Bates Motel: Norma oder die Wahrheit über Borderline



Endlich eine überzeugende Darstellung der Borderline-Persönlichkeitsstörung in einer Fernsehserie! Der Störung, die fast jeder zu kennen glaubt und über die es doch so viele falsche Klischees, gefährliches Halbwissen und stigmatisierende Vorurteile gibt, wie über kaum eine andere.

Zeit, mit einigen dieser falschen Mythen aufzuräumen! Dabei hilft uns die beeindruckende (wenn auch im Dienste eines spektakulären Plots dramatisierte) Darstellung einer „Borderlinerin“ in Bates Motel. Die Rede ist natürlich von Norma Bates, der Mutter des späteren Psycho-Killers Norman Bates.
Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus, wie die Störung offiziell in der internationalen Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10: F60.31) heißt, zeigt sich bei Norma anhand der folgenden, dauerhaft und situationsübergreifend vorliegenden Symptome:
  • Deutliche Tendenz unerwartet und ohne Berücksichtigung der Konsequenzen zu handeln (Impulsivität)
  • Deutliche Tendenz zu Streitereien und Konflikten
  • Neigung zu Ausbrüchen von Wut oder Gewalt mit Unfähigkeit zur Kontrolle explosiven Verhaltens
  • Unbeständige und unberechenbare Stimmung
  • Störungen und Unsicherheit bezüglich Selbstbild und/oder Zielen und/oder Vorlieben
  • Neigung, sich in intensive aber instabile Beziehungen einzulassen, oft mit der Folge von emotionalen Krisen
  • Angst davor, Verlassen zu werden und übertriebene Bemühungen, dies zu vermeiden
  • Anhaltende Gefühle von Leere und/oder Einsamkeit
Norma ist überaus impulsiv und beschwört durch ihre Impulsivität immer wieder Konflikte herauf. In diesen kämpft sie ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, so dass es im Affekt auch schonmal zum Mord kommt – immerhin geht es ja auch um das Prequel zu Psycho!
Ihre Stimmung kann von einer Sekunde auf die andere, anhand einer einzelnen Äußerung oder Handlung ihres Gegenübers, radikal umschlagen, wobei das Spektrum von überschwänglicher Zuneigung über eiskalte Ablehnung bis hin zum Tobsuchtsanfall reicht.
Auch Normas Lebensplanung wirkt impulsiv und von tiefgreifender Unsicherheit bezüglich ihres Selbstbilds und ihrer Lebensziele geprägt. So geht sie immer wieder Beziehungen zu Männern ein, mit denen sie schon bald nicht mehr glücklich ist. Bei Problemen stellt sie schnell alles infrage und versucht ihr ganzes Leben radikal umzukrempeln indem sie irgendwo anders ein neues Leben beginnt.
Besonders auffallend – und für die Entwicklung ihres Sohnes Norman prägend – ist Normas panische Angst, von ihm verlassen zu werden. Sie scheint ihren Sohn weniger als eigenständige Person, sondern vielmehr als Teil ihrer selbst zu betrachten, ohne den sie sich leer und unerträglich einsam fühlen würde, was Norma unbewusst durch den Namen, den sie ihrem Sohn gegeben hat, zum Ausdruck bringt. Psychologen sprechen in einem solchen Fall von einem Selbstobjekt: Der andere wird nicht um seiner selbst willen begehrt, sondern nur zur Sicherung des eigenen Selbstwertgefühls. Beim leisesten Anzeichen für eine mögliche Verselbstständigung ihres Sohnes, reagiert Norma extrem wütend, verzweifelt oder gekränkt und setzt alles daran, Norman durch Schuldgefühle und Angst an sich zu binden.
All diese Erlebens- und Verhaltensweisen sind typisch für eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Jedoch sind die einzelnen Verhaltensweisen für die Diagnosestellung nicht hinreichend. Erst das zeitstabile und situationsübergreifende Vorliegen des charakteristischen Symptommusters und ein dadurch erheblich beeinträchtigtes persönliches und soziales Funktionsniveau rechtfertigen die Diagnose.
Kommen wir nun zu einigen der vielen Mythen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung:
Borderliner sind Grenzgänger: Das mag in manchen Fällen so sein, die Bezeichnung Borderline-Störung impliziert jedoch nicht, dass Betroffene sich auf oder entlang irgendwelcher Grenzen (welcher denn auch?) bewegen. Der Begriff entstand vor dem Hintergrund der historischen Einteilung psychischer Erkrankungen in Neurosen (leichtere psychische Störungen aufgrund seelischer Konflikte, mit erhaltener Realitätswahrnehmung) und Psychosen (schwere psychische Störungen aufgrund organischer Ursachen, mit gestörter Realitätswahrnehmung). Da die frühen Beschreibungen der Borderline-Störung keiner der beiden Kategorien eindeutig zugeordnet werden konnten, wurden sie als „auf der Grenzlinie“ zwischen Neurose und Psychose liegend angesehen. In der modernen, viel differenzierten Psychopathologie spielen die Begriffe Neurose und Psychose eine weit weniger zentrale Rolle.
Fazit: Borderline ist ein historischer Begriff ohne inhaltlichen Bezug zum heutigen Störungsverständnis.
Borderliner verletzten sich selbst: Tatsächlich sind wiederholte Drohungen oder Handlungen mit Selbstverletzung (ICD-10) ein mögliches Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung. In der klinischen Praxis lässt sich selbstverletzendes Verhalten, meist in Form von Ritzen, z.B. mit Rasierklingen, bei vielen Borderline-Patienten beobachten. Häufig dient die Selbstverletzung dem Abbau innerer Spannungszustände oder der Selbstbestrafung bei Scham- und Schuldgefühlen. Dennoch ist selbstverletzendes Verhalten kein notwendiges Kriterium, es gibt durchaus Borderline-Patienten, die sich nicht ritzen (zum Beispiel Norma Bates). Und vor allem ist selbstverletzendes Verhalten kein hinreichendes Kriterium: Ritzen oder andere selbstverletzende Verhaltensweisen können ebenso Symptome anderer psychischer Störungen (zum Beispiel Depressionen) sein oder auch bei an sich völlig gesunden Menschen als vorübergehendes Phänomen in Lebenskrisen, Erregungszuständen oder während der Pubertät auftreten.
Fazit: Borderline ist nicht gleich Ritzen und Ritzen ist nicht gleich Borderline.
Borderliner manipulieren und spalten: Wenn wir Angst haben, geliebte Personen für immer zu verlieren, ergreifen wir alle zur Verfügung stehenden Mittel, um dies zu verhindern. Ein drohendes oder befürchtetes Verlassenwerden kann bestehende Zweifel an der eigenen Liebenswürdigkeit und existenzielle Ängste vor Einsamkeit und Endlichkeit wachrufen. Wenn der innere oder äußere Krieg um geliebt oder verlassen werden tobt, kommen mitunter auch manipulative Waffen wie Schuldvorwürfe, Drohungen und emotionale Erpressung zum Einsatz. Die Spaltung in Gut und Böse, Liebe und Hass, Leben und Tod kann in solchen Ausnahmesituationen helfen, ein Mindestmaß an Orientierung und Sicherheit zu erhalten.
Fazit: Spaltung und Manipulation sind gängige psycho-soziale Bewältigungsstrategien bei existenzieller Verlassenheitsangst, allerdings geraten Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörung tendenziell schneller und häufiger in diesen Zustand (siehe Norma Bates).
Eine Borderline-Störung ist die Folge eines Kindheitstraumas: Wie fast alle psychischen Störungen lässt sich auch die Borderline-Persönlichkeitsstörung in den meisten Fällen nicht auf eine einzelne Ursache zurückführen. Dennoch zeigt die klinische Beobachtung, dass sich in den Biographien von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen überzufällig häufig Gewalt- und Missbrauchserfahrungen finden lassen (wie auch bei Norma Bates), was nahe legt, dass diese einen Einfluss auf die Krankheitsentstehung haben. Allerdings gibt es auch Borderline-Persönlichkeitsstörungen ohne nachweisbares schweres Trauma in der Vorgeschichte, ebenso wie es viele Menschen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrung gibt, die keine Borderline-Persönlichkeitsstörung entwickeln. Entscheidender als ein schweres Kindheitstrauma scheinen Bindungsstörungen zu sein, das heißt Störungen und negative Muster in der Eltern-Kind-Interaktion, wie emotionale Vernachlässigung, Entwertung oder inkonsistentes Elternverhalten zwischen Vereinnahmung und Zurückweisung. Allerdings treten schwere Traumatisierungen und Bindungsstörungen gehäuft in denselben Familiensystemen auf.
Fazit: Traumata stellen einen Risikofaktor für viele psychische Störungen dar, aber Borderline ist nicht gleich Trauma.
Die Borderline-Störung ist nicht therapierbar: Ob Persönlichkeitsstörungen generell vollständig heilbar sind, oder nicht, ist umstritten. Doch selbst wenn die zugrundeliegenden Erlebensweisen (wie im Falle der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Tendenz zu Impulsivität, emotionaler Instabilität und Angst vor dem Verlassenwerden) nicht vollständig wegtherapiert werden können, bedeutet das nicht, dass Psychotherapie nicht indiziert, sinnvoll und aussichtsreich wäre. Die Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung setzt an der Umsetzung des Erlebens in Verhalten an: Die eigenen Gefühle sollen früher und differenzierter wahrgenommen und analysiert werden können. Dadurch lässt sich das eigene Verhalten besser regulieren und zwischenmenschliche Interaktionen können befriedigender gestaltet werden. Langfristig werden dadurch positivere Beziehungserfahrungen gemacht und Selbstwertgefühl, Selbstvertrauen und das Vertrauen in andere können nachreifen. Allerdings fällt es Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen aufgrund ihrer früheren enttäuschenden Beziehungserfahrungen oft nicht leicht, zu Therapeuten Vertrauen zu fassen. Norma Bates gelingt es gar nicht.
Fazit: Es gibt gute und wissenschaftlich fundierte Psychotherapieverfahren zur erfolgreichen Behandlung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen, die allerdings von Therapeut und Patient viel Geduld und Offenheit für neue Erfahrungen erfordern.
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Desperate Housewives: Bree

Bree Van de Kamp, die im Laufe von Desperate Housewives noch weitere Nachnamen hatte, ist die klischeehafteste der an klischeehaften Vorstadthausfrauen nicht armen Wisteria Lane. Ihr Haus, ihre Familie und auch sie selbst erstrahlen stets in hellstem Glanz. Alles ist sauber und rein – zumindest an der Oberfläche.
Für diese perfekte Fassade tut Bree einiges. Ständig hat sie alle Hände voll zu tun, um alles, was weniger perfekt erscheinen könnte, unter den Teppich zu kehren. Dies gilt auch für ihr Innenleben: Aggression, Neid, Faulheit, Impulsivität, alles was unkontrolliert oder unanständig wirken könnte, hält sie tief in ihrem Inneren verborgen. Meistens macht es den Eindruck, als würde sie nicht einmal selbst diese unerwünschten Emotionen wahrnehmen. Diesen Abwehrmechanismus, bei dem eigene unerträgliche Gefühle ins Unbewusste verdrängt und dort unter Verschluss gehalten werden, nennt man Affektisolierung.
Bree hatte schon früh in ihrem Leben gute Gründe, ihre Gefühle weit von sich weg zu halten. Als Kind verlor sie ihre Mutter bei einem schrecklichen Unfall. Um das Trauma nicht passiv ertragen und all ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung spüren zu müssen, tat sie, was sie fortan immer tun würde, sie spülte das Blut ihrer toten Mutter aus der Einfahrt, stellte Reinheit und Ordnung wieder her und ging zum Tagesgeschäft über. Später wuchs sie mit einer Stiefmutter auf, die höchste Ansprüche an Ordnung, Fleiß und Tugendhaftigkeit stellte und Bree stets wissen ließ, wenn sie an diesen scheiterte. Brees Vater, ein konfliktscheuer Ja-Sager, stand ihr vermutlich nicht bei, sondern erwartete von ihr, sich um der Harmonie willen an die überzogenen Standards seiner zweiten Frau anzupassen. So musste Bree, um in ihrer pseudo-heilen Welt überleben zu können, auch weiterhin ihre Trauer (über den Tod der Mutter), ihre Wut (auf die ungerechte Stiefmutter), ihre Enttäuschung (über den feigen Vater) und ihre Selbstzweifel hinter einer Fassade von Freundlichkeit und Perfektion verbergen.
Über die Jahre wurden die Affektisolierung und der Zwang zu äußerlicher Ordnung und Reinheit zu Brees dominierender Verhaltensstrategie und prägten ihren Charakter, so dass von möglichen anderen Erlebens- und Verhaltensweisen kaum etwas übrig blieb. Als Ergebnis dieses Prozesses, leidet Bree unter einer Zwanghaften Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F60.5, auch anankastische Persönlichkeitsstörung genannt). Diese zeigt sich bei Bree durch die folgenden Kriterien:
  • Exzessive Beschäftigung mit Details, Regeln, Ordnung, Organisation und Plänen
  • Extremer Perfektionismus
  • Unverhältnismäßige Leistungsbezogenheit unter Vernachlässigung zwischenmenschlicher Beziehungen
  • Übertriebene Pedanterie und Befolgen sozialer Konventionen
  • Rigidität und Eigensinn
  • Bestehen darauf, dass andere sich exakt den eigenen Gewohnheiten unterordnen
  • Abneigung dagegen, andere etwas machen zu lassen
Brees Störung wird vermutlich auch dadurch aufrecht erhalten, dass zwanghafte Züge, in gewissem Ausmaß, durchaus gesellschaftlich anerkannt und geschätzt werden. Zumal in der Wisteria Lane, wo der schöne Schein alles bedeutet. So erhält Bree von den Nachbarn viel Wertschätzung für ihr sorgsam gepflegtes Anwesen, ihr makelloses Äußeres und ihre akkuraten Kochkünste, während ihre Familie hinter verschlossenen Türen unter ihrem Zwang zur Perfektion und ihrer gefühlskalten Unnahbarkeit leidet. 
Wenn dennoch zu viel in ihrem Leben zusammenkommt und die unerwünschten Gefühle immer stärker ins Bewusstsein drängen, greift Bree zum Alkohol, der zuverlässig dabei hilft, diese zu betäuben wieder in die Tiefen des Unbewussten zurückzudrängen.
Bree hat in zweifacher Hinsicht einen hohen Krankheitsgewinn: Erstens erspart ihr die konsequente Affektisolierung, die als Teil ihrer Persönlichkeitsstörung unbewusst, quasi automatisiert, abläuft, das Empfinden unangenehmer Gefühle, wie Trauer, Wut, Angst und Selbstzweifeln. Man spricht hier von primärem Krankheitsgewinn. Zweitens hat Bree, durch die gesellschaftliche Anerkennung für ihre Zwanghaftigkeit, einen über die Umwelt vermittelten, sogenannten sekundären Krankheitsgewinn.
Aufgrund dieses hohen Krankheitsgewinns sind zwanghafte Persönlichkeitsstörungen psychotherapeutisch oft schwierig zu behandeln, wie man in Brees Sitzungen mit dem Eheberater Dr. Goldfine anschaulich miterleben kann. Der subjektiv empfundene Leidensdruck liegt häufig eher beim sozialen und familiären Umfeld, welches unter der Zwanghaftigkeit und emotionalen Kälte leidet. Bree selbst ist hingegen mit ihrer Rationalität und Affektisolierung identifiziert und sieht die Notwendigkeit zur Veränderungen eher bei anderen, die in ihren Augen fehlerhaft oder gefühlsduselig sind.
Außerdem ist der psychotherapeutische Ansatz, sich den eigenen Emotionen ohne Bewertung anzunähern, für Menschen mit zwanghafter Persönlichkeitsstörung häufig wenig nachvollziehbar, da sie ihre Gefühle so konsequent abgespalten haben, dass sie tatsächlich nicht wahrnehmen, dass da noch mehr sein könnte. So wählen zwanghafte Menschen häufig nicht die therapeutische Auseinandersetzung mit den Grundlagen ihres zwanghaften Erlebens und Verhaltens, sondern suchen sich ein soziales Umfeld, das zwanghafte Eigenschaften belohnt und wenig Wert auf emotionale Einlassung legt. Das oberflächlich heile Vorstadtidyll der Wisteria Lane scheint dafür nicht schlecht geeignet zu sein.
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Last Samurai: Wie man wird, was man ist

Bevor Nathan Algren der letzte Samurai wurde, war er Captain in der US-amerikanischen Armee und Teilnehmer an den Indianerkriegen, in welchen er an grausamen Kriegsverbrechen beteiligt war.

Wie viele Kriegsheimkehrer (z.B. auch John Rambo) leidet er seitdem unter einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die durch die folgenden Kriterien definiert wird (ICD-10: F43.1):
  • Erlebnis von außergewöhnlicher Bedrohung, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis oder wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, Tendenz zur Vermeidung solcher Situationen
  • Teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an das belastende Erlebnis zu erinnern und/oder anhaltende Symptome erhöhter psychischer Sensitivität und Erregung
Der Krieg an sich stellt bereits eine außergewöhnliche Bedrohung und Belastung dar, hinzu kommen Nathans Schuldgefühle angesichts der Grausamkeiten, an denen er beteiligt war. In sich aufdrängenden Erinnerungen, sogenannten Flashbacks, durchlebt er die Ereignisse und Gefühle immer wieder neu.
Erschwerend kommt hinzu, dass Nathans Vergangenheit auch nach seiner Rückkehr aus dem Feld ständig präsent ist, gibt er doch allabendlich den stolzen Kriegsveteranen auf Verkaufsveranstaltungen eines Waffenherstellers, bzw. später den hochdekorierten Militärberater. Somit spielt er die Rolle, welche ihm so viel Leid und Schuldgefühle eingebracht hat, immer wieder aufs Neue.
Erinnerung, Flashbacks, Schuldgefühle und nicht zuletzt ein Dasein in einer innerlich zutiefst verachteten Identität erträgt Nathan nur im Rausch, welchen er sich durch Whisky zu verschaffen pflegt. Zum Zeitpunkt der Filmhandlung ist er bereits süchtig, das heißt, er leidet unter einem Alkoholabhängigkeitssyndrom. Für diese Diagnose müssen nach ICD-10 (F10.2) mindestens drei der folgenden Merkmale vorliegen, und zwar seit mindestens einem Monat:
  • Starkes Verlangen oder Zwang, die Substanz zu konsumieren
  • Verminderte Kontrolle über den Konsum oder erfolglose Versuche, den Substanzkonsum zu verringern oder zu kontrollieren
  • Körperliches Entzugssyndrom
  • Toleranzentwicklung: Bei fortgesetztem Konsum derselben Menge treten deutlich geringere Effekte auf
  • Aufgabe oder Vernachlässigung anderer Interessen. Hoher Zeitaufwand für die Beschaffung und den Konsum der Substanz
  • Anhaltender Substanzkonsum trotz schädlicher Folgen
So wie Nathan seine Uniform immer weiter tragen muss, obwohl er eigentlich schon längst kein Soldat mehr ist, verkörpert er äußerlich eine technokratische, imperialistische und megalomanische Ideologie, die längst nicht mehr die seine ist. Seine Uniform, sein ganzes Sein, ist eine leere Hülle. 
Diese äußere Hülle der Persönlichkeit nannte der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung Persona. Nach Jungs Auffassung entsteht eine umso stärkere innere Konfliktspannung, je weniger die Persona der inneren Persönlichkeit entspricht.
Diese innere Persönlichkeit, sozusagen sein wahres Ich, kann Nathan erst bei den Samurai entdecken, die ihm ein alternatives Wertesystem und andere Geisteshaltungen aufzeigen, als diejenigen mit denen er aufgewachsen ist und die sein ganzes bisheriges Leben bestimmt haben. Nachdem er unter schweren Entzugserscheinungen seine Alkoholsucht überwunden hat, begibt sich Nathan auf eine innere Reise zu sich selbst und beginnt sein wahres Ich zu entdecken. 
Diesen Weg zu sich selbst, der niemals wirklich abgeschlossen ist, nannte C. G. Jung Individuation oder Selbstwerdung und sah in dieser einen zentralen Aspekt psychotherapeutischer Behandlung. Wer ihn geht, muss, wie Nathan Algren, tief in die Abgründe der eigenen Seele blicken und vieles aufgeben, was vertraut war und alternativlos schien. Er wird jedoch, wie der letzte Samurai, eine ungeahnte Freiheit im Denken, Fühlen und Handeln erlangen und immer mehr zu dem werden, der er wirklich ist. 
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Rambo I-IV: John Rambo

John J. Rambo ist ein hochdekorierter Veteran des Vietnamkriegs, jenem Krieg, in dessen Folge durch die psychologische Erforschung der Traumafolgeerkrankungen der heute gültige Begriff Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS, englisch: Posttraumatic Stress Disorder PTSD) eingeführt wurde.

Wie viele seiner Kameraden (und Generationen von Soldaten davor und danach) leidet auch Rambo nach seiner Heimkehr unter dieser Störung, die nach ICD-10 (F43.1) durch die folgenden Kriterien definiert wird:

  • Der Betroffene war (kurz oder lang anhaltend) einem belastendem Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde
  • Es müssen anhaltende Erinnerungen an das traumatische Erlebnis, oder das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (z. B. Flashbacks), oder eine innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen, vorhanden sein
  • Der Betroffene vermeidet (tatsächlich oder möglichst) Umstände, die der Belastung ähneln
  • Sowie entweder: Eine teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an einige wichtige Aspekte des belastenden Erlebnisses zu erinnern, und/oder:
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung, z. B. erhöhte Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, Reizbarkeit und Wutausbrüche

Belastende Ereignisse von außergewöhnlicher Bedrohlichkeit dürfte Rambo während seines Einsatzes zur Genüge erlebt haben, zumal er neben der aktiven Teilnahme an Kampfhandlungen auch Gefangenschaft und Folter ertragen musste.
Die aufdrängenden Erinnerungen an das Trauma, sowie massive innere Bedrängnis, werden bei Rambo durch die erneute Gefangenschaft, diesmal im kleinstädtischen Polizeirevier, hervorgerufen. Insbesondere erlebt er Flashbacks, d. h. blitzartig einschießende Erinnerungen an traumatische Situationen, inklusive der dazugehörigen Bilder und Emotionen.
Folglich empfindet Rambo den typischen, übermächtigen Drang, die retraumatisierende Situation zu verlassen, was er genreentsprechend impulsiv umsetzt, indem er sich seinen Weg aus der Arrestzelle freikämpft, womit auch die Frage nach Reizbarkeit und Wutausbrüchen bereits beantwortet wäre.
Ob Rambo sich an Teile des erlebten nicht mehr erinnern kann, wissen wir nicht. Zumindest scheint er die dazugehörigen Emotionen zunächst gut verdrängt zu haben, bis sie durch die erneute Gewalterfahrung wieder aktiviert werden.
Deutlich können wir jedenfalls Hypervigilanz (d. h. gesteigerte Wachsamkeit) und erhöhte Schreckhaftigkeit beobachten, wenn Rambo, einem Wildtier gleich, in sekundenschnelle das Bedrohungspotential einer Situation erfasst und instinktiv blitzschnell mit Kampf- oder Fluchtbewegungen reagiert.

Rambo ist also schwer traumatisiert. Umso mehr muss man sich fragen, warum er sich immer wieder selbst in Situationen bringt, die ihn mit Gewalt, Krieg und Tod konfrontieren und damit sein Trauma reaktualisieren, was auch als Wiederholungszwang bezeichnet wird.

Schon zu Beginn des ersten Films scheint er nicht in sein altes Leben (auf der Ranch seines Vaters) zurückkehren zu wollen. Stattdessen sucht er auch in der Heimat den Kontakt zu den Kriegskameraden (die aber alle bereits tot sind).
Bereits auf die erste (noch recht harmlose) Feindseligkeit des Sheriffs reagiert er passiv-aggressiv indem er sich ihm provokativ widersetzt. In den drei Fortsetzungen lässt er sich zwar jeweils nicht sofort zum kämpfen überreden, findet dann aber doch immer recht schnell Gründe, um wieder in den Krieg zu ziehen.

Um Rambos Verhalten zu verstehen, müssen zunächst die psychischen Mechanismen der Traumabewältigung erörtert werden:
Rambo erlebt in der Kriegsgefangenschaft Dinge, die psychisch kaum zu verarbeiten sind. Wahrscheinlich werden die schier unaushaltbaren Gefühle von Todesangst, Schmerz, Verzweiflung und auch Hass schon während der Traumatisierung abgespalten. Das bedeutet, sie werden so erlebt, als gehörten sie gar nicht zu dem jungen John J. Rambo aus Bowie, Arizona, der sie auch kaum überleben könnte. Im unbewussten Teil der Psyche entsteht eine abgespaltene zweite Entität, die auf sich nimmt, was das Ich nicht tragen kann. Diesen Vorgang nennt man Dissoziation.
Colonel Trautman bringt es, leider recht unkritisch, auf den Punkt: Rambo sei „ein Mann, der darauf trainiert ist, keine Schmerzen zu fühlen, der sie verdrängt… In Vietnam konnten Rambo und ich uns Emotionen nicht leisten.“
Dabei scheint er Schuldgefühle angesichts seiner eigenen Verantwortung für Rambos wiederholte Traumatisierung narzisstisch abzuwehren: „Gott hat Rambo nicht geschaffen, ich habe ihn geschaffen.“
Doch zurück zu Rambo: Die dissoziierten Anteile sind, wie gesagt, zunächst einmal unbewusst. Dadurch kann das Ich im Allgemeinen weiter funktionieren, ohne permanent durch das Trauma und die dazugehörigen Affekte gestört zu werden. Das funktioniert aber nur solange, wie die unbewussten Inhalte nicht durch Auslösereize (bei Rambo zum Beispiel Rasiermesser, Gitterstäbe, Schusswaffen) ins Bewusstsein gerufen (getriggert) werden, was sich dann beispielsweise in Form von Flashbacks zeigt. Dann nämlich fühlt sich Rambo unmittelbar in die traumatische Situation zurückversetzt und mit den existenziellen Ängsten konfrontiert.

Damit das Ich vor diesen überwältigenden Affekten nicht kapitulieren muss, kommt nun ein weiterer Abwehrmechanismus zum Tragen, der bei Rambo besonders stark ausgeprägt ist: Die Identifikation mit dem Aggressor.
Statt sich Krieg und Folter hilflos ausgeliefert zu fühlen, wie es real der Fall gewesen ist, identifiziert sich Rambo mit den Kriegern und Folterern, ja mit dem Krieg selbst. Im vierten Teil der Reihe kann er dies bereits benennen: „Du hast erkannt, wer du bist, woraus du gemacht bist. Krieg hast du im Blut. Wenn man dich dazu zwingt, ist Töten so einfach wie Atmen“ (Wobei letzteres, im Falle starker Angst, so leicht gar nicht ist). Die Macht seiner Gegner macht sich Rambo identifikatorisch zu eigen, seine Todesangst projiziert er auf die Feinde zurück. Da er in der Tat ein überaus begabter Kämpfer ist, gelingt es ihm auch immer wieder, die innerpsychischen Abwehrmechanismen handelnd in der Realität umzusetzen. Somit wird das Selbstbild der Kriegsmaschine durch die Zuschreibungen der Anderen, die ihn real fürchten müssen, oder ihn, wie Trautman, nur um seiner Kampfkraft willen respektieren, verfestigt.

Folglich ist der Krieg Rambos Weg, nicht an seinen eigenen Ängsten zugrunde zu gehen. Und es sind sehr menschliche Ängste, z. B. vor Ausgrenzung und Einsamkeit (Teil 1), vor dem Verlust von Freiheit (Teil 2), vor dem Tod eines engen Freundes (Teil 3) oder einer heimlich geliebten Frau (Teil 4), die ihn immer wieder zur Kriegsmaschine werden lassen.

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Dark Knight Trilogy: Batman

Batman ist die, in einen High-Tech-Fledermaus-Kampfanzug gewandete, Tarnidentität des Milliardärs Bruce Wayne, mithilfe derer er nachts Verbrecher in den Straßen seiner Heimatstadt Gotham City jagt. Batmans Geschichte wird, nicht zum ersten Mal, im Rahmen der Filmtrilogie “Batman Begins”, “The Dark Knight” und “The Dark Knight Rises”, wie folgt erzählt:
Bruce Wayne wächst zunächst unter vermeintlich idealen Bedingungen auf. Besonders sein Vater scheint geradezu traumhaft gut zu sein: Selfmade-Milliardär, sozialer Wohltäter, liebender Ehemann und Vater. Umso mehr können wir annehmen, dass sich der kleine Bruce, angesichts dieses schier unerreichbaren Rollenvorbilds, schon früh mit Insuffizienz- und Minderwertigkeitsgefühlen herumzuschlagen hat. Allerdings müssen diese, um die dringend benötigte Fürsorge des Vaters nicht zu gefährden, ins Unbewusste verdrängt werden.

Erstmals erschüttert wird die heile Welt des Bruce Wayne durch den Sturz in einen dunklen Brunnenschacht, in welchem es von Fledermäusen wimmelt. In der Folge dieser als lebensbedrohlich erlebten Situation (aus welcher ihn schließlich sein Vater befreit!), entwickelt er eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1) mit den folgenden Symptomen:

  • Wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Albträume)
  • Innere Bedrängnis in Situationen, die der Belastung ähneln oder damit in Zusammenhang stehen
  • Vermeidung von Umständen, die der Belastung ähneln
  • Anhaltende Symptome einer erhöhten psychischen Sensitivität und Erregung (Ein- und Durchschlafstörungen, erhöhte Schreckhaftigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten)

Die Angst in traumaassoziierten Situationen und der Drang diese zu vermeiden, führen dazu, dass Familie Wayne eine Oper, in deren Verlauf Fledermäuse umherflattern, vorzeitig durch einen Seiteneingang verlassen muss und das Elternpaar von einem Straßenräuber ermordet wird. Bruce entwickelt daraufhin starke Schuldgefühle. Dass er sich insgeheim manchmal vom übergroßen Schatten des Vaters frei gewünscht hätte, dürfte diese zusätzlich verstärkt haben. 

Seine ohnmächtigen Schuldgefühle projiziert er auf den Täter und schmiedet irgendwann im Lauf der nächsten Jahre einen Racheplan, welchen er bei dessen Haftentlassung umzusetzen versucht. Bis dahin scheint ihn die Rachephantasie für ein äußerlich unauffälliges und leidlich erfolgreiches Leben als Student einer Eliteuni ausreichend stabilisiert zu haben. Als der unausgegorene Racheplan an der Realität scheitert, wirft die narzisstische Kränkung den jungen Mann in eine schwere Depression (ICD-10: F32.2), die sich in typisch männlicher Weise manifestiert:

  • Sozialer Rückzug
  • Zynismus
  • Gereiztheit
  • Parasuizidales Risikoverhalten

Trotz der, zum Markenzeichen stilisierten, Einzelgängerrolle bleibt Bruce insgeheim weiterhin von der Sehnsucht nach der verlorenen väterlichen Anerkennung und mütterlichen Geborgenheit getrieben, welche er beide auf seine Jugendliebe Rachel verschiebt, wobei er das gemeinsame Glück aber vermeidend in eine phantasierte Zukunft projiziert, wahrscheinlich aus Angst, Rachel durch seine untergründig empfundene Unvollkommenheit zu enttäuschen und/oder zu gefährden und dadurch (wie die Eltern) wieder zu verlieren.
Als Rachel (und mit ihr die Erlösungsphantasie) im zweiten Film “The Dark Knight” tatsächlich stirbt, wiederholen sich die Schulddepression und schließlich, zu Beginn des dritten Films “The Dark Knight Rises”, der bekannte Ausweg aus dieser durch die Flucht in die Rolle des maskierten Helden. Wieder wird die empfundene Schuld auf die Bösen projiziert und das Minderwertigkeitsgefühl durch die narzisstische Selbstglorifizierung als edler Rächer abgewehrt.

Bruce Wayne ist also gefangen in einem sich ständig neu inszenierenden Dilemma, einem chronisch misslingenden Beziehungsmuster: Zwar hat er den starken Wunsch von seinen Mitmenschen geliebt und angenommen zu werden. Jedoch ist er in seinem tiefsten Inneren davon überzeugt, den Erwartungen nicht genügen zu können (vermutlich aufgrund des idealisierten und unerreichbaren väterlichen Vorbilds). In dem subjektiven Zwang, sich perfekt und damit liebenswert zu präsentieren, spaltet er alle mit dem väterlichen Idealbild nicht vereinbaren Selbstaspekte (Angst, Rachsucht, Aggressivität, Bindungsängste, Depression…) mithilfe des heimlichen Alter-Egos Batman ab. Tragischerweise wird der nach außen wahrgenommene Bruce Wayne dadurch eindimensional und leer, vermag Andere nicht wirklich an sich zu binden (mit Ausnahme von Rachel in einer Mischung aus Nostalgie und Mitleid).

Der traurige, einsame Bruce Wayne kann einem wahrlich leid tun und man ist regelrecht dankbar, dass Hollywood ihm nach drei langen Filmen voller Leiden und zermürbenden Selbstzweifeln doch noch ein Happy End schenkt.
Gönnen wir also diesem leidgeprüften Batman sein wohlverdientes Glück und trinken mit Alfred einen Fernet Branca auf sein Wohl!

Mehr zur Dark Knight Trilogie gibt es auch im Charakterneurosen-Podcast Folge 20 zu hören!

 

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