaft im Falle von Hysterie und anderer seelischer Leiden mit Hypnose zu behandeln und hatten damit nicht selten Erfolg, was den Glauben an die Methode zunächst stärkte. Bis schließlich Dr. Breuer die Entdeckung machte, die den Grundstein für die moderne Psychotherapie legen sollte. Er stellte fest, dass auch ohne einer zuvor induzierte hypnotische Trance ein zugewandtes, vertrautes, einfühlsames Gespräch mit der Patientin über Inhalte welche diese als belastend oder beschämend erlebte, zur Reduktion der Symptomatik führte und dass sich dieser Effekt durch wiederholte Gespräche ausbauen und stabilisieren ließ. Heureka! – Die sogenannte „Redekur“ war geboren. Josef Breuer und Sigmund Freud gaben die „Studien über Hysterie“ heraus und begründeten damit die sprechende Psychotherapie. Der Rest ist Geschichte und die Psychotherapie gut hundert Jahre später eine unverzichtbare, vielfältige, evidenzbasierte und noch wie am ersten Tag faszinierende Behandlungsmethode. 
Der Wirkmechanismus der Psychotherapie erschöpft sich allerdings nicht in der beschriebenen zugewandten, offenen, haltgebenden und wertschätzenden Haltung – dem sog. Primärprozess. Sonst wäre Psychotherapie nichts anderes, als eine gute Freundschaft oder Elternbeziehung. Um Psychotherapie wirksam zu machen, bedarf es zusätzlich, gleichsam auf der Basis eines stabilen Primärprozesses, der aktiven Spiegelung, wohlwollenden Konfrontation und Aufforderung zur kritischen Reflektion des Erlebten – des sog. Sekundärprozesses. Seriöse, wissenschaftlich fundierte Psychotherapien zeichnen sich gerade durch die Kombination, das gegenseitige Sich-Bedingen von Primär- und Sekundärprozess aus. Die Unzulänglichkeit von Methoden, die nur auf einen der beiden Prozesse abzielen, liegt auf der Hand. 
Ein Primärprozess ohne Sekundärprozess, also eine perfekt positive Beziehung ohne kritische Reflektion, kann zwar dazu führen, dass sich die Patient*in aufgehoben und verstanden und dadurch zunächst besser fühlt. Es unterbleibt jedoch die notwendige persönliche Weiterentwicklung und auch die Reflektion der therapeutischen Beziehung selbst, so dass es nicht die durch die Therapie angestoßene Entwicklung, sondern die regelmäßigen therapeutischen Gespräche selbst sind, die so gut tun. So kann es zur Idealisierung der Therapeut*in kommen und die Patient*in in eine emotionale Abhängigkeit geraten. Die eigenen Entwicklungspotentiale und auch die oft notwendige Arbeit an wichtigen Beziehungen außerhalb der Therapie können dadurch blockiert werden, was die Angst vor dem letztlich unvermeidlichen Ende der Therapie verstärkt und im Bereich der pseudowissenschaftlichen Psychotherapieszene mitunter zu jahrelangen, letztlich ausbeuterischen „Therapien“ auf Selbstzahlerbasis führt. 
Im umgekehrten Fall, also der rein kognitiv-rationalen Reflektion und Erarbeitung von Lösungsansätzen (Sekundärprozess), ohne den Aufbau und die sorgfältige Pflege einer empathischen, die authentische, tiefgehende Selbstöffnung fördernden Beziehung (Primärprozess), lassen sich durchaus Probleme lösen, z.B. das eigene Zeitmanagement verbessern, oder eine Strategie für Verhandlungen planen usw.. Die tiefen, oft unbewussten inneren Konflikte, welche die Umsetzung der vermeintlich einfachen oder klaren Lösungen im Alltag eben oft verhindern, werden jedoch nicht erreicht und die für die Lösung wirklich komplexer, widersprüchlicher, tief scham- und schuldbehafteter Probleme Weiterentwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Darin besteht der Unterschied zwischen Angeboten aus dem Coaching- und Beratungsspektrum und der Psychotherapie als Heilbehandlung.
Auch im Hinblick auf die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist, ausgehend von Freuds Arbeit, in den letzten hundert Jahren viel vorangegangen, auch wenn nach wie vor viel zu tun bleibt (Hierzu lohnt immer wieder ein Blick auf das Betroffenenforum themighty.com). Davor, und eben auch noch in den neunzehnhundertzwanziger Jahren, um damit wieder zum eigentlichen Thema Babylon Berlin zurückzukehren, hatten es psychisch Kranke oft noch viel schwerer, als dieser Tage – zumindest in Deutschland (was es übrigens derzeit wieder zu verteidigen gilt!).
Deshalb muss Gereon Rath heimlich zur Hypnose gehen und setzt zunächst alles daran, seine Krankheit, die damals als Kriegszittern bezeichnet wurde, geheim zu halten, um in der rauen Welt der Berliner Polizei nicht als schwach oder feige wahrgenommen zu werden. Bei den sogenannten Kriegszitterern, oder auch Schüttelneurotikern, oder Flattermännern, wie es Kollege Wolter wenig einfühlsam ausdrückt, handelte es sich überwiegend um vom ersten Weltkrieg traumatisierte Heimkehrer mit dem Krankheitsbild, das wir heute als posttraumatische Belastungsstörung bezeichnen (Eine auführliche Beschreibung dieses Krankheitsbildes findet sich im Beitrag über Rambo). Wirklich anerkannt wurde diese gravierende mögliche Folge von Kriegseinsätzen erst nach dem Vietnamkrieg. 
Heute stehen zum Glück elaborierte psychotherapeutische Behandlungsmethoden zur Verfügung, während Gereon sich noch mit Hypnose und Morphin, welches durch die sedierende Wirkung das Zittern und die Panik reduziert, aber eben auch ein hohes Suchtpotenzial hat, behelfen musste. Das Zittern ist letztlich eine körperliche Manifestation der panischen Angst, welche die Betroffenen infolge von auslösenden, an die traumatische Situation erinnernden Reizen, sog. Triggern (z.B. einen Pistolenschuss), erleben. Physiologisch werden bei Angst unter anderem Herzfrequenz, Atemgeschwindigkeit und Muskelspannung erhöht, um Energie zum Kämpfen oder Fliehen (das sog. Fight-or-Flight-Syndrom) zur Verfügung zu stellen. Da diese Energie in der Lebenswelt des modernen Menschen selten in der dafür vorgesehenen Weise abgebaut werden kann (bzw. es Gereon ja überraschend gut zu gehen scheint, wenn er tatsächlich kämpfen oder fliehen muss), kommt es zur physischen Übererregung und dem Abbau der Anspannung in Form des unwillkürlichen Zitterns.
Mir würde zu Babylon Berlin noch mehr einfallen, aber da ich heute offenbar Probleme habe, bei der Sache zu bleiben, soll es das erstmal gewesen sein.

Mehr zu Babylon Berlin gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast zu hören!

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13 Reasons Why/Tote Mädchen lügen nicht – Staffel 2

Es war irgendwie klar, dass es eine zweite Staffel von 13 Reasons Why (Tote Mädchen lügen nicht) geben würde, angesichts des Erfolgs der ersten Staffel und der Ungerührtheit Netflix´ gegenüber der berechtigten Kritik. Alles, was an Staffel 1 gut war, wird in Staffel 2 erfolgreich fortgesetzt: Die (relative) Authentizität, das Gespür für die Wahrnehmungen, Themen und Entwicklungsprozesse von Jugendlichen, die ungewohnt mutige Darstellung und Reflektion schwieriger Themen. Zudem hat sich Netfilx bemüht, durch Warnhinweise und Statements einiger Darsteller nachträglich auf die Kritik angesichts des hohen Risikos von Werther-Effekten zu reagieren – was zwar grundsätzlich löblich, jedoch in dieser Hinsicht völlig unzureichend ist, da es sich um rationale Information handelt, welche der in hohem Maße zu emotionaler Identifikation einladenden Darstellung der Hannah aus Staffel 1 im Zweifel wenig entgegenzusetzen hat. 

Jedoch scheinen die Serienmacher*innen tatsächlich aus den Fehlern von Staffel 1 gelernt zu haben. Hannahs Suizid wird in Staffel 2 wesentlich kritischer und differenzierter betrachtet. Sie selbst wird nicht mehr posthum zur idealisierten Hauptidentifikationsfigur stilisiert, ihre Ratlosigkeit, Unzulänglichkeit, Überforderung und auch ihr jugendlicher Egozentrismus, werden in den durch Clay imaginierten Dialogen deutlicher. Es ist spürbarer, dass Hannah nicht mehr aktiv am Geschehen teilnimmt, sondern nur ein Bild für Clays innere Zerrissenheit ist. Die zweite Staffel wird nicht mehr aus ihrer, sondern aus mehreren Perspektiven, allesamt lebender Personen, erzählt. Schließlich wird auch Hannahs eigene Ambivalenz durch eine Liste mit elf Gründen gegen den Suizid zumindest angedeutet – wenngleich das Problem, dass Suizide selten so rational abgewogene Handlungen sind, wie es bei Hannah den Anschein hat, hierdurch weiter bestehen bleibt.
Ein sehr wichtiger Unterschied zu Staffel 1 besteht außerdem darin, dass Auswege aus vielen schwierigen, und manchmal zunächst ausweglos erscheinenden, Situationen aufgezeigt werden: Justins Drogenabhängigkeit, Jessicas sexuelles Trauma, Skyes psychische Erkrankung, Alex´ Suizidalität, selbst Tylers Rachephantasien. Die Serie macht an diesen Beispielen deutlich, dass es immer Möglichkeiten gibt, auch in schwierigsten Lebenssituationen Hilfe zu bekommen und Verbesserungen zu erreichen. Gleichzeitig schaffen es die Autor*innen, dabei nicht in Beschönigung oder Verharmlosung zu verfallen: Der Weg ist steinig, von Rückschlägen und Verzweiflung begleitet und, ja, er kann auch scheitern. Aber alleine die Darstellung unterschiedlichster Möglichkeiten, von professioneller psychiatrischer Behandlung, Selbsthilfegruppen, Antiaggressionstraining, bis zum Beistand durch Freund*innen und Eltern (bis auf Justin und Monty haben die Kids ja recht bemühte und funktionale Eltern) ermöglicht gerade jugendlichen Zuschauer*innen eine wesentlich differenziertere und auch realitätsnähere Sicht auf den Umgang mit persönlichen, sozialen und psychischen Problemen. Während die erste Staffel also hinsichtlich Suizidprävention so ziemlich alles falsch gemacht hat, wird in der zweiten Staffel von Lösungsmöglichkeiten und konstruktiven Alternativen zum Suizid berichtet, was wiederum Zuschauer*innen, die selbst von suizidalen Gedanken betroffen sind, Hoffnung machen und dazu anregen, sich Hilfe zu suchen – und zwar durch die emotionale Identifikation mit den handelnden jugendlichen Charakteren, deren Lebens- und Gedankenwelt vertraut scheint, was wirksamer ist, als die bloße Information darüber, dass es Notfallhotlines gibt und wie man sie erreicht (welche natürlich dennoch notwendig ist). Diesen quasi umgekehrten Werther-Effekt bezeichnet man nach Mozart als Papageno-Effekt
Insofern ist Clays Reflektion in der letzten Folge, dass durch Liebe Licht in diese oft als dunkel empfundene Welt gebracht werden kann, so wahr wie an dieser Stelle wichtig. Liebe im weitesten Sinne: Aufmerksamkeit, Respekt, das Bemühen darum die Perspektive der/s anderen einzunehmen und zu verstehen, vorgefasste Meinungen und Urteile zu überprüfen und die eigenen Anteile sowie die gesellschaftlichen Einflüsse auf das zwischenmenschlichen Geschehen zu reflektieren. Gesprächsbereit zu bleiben, sich selbst und anderen zweite und dritte Chancen zu geben. Natürlich geht Clay selbst dabei oft zu weit: Einem schwer Bewaffneten sollte man sich niemals so in den Weg stellen, wie er es tut. Diese letzte Szene sollten wir eher als Metapher dafür sehen, das Gegenüber nicht aufzugeben, im konkreten Fall aber das Verhandeln den Profis überlassen. 
Es ist, wie bereits erwähnt, richtig und wichtig, dass die Serie in dieser Staffel professionelle psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung als hilfreiche Option beschreibt. Deutlich wird das an Skye, die sich in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung begibt. Es wird eine bipolar affektive Störung (ICD-10: F31) diagnostiziert, welche durch einen Wechsel zwischen depressiven und manischen Phasen gekennzeichnet ist. Hinweise auf depressive Phasen sind Skyes Selbstverletzung und der Eindruck, dass ihr suizidale Gedanken per se nicht ganz fremd sind. Manisches, also in pathologischer Weise antriebsgesteigertes, enthemmtes und kontaktfreudiges Verhalten, wird in der Szene, in welcher sie bei Clays Eltern eingeladen ist, angedeutet. Meinem Eindruck nach könnte man auch eine emotional instabile Persönlickeitsstörung vom Borderline-Typ (ICD-10: F60.31) diagnostizieren. Auch diese würde Skyes Selbstverletzung und Stimmungsschwankungen erklären, zudem ihre Unsicherheit in der Beziehung zu Clay, die impulsive Eifersucht auf Hannah und auch ihre Aussage, dass sie „all diese Gefühle“ in sich habe und diese schwer kontrollieren könne. Letztlich müssten wir noch mehr über Skye wissen, um die Frage in ihrem speziellen Fall beantworten zu können.
Auch Jessica begibt sich, wenn auch zunächst widerwillig, in professionelle Hilfe: Eine Gesprächsgruppe für Opfer sexueller Gewalt. Sie erlebt hier die heilsame Wirkung von Gruppentherapie, die bereits in den 1970er Jahren von dem amerikanischen Psychotherapeuten Irvin D. Yalom beschrieben wurde. Durch den Austausch mit Menschen, die ähnliches erlebt haben, macht sie die in diesem Moment intensiv emotional spürbare Erfahrung, nicht alleine zu sein, was mehr ist, als das bloße rationale Wissen darum, dass es natürlich andere Opfer sexueller Gewalt gibt. Darüber hinaus erlebt Jessica durch andere Gruppenmitglieder, die in ihrem therapeutischen Prozess bereits weiter fortgeschritten sind, dass es Hoffnung auf Linderung und auf ein Leben mit weniger starken Beeinträchtigungen gibt, als sie es aktuell führt und sieht ganz konkrete Modelle, wie die nächsten Schritte aussehen könnten. Schließlich gelingt es Jessica, detailliert über ihr Trauma zu sprechen. In der Serie geschieht das, wohl auch aus dramaturgischen Gründen, vor Gericht. Das muss aber nicht unbedingt so sein. Die Entscheidung, ob ein sexuell traumatisierter Mensch Anzeige erstattet und den (in der Realität im Ergebnis leider oft ebenso wie in der Serie enttäuschenden) juristischen Weg beschreitet, ist hochindividuell und niemandes Entscheidung, als die des Betroffenen selbst. So findet auch Jessica erst durch den Gruppenprozess – in diesem Fall vor allem den Entwicklungsprozess in der Gruppe ihrer Freunde, welche es endlich schaffen, sich vorbehaltlos hinter sie zu stellen, statt sie in die eine oder andere Richtung drängen zu wollen – zu dem Mut und der Kraft, für sich die Entscheidung zu treffen, Bryce anzuzeigen und auszusagen. Hierdurch erlebt sie die befreiende Wirkung des vollständigen Sich-Öffnens in einer vertrauten sozialen Umgebung und fühlt sich dadurch befreit. Diesen Effekt bezeichnet die Psychoanalyse als Katharsis (Reinigung): Dadurch, dass sie ihr Schweigen bricht, gewinnt sie Kontrolle über die Auswirkungen ihres Traumas im Hier und Jetzt zurück, fühlt sich dadurch freier und handlungsfähiger, wo sie zuvor durch Flashbacks und die Vermeidung bestimmter Situationen (z.B. körperlicher Nähe oder sich selbst nackt zu betrachten) – Kernsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) – stark eingeschränkt war. Deshalb ist es für sie auch weniger bedeutsam, dass der Richter ein viel zu mildes Urteil fällt – sie hat ohnehin nicht wirklich zu ihm oder Bryce, sondern zu sich selbst und den Menschen, die in ihrem Leben auch weiterhin wichtig sein sollen, gesprochen.
Und dann ist da noch die Gewaltspirale, deren Eskalation, neben dem Prozess um Hannah, die zweite Haupthandlung der zweiten Staffel darstellt. Es gibt noch immer keine treffendere Beschreibung, als die von Yoda aus Star Wars Episode I: Furcht führt zu Wut. Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid. In Staffel 2 von 13 Reasons Why lernen wir, dass dieser Prozess schon sehr früh begonnen hat. Er beginnt beim kleinen Bryce, dessen Eltern nicht präsent sind, um ihm Grenzen zu setzen und Empathie zu vermitteln. Beim kleinen Justin, der früh mit Minderwertigkeitsgefühlen und drohender Ausgrenzung aufgrund seiner familiären Herkunft zu kämpfen hat, beim kleinen Monty, dessen Vater ihn misshandelt und ihn damit in einer Welt aufwachsen lässt, die sich in Starke und Schwache, Täter und Opfer teilt und in der es sicherer ist, möglichst oft der Starke, der Täter zu sein, um möglichst nicht Opfer zu werden. Bei allen dreien, ja, auch Bryce, ist es das früh gesäte Minderwertigkeitsgefühl, dass es notwendig macht, sich ständig über andere zu erheben, um sich der eigenen Wertigkeit in Form sozialer Abwärtsvergleiche zu versichern: Wenn die anderen klein genug gemacht werden, kann selbst der Unsicherste sich groß und stark fühlen. Was bei Monty und Justin offensichtlich ist – auch bei Marcus, dessen Vater bedingungslosen Ehrgeiz und Erfolg fordert und sich dabei selbst als gleichsam unerreichbares Vorbild geriert – ist der Minderwertigkeitskomplex offensichtlich, bei Bryce weniger. Doch auch seine psychische Entwicklung nimmt Schaden, dadurch dass er keine wirkliche empathische Spiegelung, also ein verlässliches, authentisches, differenziertes Eingehen auf seine Gefühlsäußerungen und sein Verhalten erfährt. Er scheint kaum Möglichkeiten zu haben, sich die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu sichern. Alles was er hierfür tut, führt lediglich zur Bewunderung durch andere, auf die es aber zunächst gar nicht ankommt. Auch weil diese Bewunderung vergiftet ist durch seinen sozialen Status. Er kann sich nie sicher sein, ob er als Person gemeint ist, oder nur sein Reichtum, der familiäre Einfluss oder die bloße Angst vor ihm oder seinem Vater. Symptomatisch ist die Szene, in welcher das ganz Stadion seinen Sieg beim Football bejubelt, er jedoch einsam und verloren wirkt, weil niemand da zu sein scheint, der sich auch für ihn interessieren würde, wenn der Erfolg ausbleibt. Seine Eltern hatten mal wieder keine Zeit zum Spiel zu kommen… 
Sie alle stabilisieren ihr eigenes, fragiles Selbstwertgefühl auf Kosten anderer, vorzugsweise der vermeintlich Schwächsten, um sich im Vergleich stark und sicher zu fühlen. Viele bekommen das zu spüren, am stärksten Tyler. Je mehr er gemobbt wird, umso unsicherer wird er, was wiederum dazu führt, dass er sozial gehemmt und ungeschickt agiert und sich neuem Spott aussetzt. Auch er beginnt nach Möglichkeiten zu suchen, sich einmal stark und mächtig zu fühlen und verfällt immer stärker Gewaltphantasien. Dabei zeigt auch seine Entwicklung, dass es eben nicht vergeblich ist, sich um andere, die am Rand stehen und sich gegen die Gesellschaft zu wenden drohen, zu kümmern. Immer wieder schöpft Tyler Hoffnung, versucht sich zu integrieren, sich zu öffnen, Freunde und Liebe zu finden. Manchmal ist es Pech, manchmal Zufall, manchmal auch die Boshaftigkeit derer, die ihren Schmerz auf einen Schwächeren projizieren müssen, die Tyler letzten Endes doch immer weiter in die Isolation treiben. Dieser Prozess wird glaubhaft dargestellt. Zum Glück scheint er auch am Ende noch nicht zu Ende zu sein…

HILFE BEI SUIZIDGEDANKEN, MOBBING UND ANDEREN KRISEN FINDEST DU IN DER KLINIK FÜR (KINDER- UND JUGEND-) PSYCHIATRIE IN DEINEM LANDKREIS ODER ANONYM BEI DER TELEFONSEELSORGE!

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Flesh and Bone: Claire

Das Titelbild der Starz-Miniserie zeigt eine dünne, fast nackte Tänzerin in düsterer, ebenso fast nackter Umgebung. Der Titel lautet Flesh and Bone. Setting ist das Ballett. Man muss nicht allzu kreativ sein, um sich auszumalen, dass es um Leistungsdruck, Selbstwertprobleme, Essstörungen und sexuellen Missbrauch gehen wird. 
Und – so die Erkenntnis nach den ersten beiden Folgen – so ist es dann auch.
Anders als in der parallel laufenden, heiteren Amazon-Serie Mozart in the Jungle, wo Leistungsdruck und Selbstausbeutung der New Yorker Symphoniker immer wieder durch die Liebe zur klassischen Musik und die auf dieser gemeinsamen Basis entstehenden Begegnungen und Beziehungen belohnt werden, ist der Ballettbetrieb in Flesh and Bone ein feindseliger und traumatisierender Ort, an dem jeder (mehr oder weniger erfolgreich) für sich selbst und (meist weniger erfolgreich) gegen die eigenen Dämonen kämpft.
Diese Dämonen sind Selbstzweifel, Versagensängste, Essstörungen, Drogensucht und Traumata. Schon in der ersten Folge erfahren wir, dass Claire wiederholt sexuell missbraucht wurde – und zwar von ihrem Bruder. Wie viele (aber, entgegen mancher Darstellung nicht alle) Opfer sexuellen Missbrauchs, zeigt Claire Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). 
Sie war, was die Grundvoraussetzung ist, einem Erlebnis von außergewöhnlicher emotionaler Belastung ausgesetzt. Da sich dieses Erlebnis über einen längeren Zeitraum immer wieder wiederholt hat, spricht man von einem Typ-II-Trauma (im Gegensatz zum Typ-I-Trauma, bei dem der Auslöser ein einzelner Vorfall von katastrophalem Ausmaß, z.B. ein Gewaltverbrechen oder eine Naturkatastrophe ist).
Das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln ist besonders hoch bei Typ-II-Traumata, die durch nahestehende Personen ausgelöst werden, wobei es sich meist um körperliche Gewalt, psychischen oder eben sexuellen Missbrauch handelt. Das erhöhte Erkrankungsrisiko ergibt sich vermutlich daraus, dass den Betroffenen oft Mitverantwortung und Schuldgefühle vermittelt werden, die Gefühle gegenüber dem Täter widersprüchlich sein können, sie sich aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen oder Angst vor Strafe und Stigmatisierung keine Hilfe holen oder das Erlebte durch andere Bezugspersonen infrage gestellt, bagatellisiert oder verheimlicht wird.

Claires posttraumatische Belastungsstörung zeigt sich in Form der folgenden, charakteristischen Symptome:

  • Sie erlebt eine starke innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen. Am offensichtlichsten ist dies bei Kontakt zu ihrem Bruder, dem Täter. Aber auch in anderen Situationen, in denen sich ihr Männer ungefragt oder unerwartet körperlich annähern, wie zum Beispiel ihr Tanzlehrer, Tanzpartner oder der Hauptsponsor des Balletts, fühlt sie sich sichtlich sehr unwohl.
  • Folglich versucht sie, entsprechende Situationen zu vermeiden. Sie bleibt gegenüber Männern distanziert und scheint keine Freude daran zu haben, sich verführerisch zu kleiden oder zu flirten.
  • Sie zeigt deutliche Symptome chronisch erhöhter psychischer Erregung, wie Hypervigilanz (erhöhte Wachsamkeit) und Schreckhaftigkeit (insbesondere bei Berührungen und im Kontakt mit Männern) sowie Einschlafstörungen.
Drei weitere Aspekte von Claires posttraumatischer Belastungsstörung sind zwar für die Diagnosestellung nicht erforderlich, aber dennoch interessant genug, um eigens thematisiert zu werden.

1. Claire verletzt sich selbst. Selbstverletzendes Verhalten (häufig in Form von Ritzen mit Rasierklingen oder Verbrennen mit Feuerzeugen oder Zigaretten) kann infolge sexuellen oder psychischen Missbrauchs auftreten. Claire schlägt sich mit ihrem Ballettschuh auf den Fuß und das immer in Situationen, die direkt oder indirekt mit ihrem Trauma zu tun haben, nämlich bei Kontakt zu ihrem Bruder, oder wenn sie beispielsweise von ihrem Tanzlehrer erniedrigt wurde, was die alten Scham- und Schuldgefühle reaktualisiert haben dürfte. Dabei scheint die Selbstverletzung den Effekt zu haben, dass intensive der physische Schmerz für einige Momente die noch schlimmeren Gedanken und Gefühle verdrängt und die Situation dadurch erträglicher macht.

2. Claire behandelt ihre Einschlafstörungen indem sie ihren ganzen Körper mit Büchern beschwert. Wie oben beschrieben, sind Schlafstörungen ein typisches Symptom posttraumatischer Belastungsstörungen. Claires Behandlungsmethode ist dagegen eher ungewöhnlich, gleichwohl aber kreativ und scheint für sie gut zu funktionieren. Sie bedient sich dabei (vermutlich ohne dies zu wissen) des therapeutischen Effekts, dass das Gefühl von Schwere mit muskulärer Entspannung assoziiert ist und somit zunächst körperliche und in der Folge auch psychische Entspannung fördern kann. Therapieverfahren die diesen Effekt ebenfalls nutzen sind zum Beispiel die Schwereübung im Autogenen Training oder der Einsatz von Sanddecken in der Körpertherapie.

3. Claire wird als Balletttänzerin ständig retraumatisiert. Ohne dies bewusst zu beabsichtigen, setzt sie sich immer wieder Situationen aus, die mehr oder weniger deutlich an ihre traumatische Missbrauchserfahrung erinnern. Als Tänzerin ist sie Objekt sexueller Begierde, wird auf ihre Physis reduziert, die Persönlichkeit ist uninteressantes oder gar störendes Beiwerk. Ihr Körper wird entblößt, öffentlich zur Schau gestellt, kritisch bewertet, ungefragt angefasst und erbarmungslos geschunden. Dennoch setzt sie alles daran, Tänzerin zu sein und zu bleiben. Psychologen sprechen hierbei von Reinszenierung oder auch von Wiederholungszwang.

Es gibt verschiedene Erklärungen für dieses Phänomen. Zum einen ist denkbar, dass Claire durch die ständige Konfrontation mit diesen für sie so unangenehmen Erfahrungen ein hohes Erregungsniveau aufrecht erhält und somit unbewusst verhindert, dass in ihrem Bewusstsein Raum für die Erinnerung an ihr ursprüngliches Trauma und damit für die noch unangenehmeren Gefühle und Gedanken entsteht.

Ein alternativer Erklärungsansatz wäre ein unbewusster Wiedergutmachungswunsch: Claires ursprüngliche Traumatisierung ist geschehen und nicht mehr aus ihrer Lebensgeschichte zu löschen. Indem sie immer wieder Situationen aufsucht, die zwar ähnlich sind, aber im Hier und Jetzt stattfinden, wo sie sich, zumindest theoretisch, verteidigen oder innerlich stärker abgrenzen könnte, versucht sie unbewusst, eine bessere Erfahrung zu machen, sich selbst nicht als Opfer, sondern wehrhaft und stark zu erleben und somit ihre früheren Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld und Scham zu überwinden.

Die Tragik besteht darin, dass Claire dieser Zusammenhang nicht bewusst ist, wodurch sie immer wieder von ihrer eigenen Reinszenierung überrascht wird, unvorbereitet in für sie bedrohliche Situationen gerät und ihre alten Wunden umso mehr schmerzen.

Und siehe da: Auf einmal verstehen wir doch, warum Claire sich all dem aussetzt. Warum sie tanzt und tanzt, hinfällt und weitertanzt, als ginge es um ihr Leben. Es geht tatsächlich darum, ob ein neues Leben, auch und gerade mit den alten Wunden, möglich ist. Man darf gespannt sein, wie der Tanz auf Messers Schneide endet.


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Into the Badlands: Trauma als Chance

Die erste Staffel von Into the Badlands scheint erst der Auftakt zu einer längeren Geschichte zu sein und lässt uns über die weitere Handlung und die tieferen Themen, zugunsten des Schwerpunkts auf Ästhetik und Martial Arts-Action, zunächst noch im Unklaren.
Es scheint sich aber eine Reise, möglicherweise eine Art Odyssee, anzukündigen. Die Odyssee im Speziellen und das Motiv der Reise im Allgemeinen werden psychologisch meist als Metapher für die Entwicklung der Persönlichkeit gesehen, bei welcher ebenfalls richtige Wege gefunden, Probleme gelöst, aus Fehlern gelernt, Hürden überwunden und gegen Widerstände beharrt und trotz Frustration und Verzweiflung weitergegangen werden muss. Meist lockt am Ende die Heimkehr, gleichsam die Selbstfindung, und mit der einen wie der anderen ein relativer, zumindest für einige Zeit stabiler, Seelenfrieden.

Wohin die Reisen von Sunny und M.K. in Into the Badlands führen werden, wissen wir noch nicht – die erste Staffel scheint eher dem Zweck zu dienen uns klar zu machen, woher, sprich: Aus welcher äußeren und inneren Situation, die beiden kommen. Die Welt von Into the Badlands ist eine Welt des Traumas, wie uns bereits im Intro der ersten Folge vermittelt wird: Die Kriege liegen so lange zurück, dass sich niemand mehr an sie erinnert. Dunkelheit und Angst regierten das Land… Diese Welt wurde auf Blut errichtet. Hier ist niemand mehr unschuldig

Nahezu alle Protagonisten sind traumatisiert, das heißt, sie waren Erlebnissen und Erfahrungen von außergewöhnlicher Bedrohung und emotionaler Belastung ausgesetzt. 
  • Sunny ist ein Waisenkind und Kindersoldat, der bereits als Knabe töten musste um nicht selbst getötet zu werden und bis heute unzählige Male dazu gezwungen war.
  • Gleiches gilt für Quinn.
  • M.K. wurde entführt, seine Angehörigen ermordet.
  • Auch Ryder wurde entführt und dabei noch gefoltert.
  • Tilda wurde sexuell missbraucht.
  • Veil verliert ihre Eltern auf brutale Weise.
Und das ist nur das, was wir bisher wissen…
In der Psychopathologie unserer Welt werden verschiedene psychische Störungen beschrieben, die als Reaktion auf ein Trauma auftreten können.

Die wohl geläufigste in diesem Zusammenhang ist die Posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1), die sich unter anderem durch Alpträume, Flashbacks (lebhafte, traumartige Erinnerungen während des Wachseins), erhöhte Schreckhaftigkeit, innere Anspannung, Reizbarkeit und Impulsivität auszeichnet, so wie wir sie bei Sunny und M.K. beobachten können.
Bei länger andauernden oder wiederholten Traumatisierungen kann anstelle oder infolge einer Posttraumatischen Belastungsstörung auch eine Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) auftreten. Diese kann durch eine feindselige oder misstrauische Grundhaltung, sozialen Rückzug, chronische innere Anspannung sowie Gefühle von Bedrohung durch Andere, Entfremdung, Leere, Hoffnungslosigkeit und Selbstzweifel gekennzeichnet sein. Ein solches Symptombild erkennen wir bei Ryder, der das Trauma seiner Entführung vielleicht deshalb so schlecht verarbeitet hat, weil er zusätzlich den ständigen Zweifeln und Entwertungen seines Vaters ausgesetzt war.
Ebendieser Vater, Quinn, wiederum zeigt eine weitere psychische Störung, deren Auftreten durch traumatische Erlebnisse zumindest begünstigt werden kann. Indem er seine eigenen Gefühle mit Opium betäubt und sich so das für seine Gewaltherrschaft nötige Selbstbewusstsein künstlich zuführt hat er ein Opioid-Abhängigkeitssyndrom (ICD-10: F11.2) entwickelt.


Zumindest für Sunny und M.K. besteht allerdings noch Hoffnung. Der Leidensdruck des unverarbeiteten Traumas ist der Motor des Aufbruchs zur Veränderung. Ob man die Badlands verlassen will, oder sich seinen Traumata in einer Psychotherapie stellen muss, immer ist der Erfolg ungewiss und die Vorstellung vom Ziel allenfalls vage. Doch nur wer sich auf die Reise begibt, hat die Chance, zu sich selbst zu finden.
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Terminator 2: Sarah Connor



Sarah Connor gilt, insbesondere in Terminator 2 – Tag der Abrechnung, als eine der stärksten weiblichen Heldenfiguren des Actionkinos. Dennoch befindet sie sich zu Beginn des Films in einer überaus hilflosen Lage, nämlich zwangseingewiesen in einer geschlossenen forensischen Psychiatrie.

[Insgesamt erinnert die Szene: Starke (rothaarige!) Frau mit geheimem Wissen wird von (männlichen) Autoritäten nicht verstanden und dafür bestraft, ein wenig an die Hexenjagden früherer Jahrhunderte.]
Aber zurück zur Psychologie: Sarah Connor erhält von ihren Ärzten die Diagnose Schizoaffektive Störung und soll mit Thorazine behandelt werden. Thorazine ist der amerikanische Handelsname eines Medikaments mit dem Wirkstoff Chlorpromazin. Chlorpromazin gehört zur Arzneimittelgruppe der Neuroleptika und kann zur Behandlung von Wahn und Unruhe im Rahmen von schizophrenen Störungen eingesetzt werden. Insofern wäre eine Thorazine-Therapie ein denkbarer Behandlungsansatz für Sarah Connor – wenn sie denn eine schizoaffektive Störung hätte.
Eine solche wäre nach der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F25) gekennzeichnet durch das gleichzeitige Auftreten von
  • Symptomen einer Schizophrenie, z.B. Wahn   und
  • Symptomen einer Affektiven Störung, also entweder
    • einer Depression (gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebsminderung)   oder
    • einer Manie (situationsunangemessen gehobene Stimmung, Gereiztheit, Antriebssteigerung, Größenwahn)
Fairerweise muss man den (zugegebenermaßen so unprofessionellen wie unsympathischen) Behandlern von Sarah Connor zugestehen, dass der Verdacht auf eine wahnhafte Störung naheliegt, wenn eine Patientin steif und fest der Überzeugung ist, von menschengleichen Robotern aus der Zukunft gejagt zu werden, weil sie die Mutter des designierten Retters der Menschheit sei. Tatsächlich scheint dies näher zu liegen, als ihr ihre Geschichte einfach zu glauben. Da sie im Zusammenhang mit diesen Überzeugungen eine Straftat verübt hat (einen Sprengstoffanschlag auf das Cyberdyne-Labor), scheint auch die Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie (i.e. einer psychiatrischen Einrichtung für aufgrund ihrer psychischen Erkrankung straffällig gewordene oder schulunfähige Täter) angemessen.
Würde es sich bei ihrer Überzeugung tatsächlich um eine Wahnvorstellung handeln, könnte die Behandlung mit Thorazine ihr diese nehmen und sie vor der Begehung weiterer Straftaten bewahren. Zudem wirkt Chlorpromazin sedierend, also beruhigend und ermüdend, so dass Sarahs ängstlich-gereizte Übererregung, welche die Ärzte als manisches Symptom fehldeuten, dadurch ebenfalls behandelt werden könnte.
So machen sich Sarah Connors Behandler im Film zwar durch ihr unprofessionelles aggressiv-entwertendes Verhalten ihrer Patientin gegenüber schuldig. Diagnosestellung und Behandlungsplan an sich sind jedoch nachvollziehbar, da die Ärzte unmöglich wissen (und kaum glauben) können, dass Sarah die Wahrheit sagt.
Die Rahmenhandlung der Terminator-Reihe wirkt phantastisch genug um davon auszugehen, dass eine Situation wie die von Sarah Connor zu Beginn des zweiten Films in unserer Realität nicht denkbar ist. Andererseits haben sich 2013 nicht wenige Kollegen die Frage gestellt, wie sie wohl reagiert hätten, wenn ihnen ein Patient vor den Enthüllungen Edward Snowdens vom Ausmaß der Geheimdienstüberwachungen berichtet hätte…
Sarah Connor hat also keine schizoaffektive Störung, braucht kein Thorazine und gehört nicht in die forensische Psychiatrie. Unbeschadet überstanden hat sie die Ereignisse des ersten Terminator-Films jedoch auch nicht. Zu Beginn der zweiten Teils zeigt sie die Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Ein Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, z.B. von einem Terminator gejagt und mehrfach fast getötet zu werden
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen, z.B. Tagträume vom Ende der Welt
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, z.B. unverhofft auf der Flucht aus dem Krankenhaus auf genau das Terminator-Modell zu treffen, von welchem man gejagt und mehrfach fast getötet wurde
  • Erhöhte psychische Sensitivität und Erregung, z.B. Gereiztheit, Schreckhaftigkeit, erhöhte Wachsamkeit, Impulsivität…
Mithilfe ihres Sohnes und des umprogrammierten T-800 kann Sarah ihr Trauma teilweise überwinden. Wer beides nicht zur Hand hat, dem hätte auch mit einer Psychotherapie im ambulanten oder offenen stationären Rahmen (statt geschlossener Forensik), der vorübergehenden Einnahme eines leichten Beruhigungsmittels bei Bedarf (statt neuroleptischer Dauermedikation) und einer therapeutischen Fokussierung auf die Gefühle von Angst und Hilflosigkeit (statt den Wahrheitsgehalt der Geschichte) geholfen werden können.
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Last Samurai: Wie man wird, was man ist

Bevor Nathan Algren der letzte Samurai wurde, war er Captain in der US-amerikanischen Armee und Teilnehmer an den Indianerkriegen, in welchen er an grausamen Kriegsverbrechen beteiligt war.

Wie viele Kriegsheimkehrer (z.B. auch John Rambo) leidet er seitdem unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, Tendenz zur Vermeidung solcher Situationen
  • Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an das belastende Erlebnis zu erinnern und/oder anhaltende Symptome erhöhter psychischer Sensitivität und Erregung
Der Krieg an sich stellt bereits eine außergewöhnliche Bedrohung und Belastung dar, hinzu kommen Nathans Schuldgefühle angesichts der Grausamkeiten, an denen er beteiligt war. In sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannten Flashbacks, durchlebt er die Ereignisse und Gefühle immer wieder neu.
Erschwerend kommt hinzu, dass Nathans Vergangenheit auch nach seiner Rückkehr aus dem Feld ständig präsent ist, gibt er doch allabendlich den stolzen Kriegsveteranen auf Verkaufsveranstaltungen eines Waffenherstellers, bzw. später den hochdekorierten Militärberater. Somit spielt er die Rolle, welche ihm so viel Leid und Schuldgefühle eingebracht hat, immer wieder aufs Neue.
Erinnerung, Flashbacks, Schuldgefühle und nicht zuletzt ein Dasein in einer innerlich zutiefst verachteten Identität erträgt Nathan nur im Rausch, welchen er sich durch Whisky zu verschaffen pflegt. Zum Zeitpunkt der Filmhandlung ist er bereits süchtig, das heißt, er leidet unter einem Alkoholabhängigkeitssyndrom. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F10.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen
So wie Nathan seine Uniform immer weiter tragen muss, obwohl er eigentlich schon längst kein Soldat mehr ist, verkörpert er äußerlich eine technokratische, imperialistische und megalomanische Ideologie, die längst nicht mehr die seine ist. Seine Uniform, sein ganzes Sein, ist eine leere Hülle. 
Diese äußere Hülle der Persönlichkeit nannte der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung Persona. Nach Jungs Auffassung entsteht eine umso stärkere innere Konfliktspannung, je weniger die Persona der inneren Persönlichkeit entspricht.
Diese innere Persönlichkeit, sozusagen sein wahres Ich, kann Nathan erst bei den Samurai entdecken, die ihm ein alternatives Wertesystem und andere Geisteshaltungen aufzeigen, als diejenigen mit denen er aufgewachsen ist und die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt haben. Nachdem er unter schweren Entzugserscheinungen seine Alkoholsucht überwunden hat, begibt sich Nathan auf eine innere Reise zu sich selbst und beginnt sein wahres Ich zu entdecken. 
Diesen Weg zu sich selbst, der niemals wirklich abgeschlossen ist, nannte C. G. Jung Individuation oder Selbstwerdung und sah in dieser einen zentralen Aspekt psychotherapeutischer Behandlung. Wer ihn geht, muss, wie Nathan Algren, tief in die Abgründe der eigenen Seele blicken und vieles aufgeben, was vertraut war und alternativlos schien. Er wird jedoch, wie der letzte Samurai, eine ungeahnte Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln erlangen und immer mehr zu dem werden, der er wirklich ist. 
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Rambo I-IV: John Rambo

John J. Rambo ist ein hochdekorierter Veteran des Vietnamkriegs, jenem Krieg, in dessen Folge durch die psychologische Erforschung der Traumafolgeerkrankungen der heute gültige Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, englisch: Posttraumatic Stress Disorder PTSD) eingeführt wurde.

Wie viele seiner Kameraden (und Generationen von Soldaten davor und danach) leidet auch Rambo nach seiner Heimkehr unter dieser Störung, die nach ICD-10 (F43.1) durch die folgenden Kriterien definiert wird:

  • Der Betroffene war (kurz oder lang anhaltend) einem belastendem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Es müssen anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis, oder das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (z. B. Flashbacks), oder eine innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, vorhanden sein
  • Der Betroffene vermeidet (tatsächlich oder möglichst) Umstände, die der Belastung ähneln
  • Sowie entweder: Eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern, und/oder:
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung, z. B. erhöhte Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, Reizbarkeit und Wutausbrüche

Belastende Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohlichkeit dürfte Rambo während seines Einsatzes zur Genüge erlebt haben, zumal er neben der aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen auch Gefangenschaft und Folter ertragen musste.
Die aufdrängenden Erinnerungen an das Trauma, sowie massive innere Bedrängnis, werden bei Rambo durch die erneute Gefangenschaft, diesmal im kleinstädtischen Polizeirevier, hervorgerufen. Insbesondere erlebt er Flashbacks, d. h. blitzartig einschießende Erinnerungen an traumatische Situationen, inklusive der dazugehörigen Bilder und Emotionen.
Folglich empfindet Rambo den typischen, übermächtigen Drang, die retraumatisierende Situation zu verlassen, was er genreentsprechend impulsiv umsetzt, indem er sich seinen Weg aus der Arrestzelle freikämpft, womit auch die Frage nach Reizbarkeit und Wutausbrüchen bereits beantwortet wäre.
Ob Rambo sich an Teile des erlebten nicht mehr erinnern kann, wissen wir nicht. Zumindest scheint er die dazugehörigen Emotionen zunächst gut verdrängt zu haben, bis sie durch die erneute Gewalterfahrung wieder aktiviert werden.
Deutlich können wir jedenfalls Hypervigilanz (d. h. gesteigerte Wachsamkeit) und erhöhte Schreckhaftigkeit beobachten, wenn Rambo, einem Wildtier gleich, in sekundenschnelle das Bedrohungspotential einer Situation erfasst und instinktiv blitzschnell mit Kampf- oder Fluchtbewegungen reagiert.

Rambo ist also schwer traumatisiert. Umso mehr muss man sich fragen, warum er sich immer wieder selbst in Situationen bringt, die ihn mit Gewalt, Krieg und Tod konfrontieren und damit sein Trauma reaktualisieren, was auch als Wiederholungszwang bezeichnet wird.

Schon zu Beginn des ersten Films scheint er nicht in sein altes Leben (auf der Ranch seines Vaters) zurückkehren zu wollen. Stattdessen sucht er auch in der Heimat den Kontakt zu den Kriegskameraden (die aber alle bereits tot sind).
Bereits auf die erste (noch recht harmlose) Feindseligkeit des Sheriffs reagiert er passiv-aggressiv indem er sich ihm provokativ widersetzt. In den drei Fortsetzungen lässt er sich zwar jeweils nicht sofort zum kämpfen überreden, findet dann aber doch immer recht schnell Gründe, um wieder in den Krieg zu ziehen.

Um Rambos Verhalten zu verstehen, müssen zunächst die psychischen Mechanismen der Traumabewältigung erörtert werden:
Rambo erlebt in der Kriegsgefangenschaft Dinge, die psychisch kaum zu verarbeiten sind. Wahrscheinlich werden die schier unaushaltbaren Gefühle von Todesangst, Schmerz, Verzweiflung und auch Hass schon während der Traumatisierung abgespalten. Das bedeutet, sie werden so erlebt, als gehörten sie gar nicht zu dem jungen John J. Rambo aus Bowie, Arizona, der sie auch kaum überleben könnte. Im unbewussten Teil der Psyche entsteht eine abgespaltene zweite Entität, die auf sich nimmt, was das Ich nicht tragen kann. Diesen Vorgang nennt man Dissoziation.
Colonel Trautman bringt es, leider recht unkritisch, auf den Punkt: Rambo sei „ein Mann, der darauf trainiert ist, keine Schmerzen zu fühlen, der sie verdrängt… In Vietnam konnten Rambo und ich uns Emotionen nicht leisten.“
Dabei scheint er Schuldgefühle angesichts seiner eigenen Verantwortung für Rambos wiederholte Traumatisierung narzisstisch abzuwehren: „Gott hat Rambo nicht geschaffen, ich habe ihn geschaffen.“
Doch zurück zu Rambo: Die dissoziierten Anteile sind, wie gesagt, zunächst einmal unbewusst. Dadurch kann das Ich im Allgemeinen weiter funktionieren, ohne permanent durch das Trauma und die dazugehörigen Affekte gestört zu werden. Das funktioniert aber nur solange, wie die unbewussten Inhalte nicht durch Auslösereize (bei Rambo zum Beispiel Rasiermesser, Gitterstäbe, Schusswaffen) ins Bewusstsein gerufen (getriggert) werden, was sich dann beispielsweise in Form von Flashbacks zeigt. Dann nämlich fühlt sich Rambo unmittelbar in die traumatische Situation zurückversetzt und mit den existenziellen Ängsten konfrontiert.

Damit das Ich vor diesen überwältigenden Affekten nicht kapitulieren muss, kommt nun ein weiterer Abwehrmechanismus zum Tragen, der bei Rambo besonders stark ausgeprägt ist: Die Identifikation mit dem Aggressor.
Statt sich Krieg und Folter hilflos ausgeliefert zu fühlen, wie es real der Fall gewesen ist, identifiziert sich Rambo mit den Kriegern und Folterern, ja mit dem Krieg selbst. Im vierten Teil der Reihe kann er dies bereits benennen: „Du hast erkannt, wer du bist, woraus du gemacht bist. Krieg hast du im Blut. Wenn man dich dazu zwingt, ist Töten so einfach wie Atmen“ (Wobei letzteres, im Falle starker Angst, so leicht gar nicht ist). Die Macht seiner Gegner macht sich Rambo identifikatorisch zu eigen, seine Todesangst projiziert er auf die Feinde zurück. Da er in der Tat ein überaus begabter Kämpfer ist, gelingt es ihm auch immer wieder, die innerpsychischen Abwehrmechanismen handelnd in der Realität umzusetzen. Somit wird das Selbstbild der Kriegsmaschine durch die Zuschreibungen der Anderen, die ihn real fürchten müssen, oder ihn, wie Trautman, nur um seiner Kampfkraft willen respektieren, verfestigt.

Folglich ist der Krieg Rambos Weg, nicht an seinen eigenen Ängsten zugrunde zu gehen. Und es sind sehr menschliche Ängste, z. B. vor Ausgrenzung und Einsamkeit (Teil 1), vor dem Verlust von Freiheit (Teil 2), vor dem Tod eines engen Freundes (Teil 3) oder einer heimlich geliebten Frau (Teil 4), die ihn immer wieder zur Kriegsmaschine werden lassen.

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Dark Knight Trilogy: Batman

Batman ist die, in einen High-Tech-Fledermaus-Kampfanzug gewandete, Tarnidentität des Milliardärs Bruce Wayne, mithilfe derer er nachts Verbrecher in den Straßen seiner Heimatstadt Gotham City jagt. Batmans Geschichte wird, nicht zum ersten Mal, im Rahmen der Filmtrilogie “Batman Begins”, “The Dark Knight” und “The Dark Knight Rises”, wie folgt erzählt:
Bruce Wayne wächst zunächst unter vermeintlich idealen Bedingungen auf. Besonders sein Vater scheint geradezu traumhaft gut zu sein: Selfmade-Milliardär, sozialer Wohltäter, liebender Ehemann und Vater. Umso mehr können wir annehmen, dass sich der kleine Bruce, angesichts dieses schier unerreichbaren Rollenvorbilds, schon früh mit Insuffizienz- und Minderwertigkeitsgefühlen herumzuschlagen hat. Allerdings müssen diese, um die dringend benötigte Fürsorge des Vaters nicht zu gefährden, ins Unbewusste verdrängt werden.

Erstmals erschüttert wird die heile Welt des Bruce Wayne durch den Sturz in einen dunklen Brunnenschacht, in welchem es von Fledermäusen wimmelt. In der Folge dieser als lebensbedrohlich erlebten Situation (aus welcher ihn schließlich sein Vater befreit!), entwickelt er eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) mit den folgenden Symptomen:

  • Wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Albträume)
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen
  • Vermeidung von Umständen, die der Belastung ähneln
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten)

Die Angst in traumaassoziierten Situationen und der Drang diese zu vermeiden, führen dazu, dass Familie Wayne eine Oper, in deren Verlauf Fledermäuse umherflattern, vorzeitig durch einen Seiteneingang verlassen muss und das Elternpaar von einem Straßenräuber ermordet wird. Bruce entwickelt daraufhin starke Schuldgefühle. Dass er sich insgeheim manchmal vom übergroßen Schatten des Vaters frei gewünscht hätte, dürfte diese zusätzlich verstärkt haben. 

Seine ohnmächtigen Schuldgefühle projiziert er auf den Täter und schmiedet irgendwann im Lauf der nächsten Jahre einen Racheplan, welchen er bei dessen Haftentlassung umzusetzen versucht. Bis dahin scheint ihn die Rachephantasie für ein äußerlich unauffälliges und leidlich erfolgreiches Leben als Student einer Eliteuni ausreichend stabilisiert zu haben. Als der unausgegorene Racheplan an der Realität scheitert, wirft die narzisstische Kränkung den jungen Mann in eine schwere Depression (ICD-10: F32.2), die sich in typisch männlicher Weise manifestiert:

  • Sozialer Rückzug
  • Zynismus
  • Gereiztheit
  • Parasuizidales Risikoverhalten

Trotz der, zum Markenzeichen stilisierten, Einzelgängerrolle bleibt Bruce insgeheim weiterhin von der Sehnsucht nach der verlorenen väterlichen Anerkennung und mütterlichen Geborgenheit getrieben, welche er beide auf seine Jugendliebe Rachel verschiebt, wobei er das gemeinsame Glück aber vermeidend in eine phantasierte Zukunft projiziert, wahrscheinlich aus Angst, Rachel durch seine untergründig empfundene Unvollkommenheit zu enttäuschen und/oder zu gefährden und dadurch (wie die Eltern) wieder zu verlieren.
Als Rachel (und mit ihr die Erlösungsphantasie) im zweiten Film “The Dark Knight” tatsächlich stirbt, wiederholen sich die Schulddepression und schließlich, zu Beginn des dritten Films “The Dark Knight Rises”, der bekannte Ausweg aus dieser durch die Flucht in die Rolle des maskierten Helden. Wieder wird die empfundene Schuld auf die Bösen projiziert und das Minderwertigkeitsgefühl durch die narzisstische Selbstglorifizierung als edler Rächer abgewehrt.

Bruce Wayne ist also gefangen in einem sich ständig neu inszenierenden Dilemma, einem chronisch misslingenden Beziehungsmuster: Zwar hat er den starken Wunsch von seinen Mitmenschen geliebt und angenommen zu werden. Jedoch ist er in seinem tiefsten Inneren davon überzeugt, den Erwartungen nicht genügen zu können (vermutlich aufgrund des idealisierten und unerreichbaren väterlichen Vorbilds). In dem subjektiven Zwang, sich perfekt und damit liebenswert zu präsentieren, spaltet er alle mit dem väterlichen Idealbild nicht vereinbaren Selbstaspekte (Angst, Rachsucht, Aggressivität, Bindungsängste, Depression…) mithilfe des heimlichen Alter-Egos Batman ab. Tragischerweise wird der nach außen wahrgenommene Bruce Wayne dadurch eindimensional und leer, vermag Andere nicht wirklich an sich zu binden (mit Ausnahme von Rachel in einer Mischung aus Nostalgie und Mitleid).

Der traurige, einsame Bruce Wayne kann einem wahrlich leid tun und man ist regelrecht dankbar, dass Hollywood ihm nach drei langen Filmen voller Leiden und zermürbenden Selbstzweifeln doch noch ein Happy End schenkt.
Gönnen wir also diesem leidgeprüften Batman sein wohlverdientes Glück und trinken mit Alfred einen Fernet Branca auf sein Wohl!

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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