Wie jeder gute Mythos, bietet uns Game of Thrones die Möglichkeit, die großen und kleinen, inneren und äußeren, aktuellen und immer wiederkehrenden menschlichen Konflikte zu beobachten. Deshalb nimmt uns die Geschichte so gefangen, deshalb fühlen wir uns den Figuren so emotional verbunden. Dabei schafft es der Mythos, so zentrale Themen anzusprechen, dass wir uns alle darin wiederfinden können und gleichzeitig durch seine Phantastik und Symbolik so offen zu bleiben, dass er Projektionsfläche für die unterschiedlichsten persönlichen Gefühle und Erfahrungen sein kann.
Am Beispiel der Wall, der Mauer, welche die sieben Königreiche vom namenlosen Gebiet jenseits der Mauer trennt, können wir uns die vielfältige Interpretierbarkeit des Stoffes veranschaulichen.
Beginnen wir mit dem Offensichtlichen: Die Mauer hat den Zweck eine Gruppe von einer anderen Gruppe zu trennen. Es geht also um Sozialpsychologie. Diese Bedeutungsebene ist auch deshalb offensichtlich, weil sie uns dieser Tage vertraut ist. Wieder einmal kommen auch in unserer Welt vielerorts die Ängstlichen und Einfallslosen auf die Idee, soziale Probleme dadurch fern zu halten, dass man die Menschen, welche am stärksten von ihnen betroffen sind, aussperrt.
Genauso in Westeros. Eine diffuse und schwer zu verstehende (Was ist Wahrheit, was Lüge, was Panikmache?) Bedrohung – die weißen Wanderer – soll mit allen Mitteln ferngehalten werden, dabei werden diejenigen ausgesperrt, die der Bedrohung am nächsten sind – die sogenannten Wildlinge. Mit der Zeit werden die Wildlinge zum Synonym der Bedrohung, selbst unter denen, welche gar nicht mehr an die eigentliche Gefahr, die weißen Wanderer, glauben.
Diesen psychischen Abwehrmechanismus nennt man Verschiebung: Die weißen Wanderer sind derart schauderhaft und bedrohlich, dass ein jeder Westerosi fortan nur noch in Angst und Schrecken leben könnte, sobald er sich der Bedrohung in vollem Umfang bewusst wäre. Schlimmer noch, absolute Hilfs- und Hoffnungslosigkeit würden sich breit machen. Das eitle Treiben der machthungrigen Fürsten, der mühsame Alltag des einfachen Volkes – alles drohte in Sinnlosigkeit aufzugehen.
Die Lösung für einen (vorübergehenden) Seelenfrieden: Die Verschiebung der Angst auf die Wildlinge. Diese sind gerade schaurig genug, aber nicht so übermächtig und mystisch, dass sie nicht durch eine hohe Mauer und ein paar beherzte Grenzer ferngehalten werden könnten.
Die eigene, unerträgliche, rational kaum zu erfassende Angst wird also einer Gruppe von anderen zugeschrieben und in dieser stellvertretend bekämpft. Das sollte uns bekannt vorkommen.
Um aber eine Gruppe von Menschen willkürlich ausschließen und zum Träger allen Übels bestimmen zu können, muss ein weiterer psychologischer Abwehrmechanismus zum tragen kommen: Das Motiv zur Reduktion kognitiver Dissonanz. Als kognitive Dissonanz wird der unangenehme innere Spannungszustand bezeichnet, der entsteht, wenn Teile unseres Denkens, Fühlens oder Handelns nicht mit unseren eigentlichen Grundüberzeugungen konform gehen. Um kognitive Dissonanz zu reduzieren, verändern wir unbewusst unsere Wahrnehmung, um sie wieder stimmig zu machen. So werden die Westerosi, die zufällig nördlich der Linie lebten, auf der willkürlich die Mauer erbaut wurde, zu Wildlingen. Schon dieser Name ist eine Entmenschlichung, in der Konfliktforschung würde man von Opferabwertung sprechen. Für Wildlinge gelten keine Menschenrechte, wer einen Menschen ohne triftigen Grund tötet, muss sich, auch in Westeros, zumindest vor Gericht verantworten. Wildlinge zu töten ist per se eine Heldentat.
So führen die Herrscher von Westeros ihre kleinlichen Kriege und verschließen die Augen, vor der großen gemeinsamen Bedrohung. Die Lösung läge in der Kooperation statt in der Konkurrenz. Im Miteinander, statt im Gegeneinander. Jon Snow hat das erkannt. Aber werden die Mächtigen seiner Welt ihm zuhören?
Damit verlassen wir die sozialpsychologische Ebene und wenden uns der individuellen Interpretationsebene und hier der Tiefenpsychologie zu. Denn wir können die Mauer auch als tiefenpsychologische Metapher verstehen. Als Sinnbild für die innere Verdrängung des Unheimlichen. Mit der Psychologie des Unheimlichen hat sich bereits der Urvater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, befasst. Seiner Beobachtung nach, entsteht das Gefühl des Unheimlichen, wenn unerwartet etwas in unser Bewusstsein vordringt, das wir entweder verdrängt, oder nur vermeintlich und unvollständig rational überwunden haben.
Hinter der Mauer in Game of Thrones lauern weiße Wanderer und Untote, die wir, in beiderlei Hinsicht, als Inbegriff des Unheimlichen verstehen können. Konfrontieren sie uns doch sowohl mit unserer Angst vor Geistern und Halbwesen, die wir längst rational überwunden glaubten, die uns aber im mystischen Halbdunkel einer Game of Thrones-Episode gleichwohl heimzusuchen vermag.
Als auch mit dem Tod an sich, dessen wir uns in seiner Unausweichlichkeit zwar rational bewusst sind, den wir jedoch die meiste Zeit unseres Lebens gekonnt verdrängen, um nicht in Angst und Verzweiflung zu erstarren, sondern unser Leben so leben zu können, als seien wir Herr über unser Schicksal.
Wenn in Gegenwart des Todes, oder der Nacht als seines Sinnbilds, die Verdrängung brüchig wird, suchen wir Trost und Versicherung im Gebet: „Night gathers, and now my watch begins…“