Die Simpsons: Bart

„Kannst du nicht was Konstruktives machen?“ – „Doch aber ich mach lieber was Destruktives!“

Dieser Dialog aus der zweiten Episode der elften Staffel der unsterblichen Simpsons beschreibt nicht nur die Beziehung zwischen Rektor Skinner und Bart Simpson, sondern steht symptomatisch für Barts Verhalten im Allgemeinen.

Bart zeigt alle Merkmale einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1), welche als Kombination einer Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörung (ICD-10: F90.0, bekannt als ADHS) und einer Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F91) definiert ist.

Bart erfüllt die Kriterien der für die Diagnose maßgeblichen vier Symptombereiche:
  1. Unaufmerksamkeit, z.B. Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit, Schwierigkeiten zuzuhören, geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
  2. Hyperaktivität, z.B. Zappeln mit Händen und Füßen, Herumspringen und –klettern in Situationen die Stillsitzen erfordern, allgemein lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
  3. Impulsivität, z.B. Unterbrechen oder stören anderer, Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen, Ungeduld, Unfähigkeit zum Aufschieben eigener Bedürfnisse
  4. Störungen des Sozialverhaltens, z.B. Missachten von Regeln, Verweigerung gegenüber Forderungen von Autoritäten, Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert, Lügen um Strafen oder Verpflichtungen zu umgehen, Zerstörung fremden Eigentums

Wie diese unvollständige Aufzählung zeigt, handelt es sich bei den Symptomen, insbesondere bei denen der ersten drei Punkte (welche ohne Punkt 4 die Diagnosekriterien des einfachen ADHS bilden), um Verhaltensweisen, die jedes Kind immer wieder zeigt und die vor allem bei jüngeren Kindern zum völlig normalen und für die motorische und psychische Entwicklung notwendigen Repertoire gehören.

Als Symptome einer psychischen Störung können diese Verhaltensweisen nur dann gelten, wenn sie zeitstabil, situationsübergreifend und für das Entwicklungsalter des Kindes unangemessen sind.

Wenngleich es Vertreter der Auffassung gibt, dass Aufmerksamkeitsstörungen ausschließlich durch genetisch bedingte Störungen des Hirnstoffwechsels verursacht werden, spricht vieles – inklusive der klinischen Beobachtung – dafür, dass, wie bei den meisten psychischen Störungen, eine Kombination aus genetischer Veranlagung (der sog. Disposition) und Umwelteinflüssen für die Erkrankung verantwortlich ist.

Eine genetische Disposition ist im Einzelfall schwer nachzuweisen. Es spricht jedoch einiges dafür, dass auch Barts Vater Homer Züge einer Aufmerksamkeitsstörung aufweist. Auch er ist häufig unaufmerksam und impulsiv. Hyperaktives Verhalten hingegen können wir bei Homer nur in Ausnahmefällen, wenn er von irgendetwas kurzfristig völlig eingenommen und begeistert ist, feststellen. Dies könnte dafür sprechen, dass bei Homer entweder ein ADHS ohne Hyperaktivität (dann gerne ADS genannt, in der ICD-10 kodiert als Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität F98.8) vorliegt, oder aber dafür, dass er seine Hyperaktivität seit vielen Jahren durch seinen chronischen Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) kontrolliert. In diesem Fall spricht man von Selbstmedikation. Diese ist bei Betroffenen von Aufmerksamkeitsstörungen, vor allem im Jugendalter, nicht selten und funktioniert nachgewiesenermaßen auch mit Nikotin und Cannabis (dennoch ist angesichts der erheblichen sozialen und gesundheitlichen Risiken selbstverständlich davon abzuraten!).

Welche Umwelteinflüsse könnten nun, neben einer möglichen genetischen Disposition, für Barts Störung maßgeblich gewesen sein? Auch hierbei scheint Homer die zentrale Rolle zu spielen. Entwicklungsschädliche soziale Umwelteinflüsse sind vor allem frühe Traumata und misslingende frühe Bindungserfahrungen. Ein Trauma ist ein belastendes oder ängstigendes Ereignis, das tiefe Verzweiflung oder Todesangst auslöst. Dass Bart von seinem Vater wiederholt und zum Teil völlig willkürlich gewürgt wird, könnte von ihm traumatisch erlebt und verarbeitet werden. Aber auch misslingende frühe Bindungserfahrungen, sogenannte Micro-Traumata, liegen zur Genüge vor: Bart wird von Homer beleidigt, beschimpft, belogen, manipuliert, ignoriert, benachteiligt und bedroht. Marge ist dagegen zwar eine sehr einfühlsame und fürsorgliche Mutter, allerdings sind diese Qualitäten für Bart nicht immer verlässlich verfügbar, da sie mit drei Kindern und einem außerordentlich unreifen Mann alle Hände voll zu tun hat. Zeitweise trinkt sie regelmäßig Alkohol um den Tag zu überstehen. Und auch sie gerät angesichts von Barts Verhalten immer wieder an ihre Geduldsgrenzen. Die subtile Ablehnung, die Bart in solchen Momenten auch von ihr erfährt, muss ihn umso mehr schmerzen, als seine beiden Schwestern so überaus pflegeleicht und wohlgefällig sind, dass sein eigenes Fehlverhalten vergleichsweise noch gravierender erscheint.

Man kann in der für Barts Störung typischen Symptomatik einen ambivalenten Versuch des Kindes sehen, mit den unzuverlässigen, sowohl ersehnten, als auch ängstigenden Zuwendungen der Eltern umzugehen. Das ruhelose, impulsive, teils aggressive Verhalten dienst zum Ausagieren der inneren Anspannung aufgrund der Bindungsunsicherheit, zum Erzwingen von Zuwendung durch die oft nicht wirklich aufmerksam-zugewandten Eltern und auch als trotzig-oppositioneller Protest gegen die erfahrene und erwartete Abweisung oder Aggression.

In der zu Anfang zitierten Simpsons-Episode wird Bart mit dem fiktiven Medikament Focusyn behandelt, das überdeutlich an das berühmt-berüchtigte Ritalin erinnert. Ritalin ist der bekannteste Handelsname des Wirkstoffs Methylphenidat, der zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen eingesetzt wird. Methylphenidat erhöht die Verfügbarkeit der Neurotransmitter Noradrenalin und Dopamin im Gehirn und kann sich positiv auf Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit, Reizhemmung und Selbstkontrolle auswirken.

Obwohl die Leitlinien zur Behandlung von Aufmerksamkeitsstörungen in Deutschland eine medikamentöse Behandlung immer in Kombination mit Psychotherapie empfehlen, ist die Darstellung der Behandlung bei den Simpsons zwar überspitzt, aber leider nicht ohne Parallelen zur Realität: Vor allem Marge ist eigentlich gegen eine medikamentöse Behandlung, wird aber von Barts Schule und den behandelnden Ärzten davon überzeugt, dass diese die einzige Möglichkeit sei. Zitat des Arztes: „Focusyn reduziert Klassenclownerie um 44%. Wirkungsvoller ist nur sportliche Betätigung.“ Damit spielen die Autoren der Serie auf eine durchaus vorhandene Tendenz zur Verhaltensoptimierung und Intoleranz gegenüber Abweichungen von der Norm an, die auch die anderen Kinder betreffen: Milhouse muss Vitaminpillen nehmen, Martin Hormone, Nelson trägt gar ein Elektroschockhalsband zur Verhaltenskonditionierung.

Auch die Wahnvorstellungen, die Bart durch Focusyn bekommt, zählen zu den möglichen, allerdings äußerst seltenen, Nebenwirkungen von Methylphenidat.

Bei aller Kritik, kann eine medikamentöse Behandlung nach sorgfältiger Diagnostik und in Kombination mit Psychotherapie (und ggf. auch Familientherapie) aber durchaus sinnvoll und für die Betroffenen einen große Erleichterung sein. Insofern sind Marges abschließende Worte, nachdem sie Barts Focusyn abgesetzt hat, gar nicht so unwahr: „Ab heute gibt es nur noch Liebe, Umarmungen und ganz altmodisches Ritalin!“


Mehr über Bart und die anderen Simpsons gibt es im Charakterneurosen-Podcast zu erfahren

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Shameless: Frank & Carl



In Shameless wird nicht nur die schwere Alkoholabhängigkeit von Frank Gallagher dargestellt, sondern auch die weitreichenden und gravierenden Auswirkungen, die seine Erkrankung auf alle Mitglieder seiner Familie hat.

Um eine Alkoholabhängigkeit diagnostizieren zu können, müssen laut internationaler Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F10.2) mindestens drei der folgenden sechs Diagnosekriterien über einen längeren Zeitraum hinweg erfüllt sein:
  • Starkes Verlangen, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle oder Kontrollverlust über Beginn, Beendigung oder Menge des Konsums
  • Körperliche Entzugserscheinungen, wenn die Substanz reduziert oder abgesetzt wird
  • Toleranzentwicklung, d.h. es müssen immer größere Mengen konsumiert werden, um den gewünschten Effekt zu erzielen
  • Gedankliche Einengung auf den Konsum, d.h. Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen und Verpflichtungen
  • Fortgesetzter Substanzkonsum trotz eindeutig schädlicher Folgen
Frank Gallagher erfüllt deutlich mehr als die drei für die Diagnose notwendigen Kriterien einer Alkoholabhängigkeit.
Sein starkes, geradezu zwanghaftes Verlangen, Alkohol zu trinken, wird immer wieder eindrücklich dargestellt. Es gibt kaum ein Hindernis, eine Regel oder eine moralische Grenze, die Frank nicht mit aller verfügbaren Energie zu überwinden versuchen würde, um an Alkohol oder an Geld für Alkohol zu kommen.
Der für die Sucht typische Kontrollverlust über den Alkoholkonsum lässt Frank kompromisslos solange trinken, wie Nachschub verfügbar oder aufzutreiben ist – stets bis zur Bewusstlosigkeit.
Die seltenen Versuche Franks, abstinent zu bleiben, sind von körperlichen Entzugserscheinungen begleitet (Psychomotorische Unruhe, Schlafstörungen, aggressive Impulsivität, Erektionsstörungen), wenngleich diese für einen Alkoholiker von Franks Kaliber eher harmlos dargestellt werden.
Eine Toleranzentwicklung ließe sich bei Frank nur eindeutig nachweisen, wenn bekannt wäre, wie sein Konsum zu Beginn der Suchterkrankung ausgesehen hat. Angesichts der großen Mengen, die er, nach Möglichkeit ununterbrochen, trinkt, können wir jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit von einer deutlichen Toleranzsteigerung im Laufe der Jahre ausgehen.
Deutlich erkennbar ist hingegen Franks vollständige gedankliche Einengung auf den Alkoholkonsum. Es scheint in seinem Leben nichts mehr zu geben, was ihn interessiert oder was er auch nur wahrnimmt, außer den Alkohol und die Mittel und Wege, an diesen heranzukommen. Insbesondere für die Bedürfnisse seiner Kinder bringt er keinerlei Einfühlungsvermögen auf, sondern manipuliert auch diese immer wieder schamlos, um Geld für Alkohol aufzutreiben.
Ebenso offensichtlich sind die eindeutig schädlichen Folgen, die Frank für seine Trinkerei in Kauf nimmt. Nicht nur, dass er sich selbst körperlich und sozial völlig zugrunde richtet. Auch die psychische Gesundheit, das soziale Ansehen und die materielle Existenzgrundlage seiner Kinder opfert er ohne mit der Wimper zu zucken.


Was Shameless neben der überzeugenden Darstellung von Franks Alkoholsucht interessant macht, ist aber vor allem die erstaunliche Fähigkeit seiner Kinder, mit ihrer außerordentlich schwierigen Lebenssituation umzugehen. In einem Armutsviertel aufgewachsen, von ihrer Mutter verlassen und von ihrem alkoholkranken Vater immer wieder enttäuscht und ausgenutzt, meistern sie ihr Leben doch mit bewundernswertem Optimismus und Erfolg.
Die Fähigkeit, unter erschwerten äußeren Bedingungen zurecht zu kommen und Krisen durch den Einsatz der eigenen Fähigkeiten zu bewältigen, ohne dabei psychisch krank zu werden, nennt die Psychologie Resilienz. Verschiedene Faktoren können als Ressourcen fungieren, die die Resilienz einer Person steigern. Franks Kinder weisen viele dieser Faktoren auf:
So gelten stabile inner- und außerfamiliäre Beziehungen als wichtige Resilienzfaktoren. Auch wenn ihre Eltern sie völlig im Stich lassen, so halten die Gallagher-Kinder frag- und kompromisslos zusammen und haben sich zudem ein verlässliches außerfamiliäres Netzwerk von treuen Freunden geschaffen, von denen sie in Notlagen konkrete Unterstützung erwarten können.
Auch Intelligenz gilt als wichtiger Faktor für eine hohe Resilienz. Alle Gallagher-Kinder wirken recht intelligent, was auch bedeutet, dass sie die Schwangerschaften ihrer ebenfalls suchtkranken Mutter unbeschadet überstanden haben. Lip ist sogar überdurchschnittlich intelligent und trägt dadurch häufig entscheidend zum Gelingen der Pläne der Gallagher-Kinder bei.
Ein weiterer wichtiger Resilienzfaktor kann das Eingebundensein in soziale Verpflichtungen sein, das auch in Zeiten großer Schwierigkeiten das Gefühl, gebraucht zu werden und einem höheren Sinn zu dienen, sicherstellen kann. Die Verpflichtung gegenüber ihren jüngeren Geschwistern scheint zum Beispiel Fiona immer wieder die nötige Kraft und den Mut zu verleihen, um für diese Übermenschliches zu leisten.
Das einzige Kind, das in den ersten Staffeln weniger hochfunktional wirkt, ist Carl, der vermutlich eine Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) hat, also ein ADHS (Unaufmerksamkeit + Hyperaktivität + Impulsivität) mit der Tendenz zu normverletzendem Verhalten (Wutausbrüche, Regeln brechen, unüberlegtes Handeln, Tiere quälen, Eigentum anderer beschädigen, etc.). Während Carl sich in den späteren Staffeln zunehmend fängt, ergeben sich phasenweise immer wieder auch gravierende Probleme bei den anderen Kindern: Lip wird, wie sein Vater, Alkoholiker, scheint seine Sucht aber mithilfe einer Selbsthilfegruppe wieder in den Griff zu bekommen. Auch Fiona trinkt zeitweise viel zuviel. Bei ihr scheint eher ein Alkoholmissbrauch (ICD-10: F10.1) als eine vollwertige Abhänigkeit vorzuliegen, so dass sie auch ohne Selbsthilfegruppe und Entzugsbehandlung den Absprung schafft. Ian erkrankt, wie seine Mutter, an einer bioplaren Störung (ICD-10: F31), wodurch er auf eine dauerhafte Medikamentöse Behandlung angewiesen ist.
Dennoch meistern die Gallaghers ihr an Belastungen und Hürden reiches Leben mit letztlich doch unverbrüchlichem Optimismus, Einfallsreichtum und Humor. Letzterer, ebenfalls ein wichtiger Resilienzfaktor, scheint allen Gallagher-Kindern eigen zu sein – vielleicht das einzige, das sie von Frank geerbt haben.
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Breaking Bad: Jesse



Jesse Pinkman ist der vielleicht komplexeste Charakter in Breaking Bad. Während Walter Whites Entwicklung vom spießigen Highschoollehrer zum Drogenbaron Heisenberg auf einen klar erkennbaren Auslöser, quasi den Nullpunkt, zurückgeht, scheint Jesses Leben bereits zuvor und eher schleichend aus den Fugen geraten zu sein.

Jesse stammt aus guten, fast schon wohlhabend zu nennenden, Verhältnissen. Seine Eltern leben in einem ansehnlichen Vorstadthaus, sind offenbar gebildet und musisch interessiert und scheinen großen Wert auf die Bildung und Ausbildung ihrer Kinder zu legen. Jesse wächst zunächst als Einzelkind auf, sein einziger Bruder Jake ist deutlich jünger als er. Während die Eltern auf Jake große Stücke halten und er offenbar überwiegend in der Lage ist, ihre hohen Anforderungen an Leistung und Auftreten zu erfüllen, wird immer wieder deutlich, dass Jesse in den Augen seiner Eltern eine einzige Enttäuschung darstellt und auch schon in seiner Kindheit dargestellt hat. Wir erfahren von schlechten Schulleistungen und frühen Drogenvergehen.
Die Wurzel der beiderseits enttäuschenden Eltern-Kind-Beziehung liegt aber wahrscheinlich noch früher, nämlich in der Wechselwirkung von Jesses Neigung zu Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität und der strengen, enttäuschten und verurteilenden Reaktion seiner Eltern auf sein Verhalten. 
Jesse erfährt, dass er, so wie er ist – nämlich aktiv, laut, ungestüm und neugierig – nicht richtig ist und nicht der Sohn, den sich seine Eltern gewünscht hätten. Für einen Jungen wie Jesse, sind das sterile, auf Anstand, Disziplin und Ordnung ausgerichtete Leben seiner Eltern und deren nüchterne, rationalistische Beziehungsgestaltung schwer zu ertragen. Vielmehr bräuchte er intensive Zuwendung, Zuspruch und Anerkennung für seine Vitalität und das Interesse seiner Eltern an ihm und seinen Stärken. Da ihm all das fehlt, versucht er es immer wieder einzufordern, wofür ihm allerdings wenig andere Mittel zur Verfügung stehen, als immer wieder durch Krawall und Regelverstöße auf sich aufmerksam zu machen, was natürlich zu der gewohnten elterlichen Reaktion führt. Dass Jesse, bei angemessener Förderung, durchaus zu bemerkenswerten Leistungen in der Lage ist, zeigt die Anekdote über das Holzkästchen welches er unter Anleitung eines wohlwollenden und engagierten Lehrers geschreinert hat. 
Diese negative Wechselwirkung ist, neben Jesses biologischer Disposition, der Grund dafür, dass er ein, bis ins Erwachsenenalter fortbestehendes, Aufmerksamkeitsdefizits- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) entwickelt. In der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10) wird dieses Krankheitsbild als Hyperkinetische Störung bezeichnet. In Jesses Fall liegt die Kombination eines ADHS mit delinquentem (regelverletzendem) Verhalten vor, so dass er die Diagnosekriterien einer Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens (ICD-10: F90.1) erfüllt.

Die hyperkinetische Störung ist durch drei Kernsymptome definiert, die Jesse alle erfüllt:
1. Unaufmerksamkeit
  • Flüchtigkeitsfehler, Ablenkbarkeit
  • Vergesslichkeit, Verlieren von Gegenständen
  • Schwierigkeiten zuzuhören und Erklärungen zu folgen
  • Geringes Durchhaltevermögen bei als uninteressant erlebten Tätigkeiten
2. Hyperaktivität
  • Zappeln mit Händen und Füßen
  • Insgesamt gesteigerte motorische Aktivität oder Gefühl innerer Unruhe
  • Lautes Verhalten, Schwierigkeiten sich ruhig zu beschäftigen
3. Impulsivität
  • Unterbrechen oder stören anderer
  • Gesteigerter Redebedarf ohne Rücksicht auf soziale Konventionen
  • Ungeduld, Unfähigkeit zum Belohnungsaufschub
Die Störung des Sozialverhaltens kann sich in vielerlei Verhaltensweisen äußern, bei Jesse sind dies vor allem:
  • Hinwegsetzen über Regeln
  • Verweigerung gegenüber Forderungen (von Autoritäten)
  • Unüberlegtes Handeln, das andere ärgert
  • Wutausbrüche
  • Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten
  • Lügen um materielle Vorteile zu erhalten oder Verpflichtungen zu umgehen
  • Einsatz von Waffen
  • Zerstörung fremden Eigentums
  • Diebstahl, Einbruch

Wie viele Jugendliche mit einer ähnlichen Symptomatik gerät Jesse mit der Zeit in einen zweiten Teufelskreis: Während er durch sein lebhaftes und getriebenes Verhalten die erwünschte positive Aufmerksamkeit seiner Bezugspersonen nicht bekommt, erlebt er sich bei seinen ersten Drogenerfahrungen auf einmal ruhig, gelassen und sogar konzentrierter als sonst. Jesses Einstiegsdrogen sind, typischerweise, Cannabis und Amphetamine. Cannabis wird von vielen hyperaktiven Jugendlichen als angenehm beruhigend und entspannend empfunden. Amphetamine, zu denen auch das von Jesse und Walt hergestellte Crystal Meth gehört, kann als leistungssteigernd, konzentrationsfördernd und anregend erlebt werden. Das Amphetaminderivat Methylphenidat wird wegen dieser Eigenschaften in der Behandlung von ADHS eingesetzt und ist unter dem Handelsnamen Ritalin berühmt geworden. Jesses Drogenmissbrauch (ICD-10: F19.1) ist somit, zumindest in seiner Entstehungsgeschichte, auch als unbewusster Versuch einer Selbstmedikation zu sehen. 
Während Jesses Lösungsversuche im Bezug auf die Anerkennung und Liebe seiner Eltern höchst dysfunktional sind und ihn von diesen nur umso mehr entfremden, machen ihn die Bereitschaft zu Grenzüberschreitungen und sein Wissen über das Drogenmilieu zum idealen Partner für Walter, der in diesen Dingen zunächst noch unerfahren ist.
Walter, der Meister der Manipulation, erkennt Jesses tiefes Bedürfnis nach Anerkennung und nutzt es aus, indem er genau die Fähigkeiten von Jesse würdigt, die seine Eltern am meisten verurteilt haben. Gleichzeitig hält er Jesse klein, entzieht ihm seine Anerkennung und Zuneigung immer wieder, so dass dieser sich auch weiterhin nicht sicher fühlen kann und dazu angetrieben wird, sich Walters Respekt immer wieder neu zu verdienen. Selbst wenn es seine Würde, sein Gewissen, seine Liebe, vielleicht sogar sein Leben kostet. 

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